„Redaktionschefs identifizieren sich mit der politischen Leitlinie der Regierungsparteien“
TILO GRÄSER, 19. März 2021, 6 KommentareMultipolar: Wie ist das Vorgehen von Landesmedienanstalten gegen unabhängige Online-Medien einzuschätzen, die Letzteren vorwerfen, journalistische Standards nicht einzuhalten? In dem Zusammenhang hat bereits im April 2020 unter anderem der Vorsitzende der Direktorenkonferenz der Landesmedienanstalten, Wolfgang Kreißig, erklärt, der neue Medienstaatsvertrag ermögliche es, gerade in der Corona-Krise gegen Falschmeldungen vorgehen zu können. So erscheint das Vorgehen nicht zufällig.
Haller: Sie spielen offenbar auf einen Bericht im Deutschlandfunk von Mitte Februar an, dem zufolge unter anderem auch Beiträge auf dem Online-Portal KenFM verboten wurden. (Hinweis der Redaktion: Es wurden von den Landesmedienanstalten bislang keine Beiträge verboten, sondern sogenannte "Hinweisschreiben" versandt, in denen man angeblich fehlende Quellenangaben bemängelt hat.) War das rechtens? Soweit ich sehe, ist dieser Punkt noch nicht wirklich geklärt. Dem neuen Medienstaatsvertrag zufolge muss zwar jeder, der aktuellen nachrichtlichen Stoff anbietet, egal ob als Blogger oder Betreiber einer Facebook-Seite, die journalistischen Sorgfaltspflichten einhalten. Wie dies aber praktisch gesichert werden soll, ist unklar. Vielleicht entsteht ein Gremium, das für die Qualitätssicherung zuständig sein wird. Solange dies noch ungeklärt ist, erscheinen mir die Äußerungen von Herrn Kreißig übergriffig.
Multipolar: Droht hier etwas gegenüber regierungskritischen Medien, was es laut Artikel 5 Grundgesetz nicht geben darf, wo es heißt: „Eine Zensur findet nicht statt“?
Haller: Das darf nicht passieren. Darum ist es wichtig, dass die Medienjournalisten, aber auch kritische Beobachter – ich denke neben den Journalisten auch an NGOs und Juristen – sehr genau hinschauen, ob und wie die Landesmedienanstalten ihre neue Kontrollfunktion handhaben. Und ihnen gegebenenfalls auch mit rechtlichen Mitteln auf die Finger hauen, wenn sie Artikel 5 des Grundgesetzes missachten.
Multipolar: Aber was ist der Unterschied zwischen einem „Gremium für Qualitätssicherung“ und einer Zensurbehörde? Ist es aus Ihrer Sicht legitim, dass eine Behörde oder Institution, die nachgewiesenermaßen kaum staats- oder politikfern ist, journalistisches Arbeiten überwacht und kontrolliert? Wer legt die Kriterien dafür fest? Sollten offensichtliche Streitfälle nicht von unabhängigen Gerichten entschieden werden?
Haller: Ich glaube an die Idee der Selbstregulierung durch Gremien, die von journalistischen Akteuren und Betreibergruppen getragen werden. Wir brauchen Einrichtungen, die den zivilgesellschaftlichen Anspruch der Deliberation verkörpern. Nehmen Sie zum Beispiel den Presserat, der seinerzeit lächerlich gemacht wurde als „zahnloser Tiger“, weil er im Unterschied zum Gesetzgeber und der Rechtsprechung über keine „harten“ Sanktionsmittel verfügt und von daher auch nichts unterdrücken kann. Tatsächlich bleibt vieles von dem, was er moniert, unbeachtet, vor allem bei den marktaggressiven Haudrauf-Medien wie etwa der Bild-Zeitung. Doch aufs Ganze gesehen hat der Presserat im Laufe der letzten vierzig Jahre wesentlich dazu beigetragen, dass berufsethische Normen und handwerkliche Regeln heute deutlich ernster genommen werden. Was die Internetmedien betrifft, so könnte dort ein ähnlicher Prozess in Gang gesetzt werden. Ich weiß, das ist bis zu einem gewissen Grad Wunschdenken, weil hier viele Medienanbieter wegen der brutalen Vermarktungszwänge mit ähnlich harten Bandagen um Aufmerksamkeit, also um Reichweite kämpfen wie früher nur die vom Straßenverkauf abhängige Boulevardpresse.
