Unipolar, bipolar, multipolar – über alte und neue Weltordnungen
ULRICH TEUSCH, 7. August 2023, 7 Kommentare, PDFVielfach wird mit Multipolarität eine plurale, tolerante Welt assoziiert („leben und leben lassen“), eine Welt der Selbstbestimmung, der Gewaltenteilung, der „checks and balances“. Man verspricht sich eine Art Demokratisierung der internationalen Beziehungen, Prozesse der Teilhabe, der Mitbestimmung, des Ausgleichs. Man hofft auf mehr globale Gerechtigkeit und größere Entwicklungschancen. Wer von Multipolarität spricht, denkt oft an den Abbau von Hierarchien und Abhängigkeiten, sieht eher horizontale als vertikale Strukturen. Kurzum: Multipolarität gilt vielen als fortschrittlich. Wir treten ein in eine bessere und, vor allem, eine friedlichere Welt – eine, in der das Völkerrecht und andere Rechtsnormen umfassende Gültigkeit gewinnen.
Selbstverständlich wollen auch die Apologeten der multipolaren Zukunft die Erwartungen an das Neue nicht zu hoch schrauben. Aber in Anbetracht des Unheils, das in den vergangenen drei Jahrzehnten im Zeichen der Unipolarität, also unter amerikanisch-westlicher Vorherrschaft, angerichtet wurde, kann es eigentlich nur besser werden – so der Tenor.
Derlei Zuversicht ist insofern erstaunlich, als die Menschheit – insbesondere ihr europäisches Segment – über beträchtliche Erfahrungen mit multipolaren Verhältnissen verfügt. Und es lässt sich kaum behaupten, dass die diesbezüglichen Erlebnisse durchweg erfreulich gewesen wären; immerhin stehen zwei verheerende Weltkriege in der Bilanz. Was Europa angeht, so gilt seit Beginn der Herausbildung des hiesigen Staatensystems im 17. Jahrhundert: Multipolarität ist Normalität. Ausnahmen von dieser Regel sind neueren Datums: Im ersten Kalten Krieg zwischen 1946/47 und 1989/91 herrschte Bipolarität, danach bildete sich für einige Jahre eine unipolare Ordnung heraus. Wir haben also in weniger als einem Jahrhundert drei verschiedene geopolitische Konstellationen kennengelernt.
Die Fragen lauten: Wie schneiden sie ab im Vergleich? Welche Chancen und Risiken bergen sie? Wo liegen ihre jeweiligen Probleme?
Stärke des Rechts – Recht des Stärkeren
Zunächst gilt es festzuhalten, dass längst nicht alle Beobachter die multipolare Hoffnung teilen. Vor allem jene, die der alten, vom Westen dominierten „regelbasierten Ordnung“ anhängen und sie verklären, reagieren unwillig. Schon 2014 schrieb ein gereizter Ulrich Speck in der Neuen Zürcher Zeitung, dass die multipolare Realität nicht halte, was die Theorie verspreche:
„Den Kritikern amerikanischer Weltmacht ist die Idee einer multipolaren Welt seit je sympathisch: Neben den Pol Amerika, so die Idee, treten die Pole China und Russland, eventuell eines Tages auch die Europäische Union. (…) Doch die multipolare Realität, wie sie sich in den letzten Jahren entfaltet, sieht anders aus. Mit Sicherung des internationalen Rechts haben China und Russland nichts im Sinn. Im Gegenteil, sie schwächen das ohnehin schon schwache Gewebe internationaler Normen. Es geht ihnen darum, ihre eigene Übermacht in ihrer Nachbarschaft ungehindert ausspielen zu können. Beide agieren revisionistisch und damit destabilisierend: China strebt Kontrolle über die angrenzenden Meere an, Russland über den postsowjetischen Raum. (…) Peking und Moskau nutzen die Schwäche des Westens, um eigene Machtansprüche anzumelden. Was sie anstreben, ist eine andere internationale Ordnung: (…) Recht des Stärkeren statt Stärke des Rechts. In ihrem Entwurf ist die Welt aufgeteilt in konkurrierende Machtblöcke, geführt von regionalen Vormächten. Nicht zufällig erinnert das an die Ordnung des Kalten Krieges.“
Viel hat sich seither beim führenden Schweizer Blatt und seinen Gesinnungsfreunden nicht getan. Im Juni 2023 brachte es einen Gastbeitrag der Ex-Diplomaten Michael Koch und Volker Stanzel, in dem es hieß:
„Als Folge des Krieges (in der Ukraine, U.T.) droht das Gespenst einer multipolaren Weltordnung: Eine solche Welt würde volle Souveränität nur wenigen mächtigen ′Polen‵ zugestehen, die nur mit ihresgleichen Interessen abgleichen, womit der zentrale Grundsatz der Gleichheit aller Staaten aufgegeben wäre. Die noch zentralere Regel des Völkerrechts, das Gewaltverbot, gälte nicht mehr. Die Starken würden kleineren Ländern die Regeln diktieren. So drohen Entwicklungen, die auch den Westen zurück in die Welt der Machtpolitik führen würden, wo Macht Recht bestimmt und nicht mehr das Recht die Macht einhegt.“
Multipolares 1984
So sehr sie auf den ersten Blick irritieren mögen – ganz aus der Luft gegriffen sind die in den beiden Zitaten formulierten Vorbehalte nicht. Denn prinzipiell stimmt es: nicht jede multipolare Ordnung ist per se „positiv“ zu bewerten. Denken wir zunächst an ein berühmtes fiktives Beispiel, George Orwells 1984. In seinem zu Beginn des ersten Kalten Kriegs entstandenen Roman beschreibt der Autor eine multipolare (nämlich dreipolige oder tripolare) Welt des permanenten Konflikts. Die Großstaaten Ozeanien, Eurasien und Ostasien bekriegen sich, halten sich wechselseitig in Schach und im Gleichgewicht.
