„Unsere Idee von Gemeinsinn“
PAUL SCHREYER, 24. Oktober 2023, 24 Kommentare, PDFWagenknecht und ihre Mitstreiter sind am Montag, parallel zu der in den Medien breit berichteten Pressekonferenz, auf der sie eine Parteigründung für Anfang 2024 ankündigten, mit einer Webseite an die Öffentlichkeit gegangen, auf der ein „Gründungsmanifest“ mit politischen Leitlinien des neuen Bündnisses publiziert wurde. Darin heißt es:
„Unser Land ist in keiner guten Verfassung. Seit Jahren wird an den Wünschen der Mehrheit vorbei regiert. Statt Leistung zu belohnen, wurde von den Fleißigen zu den oberen Zehntausend umverteilt. (…) Eine Gesellschaft, deren mächtigste Akteure nur noch von der Motivation getrieben sind, aus Geld mehr Geld zu machen, führt zu wachsender Ungleichheit, zur Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen und zu Krieg. Wir setzen dem unsere Ideen von Gemeinsinn, Verantwortung und Miteinander entgegen, denen wir durch Veränderung der Machtverhältnisse wieder eine Chance geben möchten. Unser Ziel ist eine Gesellschaft, in der das Gemeinwohl höher steht als egoistische Interessen und in der nicht Trickser und Spieler gewinnen, sondern diejenigen, die sich anstrengen und gute, ehrliche und solide Arbeit leisten. (…)
[Wir wollen] Marktmacht begrenzen und marktbeherrschende Konzerne entflechten. Wo Monopole unvermeidlich sind, müssen die Aufgaben gemeinnützigen Anbietern übertragen werden. (…) Die Privatisierung und Kommerzialisierung existentieller Dienstleistungen, etwa im Bereich Gesundheit, Pflege oder Wohnen, muss gestoppt werden, gemeinnützige Anbieter sollten in diesen Branchen Vorrang haben. (…)
Notwendig ist ein gerechtes Steuersystem, das Geringverdiener entlastet und verhindert, dass große Konzerne und sehr reiche Privatpersonen sich ihrem angemessenen Anteil an der Finanzierung des Gemeinwesens entziehen können. (…)
Cancel Culture, Konformitätsdruck und die zunehmende Verengung des Meinungsspektrums sind unvereinbar mit den Grundsätzen einer freien Gesellschaft. Das Gleiche gilt für den neuen politischen Autoritarismus, der sich anmaßt, Menschen zu erziehen und ihren Lebensstil oder ihre Sprache zu reglementieren. (…)
Die Lösung von Konflikten mit militärischen Mitteln lehnen wir grundsätzlich ab. (…) Den Einsatz deutscher Soldaten in internationalen Kriegen lehnen wir ebenso ab wie ihre Stationierung an der russischen Grenze oder im Südchinesischen Meer. (…) Europa benötigt eine stabile Sicherheitsarchitektur, die längerfristig auch Russland einschließen sollte.“
Diese Grundsätze, die Wagenknecht in ihren öffentlichen Auftritten seit langem betont, finden offenbar in einem maßgeblichen Teil der Bevölkerung Widerhall, wie eine am Montagabend von der Bild-Zeitung veröffentlichte Umfrage zeigt. Demnach würden 12 Prozent der Befragten ihr Bündnis wählen (nur noch vier Prozent hingegen die Linke). Die Unterstützer kommen von allen anderen Parteien, am stärksten jedoch von der AfD, die in der Umfrage 5 Prozent verliert.
Das überrascht nicht, profitierte die AfD doch bislang von dem Bonus, praktisch die einzige Oppositionspartei zu sein und damit auch Menschen hinter sich zu versammeln, die, abgesehen vom Protest gegen die Regierung, inhaltlich wenig mit ihr verbindet. Für diese, wie die Umfrage zeigt, offenbar große Gruppe entsteht nun erstmals eine wählbare Alternative. Dies wird absehbar dazu führen, dass die AfD ihre Unterschiede zum Wagenknecht-Bündnis klar herausarbeiten muss. Die Differenzen, insbesondere beim Blick auf die Besteuerung großer Vermögen, gesellschaftliche Solidarität allgemein, aber auch die Rolle des Militärs, dürften deutlicher sichtbar werden. Die politische Debatte im Land wird das erheblich beleben.