Multipolar: Gibt es zeitgleich ähnliche Aktivitäten anderer Aufsichtsgremien, wie der Rundfunk- und Fernsehräte im öffentlich-rechtlichen Bereich oder des Presserates im Printsektor, die jeweils in ihrem Verantwortungsbereich aufgrund vermeintlicher und tatsächlicher Verstöße die Einhaltung journalistischer Standards anmahnen?
Haller: Soweit ich sehe, funktionieren die Kontrollgremien im privatwirtschaftlichen Bereich eher im Sinne einer Abwehr von Eingriffen und insofern zur Stärkung der Pressefreiheit. Im öffentlich-rechtlichen Bereich sind die Dinge komplizierter, vor allem, weil ja die Arbeit der Fernseh- und Rundfunkräte politisch beeinflusst wird. Was die weite Welt der Social Media betrifft, so steckt hier das Problem weniger beim journalistischen Content als in der Flut der „inzivilen“ Äußerungen von Personen und Gruppen, die mit ihren Hassreden das Debattenklima vergiften, für Polarisierung sorgen und so das Wertegefüge zerstören. Immerhin sind jetzt dank des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes die kontrollierenden Beobachter – NGOs und Landesmedienanstalten sowie die einschlägigen Strafverfolger – sehr viel aktiver als noch vor ein paar Jahren.
Multipolar: Sie befürworten des Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG), dem viele Kritiker vorwerfen, dass es zu vorauseilender Zensur seitens der großen Internetplattformen gegenüber kritischen Aussagen von Nutzern geführt hat?
Haller: Unterm Strich: ja. Es geht um die heikle Güterabwägung zwischen der Meinungsäußerungsfreiheit und dem Schutz der Persönlichkeitssphäre. Und aus meiner Sicht geht es derzeit vor allem um die Sanierung des öffentlichen Diskurses, ich meine damit die Möglichkeit gelingender Verständigung als Kerngedanke der Deliberation. Sie ist ein höheres Gut als die Gelegenheit, Andersdenkende aus Frust und mit Aggressionen zu attackieren. Wir haben vor einem Jahr eine größere Studie zum Thema „Hate Speech“ und NetzDG durchgeführt. Wir konnten keinen Fall finden, bei dem eine inhaltliche Zensur ausgeübt wurde – unter der Prämisse allerdings, dass die Netzdebatten auf dem Boden unserer Grundwerte verbleiben, dass also zum Beispiel der Aufruf zum gewaltsamen Umsturz der Demokratie oder zur Vergewaltigung missliebiger Politikerinnen verboten gehören. Solche Maßnahmen sind nach meinem Verständnis keine Zensur, sondern ist Selbstschutz des Rechtsstaates im Licht seiner Werteordnung.
Multipolar: Es gibt seit langem deutliche Zweifel an der geforderten Politik- und Staatsferne solcher Aufsichtsgremien im Medienbereich, die unter anderem mit personellen Vorgängen begründet werden. Wie sehen Sie das? Sie haben selbst 2019 deutliche Zweifel an der Politikferne der öffentlich-rechtlichen ARD und ZDF geäußert.
Haller: Wir beobachten eine widersprüchliche Situation. Zum einen halten sich die öffentlich-rechtlichen Redaktionen für weitgehend staatsunabhängig. Und es scheint, als habe sich seit dem Bundesverfassungsgerichtsurteil von 2014 gegen das ZDF auch einiges zum Besseren gewandelt. Zum andern aber argumentieren viele Redaktionschefs mit derselben politischen Haltung wie die rotgrünschwarzen Politiker der Großen Koalition. Sie identifizieren sich mit der politischen Leitlinie der Regierungsparteien. Ein Beispiel unter vielen war die kritiklose Übernahme des organisch-biologischen Gesundheitsbegriffs, wie er von der Merkel-Spahn-Regierung als Maxime vorgestellt wurde und der die allzu simple Lockdown-Politik legitimiert.
Multipolar: Was meinen Sie mit „organisch-biologischem Gesundheitsbegriff“? Was stört Sie daran?
Haller: Ich meine damit, dass die Regierung Messwerte, die dem System „PCR-Test“ angehören und artefaktische Statistikaussagen – zum Beispiel die 14-Tage-Inzidenz – generieren, als alleinigen Grund anführt, um verheerende Maßnahmen zu rechtfertigen. Diese bewirken bei sehr vielen Menschen psychische Krankheiten und psychosomatische Beschwerden. Und sie beschädigen die seelische Gesundheit Heranwachsender nachhaltig. Hätten die Leitmedien von Beginn an einem ganzheitlichen Gesundheitsbegriff das Wort geredet und die Politik in diesem Sinne unter Druck gesetzt, wäre unsere Gesellschaft heute in einer relativ besseren Verfassung, so bin ich überzeugt. Nun aber zurück in die Medienwelt.