Das konnte skurrile Blüten treiben: So wird Winston Smith, die Hauptfigur des Romans, Augen- und Ohrenzeuge, als die Bevölkerung Ozeaniens im Rahmen der offiziell veranstalteten „Hasswoche“ wieder einmal ihre Aversion gegen den Feind Eurasien auslebt. Zunächst läuft alles wie geplant und erwartet. Dann beobachtet Winston, wie einem Parteifunktionär, der schon seit 20 Minuten eine Hetzrede gegen Eurasien hält, ein Zettel zugesteckt wird. Ohne seine Tirade zu unterbrechen, liest er den Zettel und wechselt sodann ohne weitere Erklärung die Pferde, also das Hassobjekt. Der Zettel enthielt eine wichtige Information: Die Kriegskonstellation hatte sich geändert. Statt gegen Eurasien führte man jetzt gegen Ostasien Krieg (mit dem einstigen Kriegsgegner Eurasien war man hingegen verbündet).
Dieses Beispiel macht sichtbar, was bei der Rede über Multipolarität mitunter vergessen wird: Die jeweiligen Pole müssen keineswegs in Harmonie miteinander existieren. Es ist nicht ausgemacht, dass das kooperative Moment überwiegt. Im Grunde ist eine spannungsgeladene Konstellation sogar wahrscheinlicher. Warum denn sonst sollte man überhaupt von „Polen“ sprechen (was ja immer auch den Gedanken an „Polarisierung“ mit sich bringt)? Man könnte noch einen Schritt weitergehen: Ist nicht die Vorstellung einer einträchtigen multipolaren Welt sogar ein Widerspruch in sich? Wer den Akzent auf die Zusammenarbeit mehrerer Staaten bei der Lösung grenzübergreifender Probleme legt, verwendet ja denn auch für gewöhnlich den Begriff „multilateral“ – nicht multipolar.
Carl Schmitts „Großräume"
Ein anderes Beispiel für eine spannungsgeladene multipolare Welt findet sich in einem Entwurf des deutschen Staatsrechtlers Carl Schmitt. Er hielt 1939 in Kiel einen Vortrag unter dem Titel „Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte“. Die darauf gründende Broschüre wurde bis1941, dem Jahr des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion, mehrfach aufgelegt und ergänzt. Sie bewegt bis heute die geopolitischen Phantasien. Schmitt konzipiert eine multipolare Welt, die, ähnlich wie bei Orwell, unter regionale Hegemone aufgeteilt ist. Diese kommen sich allerdings wechselseitig nicht ins Gehege, machen den anderen ihren Großraum nicht streitig. Es gilt ein Interventionsverbot.
Was die Verhältnisse innerhalb von Staaten anging, war Schmitt ein resoluter Gegner von Pluralismus, Heterogenität oder Fragmentierung. Ein Staat, geschwächt durch die partikularistischen Ansprüche und Aktivitäten von Parteien oder Verbänden, war seine Sache nicht. Schmitt war insoweit ein Wegbereiter und Lobredner des seit 1933 Gestalt annehmenden totalen Staates. Ganz anders lagen die Dinge für ihn auf internationaler Ebene. Vorstellungen eines Weltstaates oder eines universal gültigen Völkerrechts waren ihm mehr als suspekt. Im Laufe der Zeit wuchsen seine Zweifel, ob die Staaten noch in der Lage sein würden, den Trend in Richtung Globalisierung und Universalisierung aufzuhalten. Daher sein Plädoyer für „Großräume“. In diesen sah er den Staaten überlegene Organisationsformen beziehungsweise Machtfaktoren und somit auch stärkere Hindernisse gegenüber den von ihm beargwöhnten globalen Trends. Unter rechten wie linken Gegnern und Kritikern des „Globalismus“ werden Schmitts Überlegungen heutzutage gerne aufgegriffen.
