Rote Linie in Sofia
RUMEN MILKOW, 21. Januar 2022, 1 Kommentar, PDF„Nächstes Jahr stürzen wir die Regierung!“ – mit diesen Worten begrüßte mich die Frau, die seit dem letzten Herbst regelmäßig Demonstrationen der bulgarischen Partei „Wiedergeburt“ in der Stadt Montana mitorganisiert, als ich sie kurz vor Weihnachten zufällig in einem großen Supermarkt der Stadt traf. Auf die immer freitags zwischen 16 und 18 Uhr stattfindende Veranstaltung bin ich Ende letzten Jahres ebenfalls durch Zufall gestoßen. Zwei oder dreimal war ich zugegen, als sich auf dem zentralen Platz der 40.000 Einwohner-Stadt in der ärmsten Region im Nordwesten des Landes 20 bis 30 Menschen versammelten, um gegen den Grünen Pass zu demonstrieren, der im September in Bulgarien eingeführt worden war.
Angesichts der doch überschaubaren Teilnehmerzahl in Montana war es interessant zu sehen, wie viele Menschen sich landesweit für den nationalen Protest am 12. Januar in der Hauptstadt Sofia mobil machen lassen, und ob diese wirklich in der Lage sein würden, die Regierung aus dem Amt zu jagen, was in Bulgarien erst vor kurzem fast ein Jahr lang versucht wurde – wenngleich ohne Erfolg.
Ab dem Sommer 2020 gab es in Bulgarien regelmäßige und lang anhaltende Proteste, die das Ziel hatten, die Regierung Borissow zu vertreiben, die als korrupt galt. Ich war bei einigen von ihnen in Sofia zugegen, kann sie also mit Demonstrationen in Berlin vergleichen, deren Augenzeuge ich ebenfalls war. Auch wenn man in der deutschen Hauptstadt keine Regierung stürzen wollte, der Protest sich dort „nur“ gegen die Corona-Maßnahmen richtetet, war die grundsätzliche Situation in beiden Hauptstädten gleich: viele Menschen auf engem Raum, Protestierende und Polizisten.
Demonstranten einkesseln – in Bulgarien unbekannt
Der Unterschied war, dass in Sofia kaum jemand eine Maske trug, weder Demonstranten, noch die Polizei. Es wurde auch niemand aufgefordert, Abstände einzuhalten, geschweige denn, dass diese mit einem Zollstock überprüft worden wären, wie es aktuell in Deutschland geschieht. Auch die Taktik der Berliner Polizei: Demonstranten einkesseln, die Räume eng machen und dann die Demonstration auflösen, weil Abstände nicht eingehalten werden – sie ist in Bulgarien gänzlich unbekannt. Es scheint sich dabei um ein sehr deutsches Phänomen zu handeln.
Die Partei „Wiedergeburt“, die zu dem Nationalen Protesttag in der vergangenen Woche aufgerufen hatte, ist zwar nur mit knapp fünf Prozent bei der letzten Wahl im November ins Parlament eingezogen. Sie konnte aber im Vergleich zur vorherigen Wahl bei den Wählerstimmen, für jede gibt es fünf Euro Unterstützung vom Staat, um gut die Hälfte zulegen, und zwar genau von 82.147 auf 127.568. Das liegt vor allem daran, dass sie sich vor der Wahl als einzige Partei gegen den Grünen Pass ausgesprochen hatte. Ansonsten spielte beim Wahlkampf in Bulgarien das Thema Corona praktisch keine Rolle, ganz genauso wie in Deutschland.
Die große Mehrheit der Bulgaren, die „Partei der Nichtwähler“, es sind immerhin 60 Prozent, ließ der Wahlkampf gänzlich unbeeindruckt. Sie blieb der Wahl fern. Deswegen sind die 25 Prozent, auf die es der „Wahlgewinner“ Kiril Petkow und seine Partei „Wir setzen den Wandel fort“ geschafft hat, gerade einmal zehn Prozent der Stimmen aller zur Wahl Berechtigen. Trotzdem haben er und seine Partei am 13. Dezember vergangenen Jahres im Rahmen einer Vier-Parteien-Koalition die Regierungsgeschäfte in Bulgarien übernommen. Berücksichtigt man auch hier die 60 Prozent Nichtwähler, hat sie eine „Mehrheit“ von kaum mehr als 20 Prozent.