Anders als die AfD – die inzwischen zwar eine Volkspartei mit breiter Basis geworden ist, aber als Interessenvertretung finanzstarker Kreise entstand und wahlentscheidende Großspender teils auch geheim hielt – steht das Wagenknecht-Bündnis in der Tradition der von unten gewachsenen Sozialdemokratie. Diese hat mit der heutigen SPD kaum noch etwas zu tun. Ihre Wurzeln finden sich in der Arbeiterbewegung, also dem Versuch, die Unterprivilegierten politisch zu organisieren.
Hauptinitiator dazu war in Deutschland Ferdinand Lassalle, der vor allem für das allgemeine und gleiche Wahlrecht kämpfte. Damals war in vielen Ländern, so auch in Deutschland, ein „Zensus-“ oder „Klassenwahlrecht“ normal, bei dem das eigene Vermögen darüber entschied, ob man wählen durfte und wieviel Gewicht die Stimme hatte. 1862, ein Jahr vor Gründung des SPD-Vorläufers „Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein“, erklärte Lassalle bei einem programmatischen Vortrag mit dem Titel „Das Arbeiter-Programm“:
„Seit lange geht (…) die Entwicklung der Völker, der Atemzug der Geschichte auf eine immer steigende Abschaffung der Privilegien, welche den höheren Ständen diese ihre Stellung als höhere und herrschende Stände garantieren. Der Wunsch nach Forterhaltung derselben oder das persönliche Interesse bringt daher jedes Mitglied der höheren Stände, das sich nicht ein für allemal durch einen großen Blick über sein ganzes persönliches Dasein erhoben und hinweggesetzt hat – und Sie werden begreifen, meine Herren, daß dies nur immer sehr wenig zahlreiche Ausnahmen sein können – von vornherein in eine prinzipiell feindliche Stellung zu der Entwicklung des Volkes, zu dem Umsichgreifen der Bildung und Wissenschaft, zu den Fortschritten der Kultur, zu allen Atemzügen und Siegen des geschichtlichen Lebens.
Dieser Gegensatz des persönlichen Interesses der höheren Stände und der Kulturentwicklung der Nation ist es, welcher die hohe und notwendige Unsittlichkeit der höheren Stände hervorruft. Es ist ein Leben, dessen tägliche Bedingungen Sie sich nur zu vergegenwärtigen brauchen, um den tiefen inneren Verfall zu fühlen, zu dem es führen muß. Sich täglich widersetzen müssen allem Großen und Guten, sich betrüben müssen über sein Gelingen, über sein Mißlingen sich freuen, seine weiteren Fortschritte aufhalten, seine bereits geschehenen rückgängig machen oder verwünschen zu müssen. Es ist ein fortgesetztes Leben wie in Feindes Land — und dieser Feind ist die sittliche Gemeinschaft des eigenen Volkes, in der man lebt, und für welche zu streben alle wahre Sittlichkeit ausmacht. Es ist ein fortgesetztes Leben, sage ich, wie in Feindesland, dieser Feind ist das eigene Volk, und daß es als der Feind angesehen und behandelt wird, muß noch wenigstens auf die Dauer listig verheimlicht und diese Feindschaft mit mehr oder weniger künstlichen Vorhängen bekleidet werden.
Dazu die Notwendigkeit, dies alles entweder gegen die eigene Stimme des Gewissens und der Intelligenz zu tun, oder aber diese Stimme schon gewohnheitsmäßig in sich ausgerottet zu haben, um nicht von ihr belästigt zu werden, oder endlich diese Stimme nie gekannt, nie etwas Besseres und anderes gekannt zu haben als die Religion des eigenen Vorteils! Dieses Leben, meine Herren, führt also notwendig zu einer gänzlichen Geringschätzung und Verachtung alles ideellen Strebens, zu einem mitleidigen Lächeln, so oft der große Name der Idee nur ausgesprochen wird, zu einer tiefen Unempfänglichkeit und Widerwilligkeit gegen alles Schöne und Große, zu einem vollständigen Untergang aller sittlichen Elemente in uns in die eine Leidenschaft des selbstsüchtigen Vorurteils und der Genußsucht.