Es überrascht wenig, dass auch und gerade die Kritiker multipolarer Ordnungsmodelle immer wieder Carl Schmitt ins Spiel bringen. Nehmen wir Richard Herzinger! In einer seiner Kolumnen, die er für eine ukrainische Zeitschrift schreibt, hat der ehemalige Springer-Journalist wenige Wochen vor der russischen Invasion explizit den Zusammenhang zwischen Schmitts Großraum-Konzeption und den geopolitischen Vorstellungen Putins behauptet:
„Dem Konzept eines global gültigen Völkerrechts, das auf universalen Werten beruht, setzte Schmitt den Entwurf einer aus geopolitischen ′Großräumen‵ zusammengesetzten Weltordnung entgegen, in denen jeweils eigene, den ethnischen und territorialen Besonderheiten dieser Räume gemäße Rechtsnormen herrschen sollten. Diese würden von dem stärksten, einen ′Großraum‵ dominierenden Volk definiert und durchgesetzt. Das universalistische Rechtsverständnis des westlichen Liberalismus betrachtete Schmitt als einen Vorwand der angelsächsischen Mächte dafür, der ganzen Welt ihre abstrakten Werte und damit ihre Herrschaft aufzuzwingen. (…) Putins Vorstellungen von einer in Einflusszonen gegliederten Weltordnung [gleichen] der ′Großraum‵-Vision Carl Schmitts in auffälliger Weise. (…) Es wäre somit ein fataler Irrtum, Putins Aggression gegen die Ukraine nur als ein regionales Problem zu betrachten. Diese ist für ihn vielmehr der erste Schritt auf dem Weg zu einer neuen Weltordnung, in der ′Großmächte‵ innerhalb ihrer ′Einflusszone‵ unbehelligt das Recht des Stärkeren praktizieren können.“
Auch andere Autoren verknüpfen Schmitts Denken mit der heraufziehenden multipolaren Ordnung. So der Völkerrechtler Christian Marxsen :
„Russland verficht eine von Carl Schmitt beschriebene ′völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte‵ – also die Schaffung einer exklusiven russischen Einflusssphäre. (…) Zentral für die künftige Entwicklung ist heute die Volksrepublik China. China hat grundsätzlich kein Interesse an bewaffneten Konflikten, da diese dem für China essentiellen Handel zuwiderlaufen. Gleichzeitig arbeiten China und Russland aber an einem Gegenentwurf zur westlich dominierten internationalen Ordnung. In einer am 4. Februar 2022 von Russland und China veröffentlichten Stellungnahme zu ihrer zukünftigen Kooperation bekennen sich beide Staaten zwar zur UN-Charta und ihren Prinzipien. Beide erklären aber auch, gemeinsam internationale Beziehungen eines neuen Typs errichten zu wollen. Die Konturen dieses neuen Typs zeichnen sich noch nicht mit Deutlichkeit ab. Es steht aber zu befürchten, dass autoritäre Prinzipien und das Denken in Einflusssphären, welches die Souveränität der Einzelstaaten nicht mehr anerkennt, dabei eine große Rolle spielen werden. Es scheint nicht unwahrscheinlich, dass die Zukunft des Völkerrechts vorerst darin liegt, allein die Basisstrukturen für einen internationalen Austausch zur Verfügung zu stellen und dass sich darüber hinaus mehrere Rechtskreise mit sehr verschiedenen Grundprinzipien verfestigen könnten.“
Unipolare Bilanz
Die gerade zitierten harschen Urteile über eine sich herausbildende multipolare Welt werfen die Frage auf, welche Vergleichsmaßstäbe die Autoren eigentlich anlegen. Wovon sprechen sie, wenn sie in Tendenzen hin zur Multipolarität nichts als Rückschritte und Verluste von schon Erreichtem erkennen können? Ist die Gegenwart und war die jüngere Vergangenheit etwa vom Respekt für das Völkerrecht, für die einzelstaatliche Souveränität und für das Gewaltverbot geprägt? Kann ernstlich von einer „regelbasierten Ordnung“ gesprochen werden? In Ex-Jugoslawien? Im Irak? In Afghanistan? In Libyen? In Syrien? Im Jemen? In der Ukraine? In US-amerikanischen Konflikten mit China, mit Nordkorea, mit Iran? Anders gefragt: Wie sieht die unipolare Bilanz aus, wenn man sie ohne ideologische Scheuklappen betrachtet?
Die unipolare Phase begann unmittelbar nach der Auflösung der Sowjetunion. Die Vereinigten Staaten – und mit ihnen der Westen insgesamt – fühlten und feierten sich als Sieger im Kalten Krieg. Einen nochmaligen Schub erhielt das US-amerikanische Selbst- und Sendungsbewusstsein nach 9/11. Die Anschläge haben die ohnehin schon dominanten Tendenzen im internationalen Verhalten der USA verschärft. Sie haben keine Erschütterung des Landes oder des von ihm beherrschten globalen Machtgefüges bewirkt, sondern als Trendverstärker fungiert, also bestehende Verhältnisse und Strukturen eher gefestigt als gefährdet. Sie haben die im Außenverhalten der USA längst angelegten unilateralen und hegemonialen Ambitionen weiter gefördert, auch die konfrontativen und militärischen Elemente. Und sie haben die inneren und äußeren Widerstände gegen diese Orientierungen beiseite geräumt oder neutralisiert.
Empire in decline
Um das Jahr 2003 herum sind zahlreiche Bücher erschienen, die sich an der schier unfassbaren und offenbar grenzenlosen Macht der USA regelrecht berauschten. Egon Bahr zum Beispiel bezeichnete das Land als die „erste und einzige Globalmacht der Geschichte“, Josef Joffe sprach von der „Hypermacht“, Peter Bender vom „neuen Rom“. Wie auch immer man sie bewertete – kaum jemand zweifelte, dass die globale Dominanz der USA auf Jahrzehnte hin unangreifbar sein und wahrscheinlich das gesamte 21. Jahrhundert bestimmen werde. Es gab damals nur wenige Autoren, die sich der Bewunderung für die ach so kraftstrotzende amerikanische Militärmacht verweigerten. Der Franzose Emmanuel Todd zählte zu ihnen, doch er war und blieb ein Außenseiter, dessen Analysen allenfalls mit einem gewissen Respekt zur Kenntnis genommen wurden.