Neuer Regierungschef erklärt Impfung zur Priorität
Sogleich nach Amtsübernahme erklärte der frisch gewählte Ministerpräsident Petkow plötzlich das Impfen zur obersten Priorität. Dazu gehörte beispielsweise seine Idee, als erstes den Grünen Pass auch für sämtliche Ministerien und für alle Parlamentarier verpflichtend einzuführen. Um das Parlament zu betreten, ist seit kurzem ein Impfnachweis erforderlich. In Voraussicht auf die geplante Demonstration am Mittwoch ließ Petkow jedoch verlauten, dass es keine allgemeine Impfpflicht in Bulgarien geben würde, so lange er Ministerpräsident sei. Die Halbwertzeit solcher Versprechen entspricht hier möglicherweise der in Deutschland.
Bereits im Vorfeld hatte der Vorsitzende der oppositionellen Partei „Wiedergeburt“ Kostadin Kostadinow, angesprochen auf einen obligatorischen Impfnachweis, um das Parlament betreten zu können, gesagt, dass man Mittel und Wege finden würde, ins Parlament zu gelangen – dafür hätten die gewählten Volksvertreter schließlich ihr Mandat. Dass seine Partei zum nationalen Protest ausgerechnet vor diesem in der bulgarischen Hauptstadt Sofia aufgerufen hatte, war also keine Überraschung, sondern nur folgerichtig. Kurz vor der Veranstaltung sah es nun so aus, als hätte man umgedreht Mittel und Wege gefunden, dass Kostadinow an der von seiner Partei organisierten Demonstration im Zentrum von Sofia nicht teilnehmen kann, und das kam so:
Am 10. Januar gab es eine Zusammenkunft des Nationalen Sicherheitsrates beim Präsidenten Rumen Radew, an dem auch Kostadinow teilnahm. Nach der Zusammenkunft hatte der Parlamentssprecher, der ebenfalls dem Treffen beiwohnte, plötzlich ein positives Corona-Testergebnis. Plötzlich deswegen, weil der Parlamentssprecher bis heute dieses Testergebnis trotz mehrmaliger Aufforderung nicht vorgelegt hat. Trotzdem begaben sich sämtliche Mitglieder der bulgarischen Regierung, die allesamt vollständig geimpft sind, nach dem Treffen beim Präsidenten sogleich in die Selbstisolation. Darüber hinaus forderten sie Kostadinow auf, es ihnen gleichzutun. Dieser hatte daraufhin einen Test gemacht, genau genommen zwei, einen Selbsttest und einen weiteren in einem Labor – beide waren negativ. Trotzdem wolle er sich an die Vorschriften halten, auch wenn er nicht mit ihnen einverstanden ist, und seiner eigenen Demonstrationen fernbleiben.
Für den landesweiten Protest wurden von der Partei „Wiedergeburt“ in den großen Städten 32 Busse organisiert, die sowohl von der Partei als auch aus Spenden der Protestierenden bezahlt waren. Da das „Grüne Zertifikat“ bisher eher nachlässig kontrolliert wird, war bis zum Schluss nicht klar, wie viele Bulgaren dem Aufruf folgen würden, auch angesichts von Temperaturen um den Gefrierpunkt.
Ich selbst habe nur wenige Tage zuvor ohne ein solches Zertifikat sowohl einen Technik- als auch einen Baumarkt betreten können. Im Technik-Markt hat mir die dortige Security-Mitarbeiterin sogar ausdrücklich den Zugang erlaubt, nachdem sie gesehen hatte, wie ich jemanden zum Einkaufen ins Geschäft geschickt habe. In Deutschland vermutlich ein Kündigungsgrund. Ein „Grünes Zertifikat“ bedeutet Geimpft oder Genesen, derzeit genügt auch (noch) ein negativer Test, der hier umgerechnet zwischen 10 und 20 Euro kostet.