Dieser Gegensatz, meine Herren, des persönlichen Interesses und der Kulturentwicklung der Nation ist es, der bei den unteren Klassen der Gesellschaft zu ihrem Glücke fehlt. Zwar ist auch in den unteren Klassen leider immer noch Selbstsucht genug vorhanden, viel mehr als vorhanden sein sollte. Aber hier ist diese Selbstsucht, wo sie vorhanden ist, der Fehler der Individuen, der einzelnen, und nicht der notwendige Fehler der Klasse. Schon ein sehr mäßiger Instinkt sagt den Gliedern der unteren Klassen, daß, sofern sich jeder von ihnen bloß auf sich bezieht und jeder bloß an sich denkt, er keine erhebliche Verbesserung seiner Lage für sich hoffen kann.
Insofern aber und insoweit die unteren Klassen der Gesellschaft die Verbesserung ihrer Lage als Klasse, die Verbesserung ihres Klassenloses erstreben, insofern und insoweit fällt dieses persönliche Interesse, statt sich der geschichtlichen Bewegung entgegenzustellen und dadurch zu jener Unsittlichkeit verdammt zu werden, seiner Richtung nach vielmehr durchaus zusammen mit der Entwicklung des gesamten Volkes, mit dem Siege der Idee, mit den Fortschritten der Kultur, mit dem Lebensprinzip der Geschichte selbst, welche nichts anderes als die Entwicklung der Freiheit ist. Oder, wie wir schon oben sahen, Ihre Sache ist die Sache der gesamten Menschheit. Sie sind somit in der glücklichen Lage, meine Herren, daß Sie, statt abgestorben sein zu können für die Idee, vielmehr durch Ihr persönliches Interesse selbst zur höchsten Empfänglichkeit für dieselbe bestimmt sind. Sie sind in der glücklichen Lage, daß dasjenige, was Ihr wahres persönliches Interesse bildet, zusammenfällt mit dem zuckenden Pulsschlag der Geschichte, mit dem treibenden Lebensprinzip der sittlichen Entwicklung.“
Es war also der Urvater der deutschen Sozialdemokratie selbst, der den Unterschied zwischen Volk und Elite nicht nur klar benannte, sondern ins Zentrum seiner Überlegungen rückte. Die Elite – in den Worten Lassalles „die höheren Stände“ – lebt „wie in Feindes Land – und dieser Feind ist die sittliche Gemeinschaft des eigenen Volkes, in der man lebt, und für welche zu streben alle wahre Sittlichkeit ausmacht“. Dieses „wie in Feindes Land“ erinnert stark an die heutigen Debatten etablierter Parteien und Medien, bei denen einer kritischen Bevölkerung vor allem mit Angst und Ablehnung, mit Zensur, Verboten und Ausgrenzung begegnet wird.
Und so sind auch die Reaktionen in Politik und Medien auf Wagenknechts angekündigte neue sozialdemokratische Partei vor allem von Misstrauen, Diffamierung und Widerwillen geprägt. Wer sich die vollbesetzte einstündige Pressekonferenz am Montagmorgen, die live auf Phoenix übertragen wurde, anschaute, für den war dieses Misstrauen und dieser Widerwillen der etablierten Medienvertreter mit Händen greifbar. In nahezu jeder Frage, jeder Wortmeldung schwang die Vorstellung mit, Wagenknecht sei im Grunde eine unredliche Person.
Der Erfolg oder Misserfolg des neuen Bündnisses wird in den kommenden Monaten ausgefochten werden. Die Gegner sind zahlreich, gut munitioniert und bestens vernetzt. Neben der AfD sind hier auch die USA zu nennen, deren Interessen Wagenknechts Pläne für eine größere deutsche Souveränität und eine Wiederannäherung an Russland scharf zuwider laufen.
Angesichts der zahlreichen Widerstände und zu bewältigenden Vorhaben baten die Initiatoren bei der Pressekonferenz am Montag mehrfach um Spenden. Auch auf der Webseite des Bündnisses ist der Spendenaufruf sehr präsent. Ob Wagenknecht und ihre Mitstreiter nun wieder eine sozialdemokratische Partei in Deutschland etablieren können, die viele lange vermissen und für die Oskar Lafontaine 2005 mit der Initiative zum Zusammenschluss der Linkspartei schon einmal einen Impuls gab, wird die Zukunft zeigen. Schon der Versuch dazu kann aber wohl als großer Schritt in der deutschen Parteiengeschichte gelten.
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