Es hat nur wenige Jahre gedauert, bis allgemein sichtbar wurde, dass es sich bei den eben zitierten Mainstream-Prognosen um Fehleinschätzungen oder Wunschdenken gehandelt hatte, dass wir es bei den USA nicht mit der globalen Führungsmacht des 21. Jahrhunderts, sondern mit einem „Empire in Crisis“, manche meinen sogar: einem „Empire in decline“ zu tun haben. Schon am 24. Juli 2005 stellte Patrick Cockburn in einem seiner vielen Berichte über den Irakkrieg nüchtern fest: „Der Krieg, der begonnen hatte als Demonstration der Stärke der USA, der einzig verbliebenen Supermacht der Welt, hat sich in eine Demonstration ihrer Schwäche verwandelt.“ Mit dem gescheiterten Irakkrieg war auch die kurze unipolare Phase der USA vorüber. Seither befindet sich die Welt in einem Übergangsprozess zu einer noch nicht voll ausgebildeten multipolaren Konstellation. Die Jahre der unipolaren Dominanz haben die USA in eine Krise geführt, in einen schmerzhaften Prozess des relativen Bedeutungsverlusts. Einen konstruktiven Umgang damit hat das Land noch nicht gefunden.
Die US-Führung stemmt sich gegen ihren Abstieg und gegen die aufstrebende Konkurrenz, indem sie immer wieder und unbeirrt auf militärische Macht und sonstige Mittel der Repression und Aggression setzt: Drohungen, Ultimaten, Erpressungen, Individual- und Kollektivstrafen, Propaganda jeglicher Art bis hin zu psychologischer Kriegsführung, Cyberwar, ein ausuferndes Sanktionsregime, sodann direkte Gewalt in Form von Waffenlieferungen, Hunderten Militärbasen und -stützpunkten auf der ganzen Welt, Drohnenangriffen, verdeckten Operationen, Stellvertreterkriegen, Kriegsdrohungen und tatsächlichen Kriegen – in der Regel unerklärt und illegal, also ohne Autorisierung des US-Kongresses, ohne Zustimmung des UNO-Sicherheitsrates.
Dass solche „Anti-Diplomatie in Permanenz“ auf Dauer zum Erfolg führen könnte, ist mehr als unwahrscheinlich. Allerdings birgt sie eminente Gefahren. Die Angst geht um, dass es im Übergangsprozess zur Multipolarität zu einer Konfrontation der großen Nuklearmächte kommen könnte.
Eine Zwischenbilanz: Die These, dass eine multipolare Ordnung oder der sich gegenwärtig vollziehende Übergang zu ihr gegenüber der nach dem Ende des Ost-West-Konflikts einige Jahre dominierenden unipolaren Konstellation ein Rückschritt sei, dass sie Erreichtes infrage stelle oder zerstöre, lässt sich nicht belegen. Was im Zeitalter der Multipolarität angeblich auf dem Spiel steht – der Respekt vor dem Völkerrecht, vor der einzelstaatlichen Souveränität –, ist schon in den vergangenen drei Jahrzehnten derart ausgehöhlt worden, dass es nicht länger als Argument gegen Veränderung taugt.
Bipolarität im ersten „Kalten Krieg"
Gehen wir nun einen weiteren Schritt zurück und vergleichen eine multipolare Konstellation mit der bipolaren Ordnung, wie sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte und knapp 45 Jahre währte. Einen Vergleich dieser Art hatte der Politikwissenschaftler John Mearsheimer 1990 mit Blick auf Europa angestellt. In seinem mittlerweile berühmten Aufsatz „Back to the Future“ arbeitete er die Problematik einer multipolaren Ordnung heraus und demonstrierte die Vorzüge eines bipolaren Systems. Die dort gewonnenen Einsichten, die auch viele andere realistische Analytiker teilen, müssen heute auf die globale Ebene übertragen werden.
Zunächst ein kurzer Rückblick! Der Ost-West-Konflikt brachte ein bipolares System hervor: mit zwei Machtzentren in Washington und Moskau, mit zwei Nuklearmächten (USA und UdSSR), mit zwei militärischen Bündnissystemen (NATO und Warschauer Pakt). Der Konflikt war struktureller Natur, sowohl ideologisch als auch machtpolitisch begründet. Den ideologischen Strang kann man bis zur russischen Oktoberrevolution 1917 zurückverfolgen. Der Ost-West-Konflikt im engeren Sinn – der erste „Kalte Krieg“ – entwickelte sich seit 1946/47, als sich die Spannungen zwischen der UdSSR und den anderen Siegermächten des Zweiten Weltkriegs verschärften. Er endete 1989/91 mit der Kapitulation nominell kommunistischer Systeme in Mittel- und Osteuropa und der Auflösung der Sowjetunion.