Mehrheit der Bulgaren lehnt Impfpflicht und Grünen Pass ab
Geht es um den Grünen Pass und eine allgemeine Impfpflicht, ist die Partei „Wiedergeburt“ die einzige Partei im Parlament, die beides ablehnt, genauso wie eine große Mehrheit der Bulgaren. Dass sie die Partei nicht in dem Maße gewählt haben, liegt zum einen daran, dass viele Bulgaren dem demokratischen System traditionell misstrauen. Aber auch daran, dass die Partei „Wiedergeburt“ vor allem vom Ausland aus immer wieder diskreditiert wird. Deswegen gibt man meistens nur unter Freunden zu, sie gewählt zu haben. Ein ähnliches, für Bulgarien allerdings neues Phänomen, wie in Deutschland, wenn es um die AfD geht.
Der Bulgare hat von Hause aus keine Berührungsängste. Er spricht mit jedem, meistens etwas lauter, als wir es in Deutschland gewöhnt sind, und hört sich auch so manches an. Ganz genauso wie ich in meinem Taxi in Berlin, als es dort noch Fahrgäste gab. In meinem Taxi durfte ein jeder alles sagen, und ich habe es mir angehört. Ich erwähne das, weil es mich gelehrt hat, sehr gut zuzuhören und auch beim Lesen genau hinzuschauen. Zeit dazu hatte ich immer mehr.
Und so wundere ich mich seit langem über den Umgang mit der Sprache, beispielsweise bei Reuters und auch beim ZDF, wo im Zusammenhang mit der Partei „Wiedergeburt“ immer von „nationalistisch“, wenn nicht gar „ultranationalistisch“ die Rede ist. Aber was genau bedeuten diese Wörter, und wo ist der Unterschied? Ist das Intonieren der Nationalhymne, wie auch auf dem aktuellen Protest in Sofia geschehen, bereits „nationalistisch“, immerhin steckt das Wort „national“ in Nationalhymne, oder doch eher patriotisch? Und ist der Wunsch der Partei „Wiedergeburt“, wenn im Land nichts mehr funktioniert, weil ein Drittel der Landsleute im Ausland lebt, diese mögen in ihre Heimat zurückkehren, nationalistisch? Vor allem wenn man berücksichtigt, dass nicht jedes Land Menschen „geschenkt“ bekommt wie Deutschland.
„Ein Patriot ist jemand, der sein Vaterland liebt. Ein Nationalist ist jemand, der die Vaterländer der anderen verachtet“, so hat es der deutsche Bundespräsident Johannes Rau einmal formuliert. Auf der Demonstration am Mittwoch auf dem Platz vor dem Parlament in Sofia, auf der ich als Augen- und Zeitzeuge zugegen war, habe ich von einer solchen Verachtung nichts verspürt. Verachtung spüre ich dagegen von Geimpften gegenüber Ungeimpften, und zwar in Deutschland. Das Wort Verachtung tauchte in diesem Kontext neulich sogar in einer E-Mail an mich auf. Die bulgarische Nationalhymne enthält nichts dergleichen. Im Gegenteil, beim Protest am Mittwoch war das Ertönen der Hymne der Moment, der die Menschen dazu animierte, auf die eigenen Landsleute zuzugehen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen.
Gerne wird auch, geht es um die Partei „Wiedergeburt“, in westlichen Medien von „pro-russisch“ gesprochen. Auch diesen Begriff müsste man mit Inhalt füllen und Beweise anbringen. Beispielsweise für die Behauptung, sie wäre von Russland finanziert. Dass man aus der NATO austreten möchte, ist nicht automatisch „pro-russisch“. Auch nicht, dass man den Euro nicht einführen will. Viele Länder der EU haben bis heute ihre nationale Währung bewahrt.
Prinzipiell muss man wissen, dass es in Bulgarien schon immer diese zwei Ausrichtungen gab: „pro-westlich“ und „pro-russisch“. Was es auch gab in der bulgarischen Geschichte, waren Bevormundungen, einmal durch die Türken und später durch die Kommunisten. Der Name „Wiedergeburt“ der gleichnamigen Partei geht auf die Zeit der Befreiung von der türkischen Herrschaft zurück. Im Moment haben nicht wenige Bulgaren das Gefühl, allzu sehr von Brüssel bevormundet zu werden, so wie früher von Moskau.
Vom Kampf gegen Korruption zum Kampf für die Spritze
„Impfgegner“ ist gerade ein viel benutzter Begriff, auch bei Reuters und dem ZDF. Folgt man ihrer Logik, ist auch der amtierende Ministerpräsident Petkow ein „Impfgegner“. Als solche werden Menschen bezeichnet, die eine allgemeine Impfpflicht ablehnen. Also genau das, was Petkow seinen Landsleuten aktuell zusichert. Und er ist gut beraten, dies zu tun, denn laut einer Umfrage des großen privaten Fernsehsenders NOVA Ende letzten Jahres lehnen über 80 Prozent der Bulgaren die Einführung des Grünen Passes ab. Und nicht nur Novak Djokovic, der Tennisstar aus dem Nachbarland Serbien, ist nicht gegen Corona geimpft. In Bulgaren sind es über 70 Prozent der Bevölkerung. Warum Petkow, der sich gegen die Impfpflicht ausgesprochen hat, das Impfen trotzdem vorantreibt, für das Parlament einen Impfnachweis verlangt und darüber hinaus am verpflichtenden Grünen Pass festhält, verstehen viele Menschen hier nicht.
Vor der Wahl hatte für Petkows „Wir setzen den Wandel fort“ noch die Bekämpfung der Korruption oberste Priorität gehabt. Dafür wurde die Partei, die erst Wochen zuvor gegründet worden war, von Menschen gewählt, von denen sich einige heute auf der Straße wiederfinden dürften. Nicht wenige sind nämlich davon ausgegangen, dass der versprochene Wandel auch den Umgang mit Corona betrifft, also Abkehr vom Grünen Pass und Nein zur Impfpflicht. Kaum im Amt hat Petkow aber nicht als erstes Schritte zur Bekämpfung der Korruption unternommen, sondern plötzlich das Impfen, von dem im Wahlkampf seinerseits keine Rede war, zur obersten Priorität erklärt und sich in dem Zusammenhang mit Ursula von der Leyen getroffen.
Die deutsche Präsidentin der Europäischen Kommission hat große Mengen an Impfstoff für die gesamte Europäische Union bestellt, der Bulgarien seit 2007 angehört. Nicht wenige Bulgaren sehen im Impfen vor allem ein Geschäft, an dem sie – mal wieder – nicht beteiligt sind, auch wenn der genaue Wortlaut der Geschäftsverträge nicht bekannt beziehungsweise Seiten geschwärzt sind. Manche können sich sogar vorstellen, dass selbst in Sachen Korruption nur eine Globalisierung stattfindet, am Ende also eine lokale durch eine globale ersetzt wird.
Behörden stoppen Busse mit Demonstranten
Der nationale Protesttag am Mittwoch begann mit der Nachricht, dass einige dafür organisierte Busse von lokalen Behörden aufgehalten werden. Darunter auch der Bus aus Montana, aber nicht nur der. Auch die Busse aus Vraca, das sich ebenfalls im Nordwesten des Landes befindet, und aus Varna wurden gestoppt. Von Studentinnen aus der 500 Kilometer entfernten Stadt am Schwarzen Meer, mit denen ich neben vielen anderen auf der Straße zwischen dem Parlament und dem Denkmal „Zar Befreier“ spreche, erfahre ich, dass sie mit dem Auto angereist seien, um sicher zu gehen, heute hier dabei zu sein. So wichtig ist ihnen ihr Anliegen.
Trotz Temperaturen um den Gefrierpunkt ist der Platz vor dem Parlament gut gefüllt. Auch in den angrenzenden Straßen stehen Menschen, etwa 5.000 aus allen Altersgruppen, Männer und Frauen, haben sich versammelt, selbst Vertreter der Orthodoxen Kirche Bulgariens sind unter ihnen. Manche nutzen ihre Mittagspause, um vorbeizuschauen, nicht wenige tragen eine Fahne oder ein Plakat, beispielsweise mit der Aufschrift „Ohne Masken“, „Kein Grüner Pass“ und „Keine Impfpflicht“.