Bestand in der frühen Phase des Konflikts eine eindeutige Überlegenheit der USA (und insoweit ein „unipolarer Moment“), entwickelte sich im Laufe der 1950er und 60er Jahre eine amerikanisch-sowjetische Parität. Die beiden Führungsmächte und ihre Bündnissysteme hatten ökonomisch, politisch und ideologisch unterschiedliche und prinzipiell unvereinbare Wege eingeschlagen. Beide erhoben den Anspruch, dem jeweils anderen überlegen zu sein und sich auf längere Sicht im globalen Maßstab durchzusetzen. Trotz aller Ungleichgewichte, also beispielsweise technologischer oder ökonomischer Vorsprünge beziehungsweise Rückstände, begegneten sich die Zentralmächte auf Augenhöhe. Fast niemand unter den Zeitgenossen wagte zu prognostizieren, welches der beiden Systeme am Ende die Oberhand behalten würde. Die meisten Beobachter gingen davon aus, dass der Ost-West-Konflikt auf Dauer gestellt sei und noch auf lange Zeit das beherrschende Strukturmuster des internationalen Systems bleiben werde.
Der Konflikt durchlief verschiedene Aggregatzustände, Phasen der Spannung (Konfrontation) wie auch Phasen der Entspannung (Kooperation). Trotz mehrerer höchst gefährlicher Situationen kam es in den paktgebundenen Kernstaaten nicht zu einer direkten militärischen Auseinandersetzung oder gar zu einem Nuklearkrieg. Anders sah es in den Ländern der Peripherie oder Semiperipherie aus; hier forderten zahlreiche Kriege – viele von ihnen „Stellvertreterkriege“ – zig-Millionen Opfer.
Bipolar versus multipolar
Was kennzeichnet nun ein bipolares im Unterschied zu einem multipolaren System? Eine erste wichtige Beobachtung: Wenn zwei Mächte und ihre Verbündeten den Globus dominieren, ist es für den Rest der Staatenwelt schwierig, seine Unabhängigkeit zu wahren. Viele der nicht-paktgebundenen Staaten organisierten sich zwar Mitte der 1950er Jahre in der Blockfreien-Bewegung, dennoch blieb ein erheblicher Druck, sich der einen oder anderen Globalmacht anzuschließen oder ihr zumindest zuzuneigen. Die Weltmächte konkurrierten um die Gunst der Unabhängigen, und die Frage, wer sich in wessen Einflussbereich befand, war während des gesamten Konflikts virulent.
Einen besonderen Erfolg fuhren die USA in den frühen 1970er Jahren ein, als es ihnen gelang, die Beziehungen zur Volksrepublik China zu normalisieren und damit die aus US-amerikanischer Sicht bestehende Gefahr einer Verständigung zwischen China und der UdSSR (also der beiden rivalisierenden kommunistischen Führungsmächte) zu entschärfen. Umgekehrt waren die Möglichkeiten für unabhängige Staaten, die beiden dominanten Mächte gegeneinander auszuspielen, eher begrenzt; ein bipolares System ist zu rigide, um allzu viel Handlungsspielraum zuzulassen.
In einem multipolaren System – also einem System mit drei oder mehr dominanten Polen – genießen kleinere Mächte demgegenüber eine erhebliche Flexibilität bei der Wahl ihrer Bündnispartner oder Allianzen. Auch sind ihre Chancen groß, sich die Unabhängigkeit zu bewahren oder sich mal dem einen, mal einem anderen Pol anzuschließen. Zudem können sich multipolare Systeme stark voneinander unterscheiden – abhängig von der jeweiligen Zahl großer und kleiner Mächte und ihrer geografischen Verteilung.
Stabilität und Instabilität
Grundsätzlich gilt, dass ein bipolares System stabiler ist als ein multipolares System. Warum ist das so? Zunächst: Damit ein System überhaupt die Bezeichnung „bipolar“ verdient, müssen zwei Voraussetzungen erfüllt sein. Erstens müssen die beiden Pole über eine alle anderen Staaten überragende Macht verfügen. Zweitens müssen die beiden Pole in etwa gleich stark sein. Ein bipolares System braucht also de facto zwei Weltmächte – Mächte, die nicht lediglich eine regionale Hegemonie anstreben oder ausüben, sondern die im globalen Maßstab Interessen verfolgen, die global einsatzbereit und handlungsfähig sind. Zusätzliche Stabilität gewinnt ein bipolares System, wenn die beiden Pole über Nuklearwaffen verfügen, und zwar in Gestalt einer „mutually assured destruction“ (MAD), einer gesicherten Zweitschlagsfähigkeit.
Das heißt nicht, dass Bipolarität keine Risiken berge, im Gegenteil. Wie schon erwähnt, ist mit regional begrenzten Stellvertreterkriegen zu rechnen. Und keine Frage: Wenn in einem bipolaren System die Abschreckung versagt und es zu einem Krieg der beiden Pole (also der Führungsmächte und ihrer Verbündeten) kommt, dann droht die globale Vernichtung.
Grundsätzlich spricht jedoch alles dafür, dass ein bipolares System weniger kriegerische Konflikte gebiert als ein multipolares System. Drei Faktoren sind ausschlaggebend. Erstens: Die Zahl der möglichen Konfliktdyaden ist in einem bipolaren System geringer; es bietet schlicht weniger Möglichkeiten für kriegerische Konflikte als ein multipolares. Zweitens: Die wechselseitige Abschreckung ist in einem bipolaren System vergleichsweise einfach zu gewährleisten. Machtungleichgewichte treten eher selten auf, und man kann sie, so sie denn auftreten, durch eigene Rüstungsanstrengungen („Nachrüstung“) beheben. Drittens: Die Wahrscheinlichkeit, dass in einem bipolaren System die wechselseitige Abschreckung auch tatsächlich funktioniert, ist groß, weil Fehleinschätzungen der internationalen Machtverhältnisse und der gegnerischen Absichten seltener und weniger wahrscheinlich sind.