Eine Demonstrantin schwenkt die bulgarische Flagge | Bild: Rumen Milkow
Ein Demonstrant hält die bulgarische Verfassung hoch | Bild: Rumen Milkow
Polizisten ohne Kampfmontur | Bild: Rumen Milkow
Masken werden dagegen kaum getragen. Von den Demonstranten sind höchstens zehn Prozent Maskenträger, bei den Polizisten vielleicht doppelt so viele, wovon sich die Hälfte wiederum keine Maske sondern einen Schal gegen die Kälte ins Gesicht gezogen hat. Auch Abstände spielen keine Rolle. Niemand fordert irgendjemanden dazu auf, diese einzuhalten. Keine Gruppen behelmter Polizisten in Kampfanzügen stürmen aggressiv in die Menge, wie ich es nur allzu oft in Berlin erlebt habe, um eine Person ohne Maske aus dieser herauszuziehen. Wie auch, wenn sie selbst kaum Masken tragen. Es ist definitiv ein deutsches Phänomen.
Die Angst der Regierung vor dem Volk?
Die Polizisten hier tragen ganz normale Kleidung und keine Kampfausrüstung. Auf dem Kopf tragen sie Wollmützen aber keine Helme. Den ein oder anderen Schlagstock habe ich durchaus bei ihnen gesehen, aber nicht im Einsatz. Wasserwerfer gab es ebenfalls keine in der bulgarischen Hauptstadt. Es ist schon lange her, dass ich mich auf einer Demonstration so frei und unbedroht gefühlt habe. Selbst als es später zu Rangeleien kommt, gibt es ein menschliches Miteinander zwischen Protestierenden und Polizisten, das ich in Berlin immer vermisst habe. Die Polizisten dort in ihrer Kampfausrüstung, das Gesicht unter ihren Helmen versteckt, kamen mir immer öfter vor wie ferngesteuerte Roboter und emotionslose Kampfmaschinen. Alleine ihr Anblick hatte etwas bedrohliches, ihr Vorgehen war dort oft aggressiv und provozierend.
Die Forderungen der Protestierenden: keine Impfpflicht, insbesondere keine bei Kindern, kein verpflichtender Grüner Pass, also auch kein Impfnachweis im Parlament, und Beendigung aller nicht notwendigen Maßnahmen. Diese Forderungen werden von der Mehrheit im Land mitgetragen. Eine Umfrage des privaten Fernsehsenders NOVA später am Tag ergibt, dass über 70 Prozent der Bulgaren diese Forderungen von der Regierung umgesetzt sehen möchte. Dass sich die Regierung ausgerechnet aufgrund ihrer Selbstisolation nicht im Parlament befindet, ist für viele ein Affront, für manche eine Provokation, vor allem aber ein Ausdruck von Angst. Die Angst der Regierenden vor ihrem Volk.
Die Demonstranten auf der Straße sind dadurch nur noch entschlossener, als Souverän ihr Land einzunehmen. Was jetzt einsetzt, ist aber durchaus kein Sturm, wie in vielen westlichen Medien behauptet, sondern ein Schieben. Und zwar ohne Gewalt. Das „Massen-Schieben“ vor dem bulgarischen Parlament nimmt seinen Anfang, nachdem sich die Demonstranten zuvor umgedreht, dem Parlament zugewendet haben, und sich auf die Ordnungshüter vor dem Gebäude zubewegen, deren Reihen vorher verstärkt worden waren.
Kein Sturm, eher ein großes Schieben
Das große Schieben hat nichts von einem Sturm, sondern wirkt eher wie ein „Massen-Ringen“, bei dem sich die Akteure beider Seiten, die jeweils von hinten von ihren „Mitspielern“ in die „Arena“ geschoben werden, zum Teil weiter unterhalten und keine Spur von Hass auf ihren Gegenüber in den Augen haben.
Bevor es zu dem „Massen-Ringen“ kommt, spricht der Vorsitzende der Partei „Wiedergeburt“ Kostadinow aus der Quarantäne zu den Protestierenden auf dem Platz. Er ist dafür über einen großen Bildschirm zugeschaltet. Kiril Petkow, der amtierende Ministerpräsident, wird am Abend bedauern, in dieser schwierigen Situation aufgrund seiner Selbstisolation nicht zu seinen Landsleuten habe sprechen können. Viele Bulgaren, mit denen ich gesprochen habe, empfinden dies als Heuchelei.
Der angebliche „Parlamentssturm“ in Sofia ist kein Sturm, und es dringt auch niemand ins Parlament ein. Bei genauerem Hinsehen ist es vor allem ein Kampf um die Rangordnung, um die Mehrheit, und wer sie hat im Land. Es ist ein Kräftemessen, dessen Ziel es nicht ist, den Gegner zu verletzten oder gar zu töten, sondern ein Achtungszeichen, das man setzen möchte und der Hinweis auf eine Rote Linie. Fast könnte man sagen ein sportliches, faires Kräftemessen, wäre da nicht die ein oder andere mit Wasser gefüllte Plastikflasche und ein Dutzend Zwiebeln Richtung Parlament geworfen worden.
Laut offiziellen Berichten gab es vier verletzte Polizisten. Wie viele Protestierende verletzt wurden, ist nicht bekannt. Festgenommen wurde niemand. Zum Vergleich: In Berlin-Mitte gab es am Rosa-Luxemburg-Platz im letzten Jahr noch eine eigens eingerichtete „Verhaftungsstraße“, die mir als Berliner Taxifahrer trotz vieler Jahre auf der Straße bis zu diesem Zeitpunkt unbekannt war. Die Demonstranten, also die vermeintlichen Verlierer des Kräftemessens, werden hier in Sofia in der Regel friedlich und einzeln von der Polizei aus der „Arena“ begleitet. Einige wenige von ihnen, um gleich wieder dorthin zurückzukehren. Den meisten fehlt dazu nach dem „Massen-Ringen“ jedoch die Luft.
Abgeordnete verbarrikadieren Parlamentstüren
Dass die Demonstranten nicht ins Parlament eingedrungen sind, lag auch daran, dass es sich bei dem Glas an den Eingangstüren, bis zu denen sie vorgedrungen waren, um äußerst stabiles Material handelt. Vor allem aber lag es daran, dass die Türen von innen von den Abgeordneten, die sich zu diesem Zeitpunkt im Parlament befinden, mit Tischen verbarrikadiert worden waren. Einige Abgeordnete der Partei Kostadinows, darunter auch Frauen, versuchen diese Barrikaden von innen abzubauen, um den Souverän in sein Haus zu lassen, wie sie sagen, allerdings ohne Erfolg. Sie stellen nur 13 Parlamentarier und werden dementsprechend dort von der Mehrheit ihrer Amtskollegen und von Sicherheitskräften daran gehindert.
Nachdem klar war, dass der Versuch gescheitert ist, mit dem die Protestierenden vor allem ihre Entschlossenheit demonstrieren wollten, schlugen sie einen Dialog vor. Dazu bildeten sie eine Gasse mitten in der Menge der Teilnehmer zwischen dem Parlament zum Mikrofon am Reiterdenkmal des „Zar Befreier“, damit Volksvertreter oder ein Verantwortlicher der Polizei sicher dorthin gelangen können. Es wird immer wieder betont, dass man nichts gegen die Polizei habe, im Gegenteil. Die Polizisten sind im Normalfall ein Teil der Mehrheit, die die Dinge ähnlich sehen dürfte wie die Demonstranten. Auch dass Bulgarien ein zivilisiertes Land ist, das diesmal als Vorbild vor allem für die westlichen Staaten der EU vorangehen und einen Dialog eröffnen möchte, wird erwähnt.
Ein zivilisiertes Land, in dem gerne getanzt wird, so auch am Rande dieser Demonstration. Es herrscht durchaus eine ausgelassene Stimmung auf dem Platz. Wer sich nicht mit Tanzen die Zeit vertreibt, unterhält sich untereinander oder auch mit den Ordnungshütern. Das Angebot der Demonstranten zum öffentlichen Dialog wurde jedoch ausgeschlagen, sowohl von den Volksvertretern als auch von der Polizei. So kam es zu einem weiteren Versuch in Form eines erneuten „Massen-Ringens“ ins Parlament zu gelangen. Auch dieser blieb erfolglos.