Während in einem etablierten bipolaren System nur eine dominante Konfliktdyade existiert, kennt ein multipolares System eine Vielzahl potentieller Konfliktkonstellationen. Die Konfliktdyaden zwischen den Hauptmächten sind zahlreich, ebenso können Konflikte zwischen großen und kleineren Mächten ausbrechen, oder es können kleinere Mächte aneinandergeraten und die Großen in einen Krieg hineinziehen. Insofern enthalten multipolare Systeme beachtliche Eskalationspotentiale; ein kleinerer Konflikt kann sich aufschaukeln und einen allgemeinen Krieg auslösen. Insgesamt sind multipolare Systeme deutlich instabiler und konfliktanfälliger als bipolare.
Militärische Abschreckung
Zudem ist in einem multipolaren System die militärische Abschreckung ein schwieriges Unterfangen. Machtungleichgewichte sind an der Tagesordnung, und Staaten, die temporär überlegen sind, ist nur mit Mühe beizukommen. Wie können Machtungleichgewichte zu Konflikten führen? Mearsheimer unterscheidet zwei Möglichkeiten: Zum einen können Staaten sich verbünden („ganging“), um einen dritten anzugreifen, zum anderen kann ein Staat seine überlegene Macht nutzen, um einen schwächeren Staat zu überwältigen („bullying“).
Man kann derartigen Gefahren durch eine effektive Gleichgewichtspolitik entgegenwirken. Dann schließen sich einzelne Staaten gegen den Störenfried zusammen, weisen ihn in seine Schranken oder lassen ihn erst gar nicht auf aggressive Ideen kommen. Aber es gibt keine Garantien, dass sich solche friedenserhaltenden Koalitionen tatsächlich bilden oder dass sie wirksam agieren. Die Abschreckung kann zu spät kommen, unzureichend sein oder versagen. Die Gründe für den Fehlschlag mögen in der Geografie liegen, in Koordinationsproblemen oder in Fehlkalkulationen – etwa in Bezug auf die Entschlossenheit gegnerischer Staaten oder die Stärke gegnerischer Koalitionen. Im Unterschied zu einem rigiden bipolaren System sind multipolare Systeme eher fluide – mit allen Unwägbarkeiten, die daraus entstehen können. 1914 und 1939 sind die Kriege vor allem deshalb ausgebrochen, weil es den maßgeblichen Mächten nicht gelungen ist, die Macht Deutschlands auszubalancieren.
In einem bipolaren System fallen „ganging“ und „bullying“ flach, folglich auch die Macht-Asymmetrien, die daraus erwachsen können. Soweit Asymmetrien entstehen, lassen sie sich durch interne Maßnahmen ausgleichen, etwa indem man nachrüstet, um den Vorsprung der anderen Seite zu egalisieren. In multipolaren Systemen greifen Staaten dagegen eher auf externe Mittel zurück, wie Diplomatie oder die Bildung von Allianzen. Wenn beispielsweise der zweitstärkste Staat in einem multipolaren System die Übermacht des stärksten Staates ausgleichen will, ist die Allianzbildung ein probates Mittel – vor allem ein kostengünstiges, weil man die Bürde anderen auflasten und eigene Anstrengungen vermeiden kann.
Die Bedeutung von Nuklearwaffen
Bipolare Systeme sind dann besonders stabil, wenn die beiden Antagonisten über Nuklearwaffen verfügen. Es ist nicht unbedingt eine genaue nukleare Parität erforderlich, um eine wirksame Abschreckung zu garantieren. Es genügt die gesicherte Zweitschlagskapazität. Nuklearwaffen sind insofern keine Mittel der Kriegsführung, sondern der Kriegsvermeidung. Mit ihnen droht man nicht, mit ihnen schreckt man ab. Damit das gelingt, setzen Nuklearwaffen ein gewisses Maß an Rationalität der beteiligten Akteure voraus. Auch in einem nuklearisierten bipolaren System können Konflikte zwischen den beiden Mächten offen (z.B. durch Propagandakampagnen oder Stellvertreterkriege) ausgetragen werden, aber es gibt rote Linien, die unbedingt zu respektieren sind und die nur bei Strafe des (gemeinsamen) Untergangs überschritten werden können.
Welche Rolle werden Nuklearwaffen zukünftig in einer globalen multipolaren Ordnung spielen? Werden sie auch hier eine stabilisierende Wirkung entfalten können? John Mearsheimer hatte sich in seinen Überlegungen fast ausschließlich auf Europa konzentriert und globale Betrachtungen außen vor gelassen. Wie könnte eine Antwort aussehen?
Schon zu Zeiten der Bipolarität, also bis 1989/91, gab es neben den USA und der Sowjetunion andere Staaten, die – wenngleich in weit bescheidenerem Umfang – über Nuklearwaffen verfügten. Nach wie vor sind die USA und die aus der Sowjetunion hervorgegangene Russische Föderation zwar die dominierenden Nuklearmächte. Aber andere sind nicht untätig, und einige der Staaten, die ein multipolares internationales System befördern, sind auch nuklear gerüstet – allen voran China und Indien. Die Frage, ob die Existenz von Nuklearwaffen die betroffenen Staaten im Konfliktfall mäßigen oder vielmehr die Gefahr erhöhen wird, lässt sich derzeit meines Erachtens nicht seriös beantworten.