Runder Tisch im Gesundheitsministerium
Daraufhin zogen die Protestierenden zum Sitz des Präsidenten – nach über drei Stunden in klirrender Kälte war da immer noch gut die Hälfte von ihnen auf der Straße. Dort tauchen zum ersten Mal Polizisten in Kampfausrüstung auf, aber nur wenige, nicht mehr als 30. Auch Präsident Rumen Radew wollte nicht mit den Protestierenden sprechen, denn er befindet sich in Selbstisolation. Diese zogen einen Block weiter zum Gesundheitsministerium, das Gesprächsbereitschaft signalisiert hatte. Vertreter der Demonstrierenden, darunter zwei anerkannte Ärzte saßen bald darauf mit der Gesundheitsministerin an einem Tisch im Ministerium.
Vor dem Gebäude standen auch wieder einige behelmte Polizisten. Diese wurden von den Demonstranten gebeten, ihre Helme abzusetzen, was diese auch taten, und was von den Demonstrierenden mit Applaus gewürdigt wurde. Das Gespräch mit der Ministerin wurde als Live-Stream sowohl im Internet als auch über Lautsprecher vor dem Gebäude übertragen. Man spricht am runden Tisch, der hier wie damals 1989 in der DDR ein großes Quadrat ist, allerdings meist aneinander vorbei. Aber immerhin, man spricht miteinander und hört dem anderen zu, lässt ihn ausreden.
Ministerpräsident Petkow, dessen Regierung keine Mehrheit im Land hinter sich weiß, hatte ebenfalls Gesprächsbereitschaft signalisiert, allerdings erst, wenn er seine Selbstisolation beendet hat. Immerhin, auch von höchster Stelle will man miteinander reden oder hat dies zumindest geplant, was ich mir auch für Deutschland wünsche. Also für meine erste Heimat, an die ich immer öfter denke, wo neuerdings sogar Spaziergänge verboten sind, und wo auf einer Gegendemonstration kürzlich ein Plakat mit der Aufschrift „Lieber Impf-Diktatur als gar keine Diktatur“ auftauchte. Eine Forderung, die in Bulgarien wohl auch keine Mehrheit finden würde.
Vor dem Gesundheitsministerium traf ich dann noch die Frau aus Montana. Ihr Bus wurde „nur“ eine knappe Stunde aufgehalten, hat es am Ende ebenso wie alle anderen Busse, die gestoppt worden waren, zur Demonstration geschafft. Auch wenn das mit dem Sturz der Regierung nicht geklappt hat, wirkte sie nicht unzufrieden mit dem Erreichten, vor allem mit der Teilnehmerzahl trotz der Kälte, wie viele andere auch, mit denen ich sprach. Es könnte ein Neuanfang sein. Vermutlich ist es aber nur der Anfang einer weiteren Demonstrationswelle.
Am Ende führt mich der Weg noch einmal am Parlament vorbei, das immer noch bewacht wird. Jetzt von mehreren Hundertschaften Polizei, diesmal in Kampfausrüstung, mit Helm und Schild, obwohl der Platz rings um das Reiterdenkmal nun fast menschenleer ist. Ein einzelner Redner des Protestes spricht noch, fünf Menschen hören ihm zu, vor ihnen das bewachte Parlament. Ein merkwürdiges Bild und ein skurriler Ausgang eines ereignisreichen Tages. Ich frage mich, ob so Gesprächsbereitschaft und Dialog aussehen.
Über den Autor: Rumen Milkow, Jahrgang 1966, Sohn eines Bulgaren und einer Berlinerin, ist geboren und aufgewachsen in Ostdeutschland, examinierter Krankenpfleger und trockener Berliner Taxifahrer sowie Radiomoderator a.D. („Hier spricht TaxiBerlin“ auf Pi-Radio); außerdem Verfasser von Kolumnen („Taxi-Times“), Online-Antiquar („TaxiBerlins BauchLaden“ bei Booklooker – ruht derzeit), Blogger, „Eselflüsterer“ und Herausgeber („Nach Chicago und zurück“ und „Bai Ganju, der Rosenölhändler“ des bulgarischen Klassikers Aleko Konstantinow).
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- Bulgarien – die große Freiheit (Rumen Milkow, 18.12.2021)
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