Es kann sein, dass manche Staaten die nukleare Bewaffnung als Lebensversicherung betrachten; das wäre zum Beispiel im Fall Nordkoreas anzunehmen. Russland hat im Zuge seines Kriegs gegen die Ukraine mehrfach den Einsatz von Nuklearwaffen angedroht, diese also nicht mehr bloß als Mittel der Abschreckung gedacht und konzipiert, sondern als Option in der Kriegsführung. In der Regel ist in solchen Zusammenhängen von „taktischen“ Nuklearwaffen die Rede. Damit wird suggeriert, Nuklearkriege ließen sich begrenzen. Das ist jedoch mehr als unwahrscheinlich. Der Einsatz „taktischer“ Nuklearwaffen, so ist zu befürchten, wird vielmehr eine Eskalationsdynamik in Gang bringen, an deren Ende ein voll entbrannter Atomkrieg steht. Ich möchte es vorsichtig formulieren: Es spricht einiges für die Vermutung, dass Nuklearwaffen in einer multipolaren Welt (mit nunmehr neun Atommächten) nicht die stabilisierende Wirkung entfalten werden, die ihnen in der bipolaren Welt zukam.
Welche Pole?
In der gegenwärtigen Übergangsphase zu einer multipolaren Ordnung dominiert ein binäres Denken. Von westlicher Seite wird suggeriert, in dem Prozess handele es sich letztlich um eine Auseinandersetzung zwischen „Garten“ und „Dschungel“, zwischen einer Welt der Demokratie und einer Welt des Autoritarismus. Das ist offenkundig reine Ideologie. Schon der lapidare Hinweis, dass die westliche Führungsmacht 57 Prozent der autoritären Staaten dieser Welt mit Waffen beliefert, sollte als Gegenargument genügen.
Auf der anderen Seite haben sich jene Staaten, die am multipolaren Projekt beteiligt sind, zu einer relativ homogenen, kooperativen Front zusammengefunden. Ihr gemeinsames Ziel ist Gegenmachtbildung, um die Vorherrschaft der USA und des Westens zu brechen. Diese Interessenidentität schweißt zusammen und trägt dazu bei, dass potentielle Konfliktfelder zwischen den involvierten Staaten (noch) nicht oder kaum sichtbar werden. Das kann und wird sich mit großer Wahrscheinlichkeit ändern, sobald die Gegenmachtbildung abgeschlossen ist und die mit ihr verknüpften Ziele erreicht sind.
Zu Beginn dieses Beitrags hatte ich die großen Hoffnungen angesprochen, die vielerorts mit dem Übergang in eine multipolare Welt verbunden werden. Diese Hoffnungen sind auch insofern möglicherweise überzogen oder unbegründet, als man zum heutigen Zeitpunkt nicht einmal zuverlässig prognostizieren kann, welche Staaten denn überhaupt Pole bilden werden. Sicher, China und die USA sind „gesetzt“ (und zwar derart gesetzt, dass der Politikwissenschaftler Thomas Jäger davon ausgeht, dass wir gar nicht auf ein multipolares System zulaufen, sondern auf ein bipolares mit China und den USA als Weltmächten.) Ob die beiden Giganten in einen militanten Konflikt geraten oder einen Modus vivendi finden, dürfte die zentrale geopolitische Frage der kommenden Jahre und Jahrzehnte sein.
Was die USA angeht, wird man wohl mit einiger Sicherheit sagen können: Ein relativer Machtverlust des Landes ist unausweichlich. Sicherlich wird der US-Dollar als Leit- und Reservewährung weiter unter Druck geraten, was wiederum schwer kalkulierbare Folgen zeitigen wird. Unklar ist auch, ob sich auf außen- und sicherheitspolitischem Feld mäßigende Kräfte in Washington werden durchsetzen können, ob es gelingt, den militärisch-industriellen Komplex zu zähmen, ob überhaupt die extrem polarisierte, sich in Kulturkämpfe verbeißende amerikanische Gesellschaft neu zusammenfinden kann. Kein Zweifel besteht aber wohl daran, dass die USA auch zukünftig einen machtvollen Pol im Gesamtgefüge bilden werden. Ungeachtet aller unleugbaren Probleme – dieses Land wird nach wie vor von einer vibrierenden, innovativen, einzigartigen Zivilgesellschaft getragen und ist weit entfernt von einem Erschöpfungszustand oder einer sklerotischen Erstarrung.
Mag sein, dass Europa tatsächlich irgendwann „strategische Autonomie“ (Macron) gewinnt. Derzeit ist es aber wohl wahrscheinlicher, dass die europäische Abhängigkeit von den USA wächst (von dieser Seite also eine Stärkung der USA eintritt, keine weitere Schwächung) und Europa auf absehbare Zeit nicht über den Status eines US-amerikanischen „Protektorats“ (Michael Lind) hinauskommt. Schwer abzuschätzen sind die Folgen des sich formierenden Pazifik-Militärblocks sowie anderer aktueller NATO-Aktivitäten. Wie die Osterweiterung des Bündnisses die Spannungen mit Russland heraufbeschworen hat, könnte die derzeit Gestalt annehmende „Natoisierung Asiens“ den Konflikt mit China verschärfen.
Und darüber hinaus? Solange unklar ist, mit welchem Ergebnis der Ukraine-Krieg enden wird, sind Prognosen mit Blick auf Russland – seine internationale Lage, seine inneren Verhältnisse – kaum möglich. Ich habe in früheren Beiträgen deutlich gemacht, dass ich diesen Krieg – aus russischer Perspektive betrachtet – für einen schwerwiegenden Fehler halte. Ich bin nach wie vor überzeugt, dass er nicht zu einem „Sieg“ der einen oder anderen Seite, nicht zu einer Befriedung oder einem nachhaltigen Interessenausgleich führen, sondern vielmehr eine Zone der Zerstörung, der Feindschaft und der Instabilität hinterlassen wird. Möglich sogar, dass Russland aus dem Krieg derart geschwächt hervorgeht, dass es nicht länger in der Lage ist, einen eigenständigen geopolitischen Pol zu bilden.
Auch die Beziehungen zwischen Russland und China werden – ungeachtet der Beteuerungen „grenzenloser Freundschaft“ – von kühler Interessenpolitik geleitet sein. Die beiden Länder haben bislang kein „Bündnis“ geschlossen, in dem sie – unabhängig von ihrer jeweiligen Interessenlage – füreinander Verpflichtungen eingegangen wären. (Mit der Ukraine hatte China übrigens auch 2011 eine „strategische Partnerschaft“ vereinbart, die sich nach Beginn des Ukraine-Kriegs als ziemlich wertlos erwies.)
Schließlich: Wohin wird sich Indien, das mittlerweile bevölkerungsreichste Land der Welt, letztlich orientieren? Wie wird sich der Konflikt zwischen Indien und China entwickeln? Oder das Verhältnis zwischen Indien und Pakistan? Ist wirklich vorstellbar, dass sich Länder wie Iran und Saudi-Arabien – etwa im Rahmen von BRICS+ – friedlich, konstruktiv und dauerhaft zusammenfinden? Oder dass der „globale Süden“ es schafft, einen eigenständigen Pol zu bilden?
Problemlösungsfähigkeit und demokratische Qualität
Ob eine multipolare Welt sich als Fluch oder Segen erweist, wird nicht nur von ihrer Konflikt- und Kriegsanfälligkeit abhängen, sondern auch von ihrer Problemlösungsfähigkeit und ihrer demokratischen Qualität. Dazu zwei Bemerkungen:
Was die Problemlösungsfähigkeit angeht, ist gegenwärtig häufig von einem Prozess der „Ent-Globalisierung“ die Rede. Diese Diagnose mag in einem sehr eingeschränkten Sinn zutreffen. Aber Globalisierung ist – was oft übersehen wird – ein multidimensionaler und auch widersprüchlicher, im Hinblick auf seine Folgen ambivalenter Prozess, der sich nicht auf ökonomische Entwicklungen reduzieren lässt, sondern auch technische beziehungsweise technologische, ökologische, soziale, politische, kulturelle, rechtliche oder militärische Stränge umfasst. Er wird nicht zu einem Stillstand kommen, sich vielmehr unabhängig von politischen Wünschen und Erwartungen mit großer Dynamik fortsetzen. Soweit hier Steuerung und Kontrolle überhaupt möglich sind, setzen sie eine ausgeprägte Kooperationsbereitschaft der Staatenwelt voraus – ein Höchstmaß an Multilateralität, nicht Multipolarität.
Zur demokratischen Qualität: Ich hatte schon erwähnt, dass ich das westliche Framing „Demokratie versus Autoritarismus“ für abwegig halte. Dennoch ist natürlich offenkundig und unbestreitbar, dass beträchtliche Unterschiede bestehen etwa zwischen dem demokratischen Rechtsstaat der Schweiz und dem hochtechnisierten chinesischen Überwachungsstaat. Überall auf der Welt bekennt man sich zu Demokratie und Menschenrechten; in vielen Fällen handelt es sich allerdings um bloße Lippenbekenntnisse. Allerorten ist ein Trend zum Abbau von Liberalität und Rechtsstaatlichkeit zu beobachten – auch in westlichen Ländern. Die anstehenden geopolitischen Verlagerungen werden daran nichts ändern, im Gegenteil. Es ist schwer vorstellbar, dass Indien, Saudi-Arabien, Iran oder Südafrika die Welt mit demokratischen und rechtsstaatlichen Impulsen oder gar Aufbrüchen überraschen werden. Kriegerische Konflikte werden obendrein zu weiterer Illiberalität und wachsender Repression beitragen, wie Russland und die Ukraine gerade veranschaulichen.
Eine Klarstellung zum Schluss: Ungeachtet der in diesem Text diskutierten realen und potentiellen Probleme und Risiken einer multipolaren Welt, will ich keinesfalls bestreiten, dass eine multipolare Konstellation auch große Chancen birgt. Eingangs hatte ich einige der verbreiteten positiven Erwartungen aufgelistet. Ich hoffe selbstverständlich, dass möglichst viele von ihnen Wirklichkeit werden. Aber – und das ist meine bescheidene Botschaft: Man sollte nicht übersehen, dass da auch diverse Fallstricke lauern. Nur wer sie kennt, kann ihnen entgehen.
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