Multipolar: Es entsteht der Eindruck, dass durch ein Vorgehen wie dem der Landesmedienanstalten, aber auch dem großer Plattformkonzerne wie Facebook und Google unter dem Etikett „Kampf gegen Fake News“, gewissermaßen im Regierungsauftrag kritische Stimmen ausgeschaltet werden sollen. Es gibt zumindest Hinweise aus anderen Ländern wie Großbritannien, dass ein solches Vorgehen Teil einer zielorientierten Kampagne ist, um den Kurs der Regierung in der Corona-Krise möglichst widerspruchsfrei durchzusetzen. Was wäre eine bessere Antwort auf Kritik und Zweifel an der Corona-Politik?
Haller: Zum Programmauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks gehört, dass auch regierungskritische Stimmen gehört werden. Dies gilt insbesondere für die Nachrichtenformate, die zu aktuellen Problemen verschiedene Positionen abzubilden und diskursiv zu erörtern hätten. Die vielen Sondersendungen und rund zweihundert Talkrunden, die zum Thema Corona-Pandemie ausgestrahlt wurden, zeigen dem gegenüber einen sehr schmalen Meinungskorridor. Natürlich kam es auch zu Debatten und Kontroversen, doch diese betrafen meist nur Detailfragen bei der Umsetzung: ob die Inzidenzschwelle bei 35, 50 oder 85 liegen sollte, ob jetzt die Grundschulen für welche Jahrgänge geöffnet werden oder nicht, ob man beim Joggen die Maske tragen muss oder nicht und solche Sachen. Nehmen Sie als Sinnbild die Klimapolitik: Stellen Sie sich vor, in den Talkrunden würde nur darüber gestritten, ob der neue SUV von BMW wirklich weniger Sprit verbraucht als derjenige von Daimler – statt darüber zu diskutieren, wie man den Gebrauch von Autos mit Verbrennungsmotoren in den Städten generell untersagen könnte. Die Zuschauer, vielleicht auch die Intendanten wären empört.
Multipolar: Wie schätzen Sie die Entwicklung ein, dass unabhängige Online-Medien wachsenden Zuspruch bekommen, unter anderem, weil immer mehr Menschen sich von den etablierten Medien, ob privat oder öffentlich-rechtlich sich nicht mehr ausreichend informiert fühlen? Gleichzeitig sind laut Umfragen die kritischen Haltungen gegenüber den etablierten Medien relativ hoch. Werden diese ihrer gesellschaftlichen Verantwortung nicht mehr gerecht, gerade in der Corona-Krise?
Haller: Da müssen wir unterscheiden, um welche Medienfunktionen es gehen soll. Die erste und wichtigste ist die Informationsfunktion. Und diese erfüllen aus Sicht des Publikums die öffentlich-rechtlichen Informationssendung gerade in den Corona-Zeiten sehr gut. Dies belegen alle mir bekannten Erhebungen. Und die Reichweite dieser Informationssendungen ist derzeit höher denn je: Rund vier Fünftel der Erwachsenen nutzen diese Sendungen annähernd täglich. Man kann dies so interpretieren: Der weit überwiegende Teil der Bevölkerung möchte wissen, was die Entscheider in der Politik tun bzw. nicht tun. Und dafür sind die Informationsangebote der sogenannten Mainstreammedien ja auch gut, schließlich folgen sie hautnah der Berliner Politik.
Multipolar: Zugleich wenden sich erwiesenermaßen immer mehr Menschen unabhängigen Online-Medien zu, fühlen sich immer mehr nicht ausreichend von den etablierten Medien informiert …
Haller: Die von Ihnen genannten „unabhängigen Online-Medien“ können die Informationsfunktion nicht erbringen, sie beziehen sich ja meist auf diese Leistung der Mainstreammedien. Sie wüssten sonst gar nicht, was sie kritisieren oder konterkarieren sollten. Generell gilt ja, dass sich jede fundierte Meinung auf zuverlässige Nachrichten stützt. Dies ist aus meiner Sicht der Hauptunterschied zu Vorurteilen und Behauptungen: Die basieren nicht auf Fakten, sondern auf Überzeugungen oder Weltanschauungen. Das Misstrauen vieler Bürger und Bürgerinnen betrifft also weniger die Informationsleistung als vielmehr die Meinungen und Kommentare in vielen journalistischen Medien, weil sie als Stimmungsmache erlebt werden. Man trifft aber auch auf viele Medienkritiker, die ihre Kritik nicht auf Tatsachen, sondern auf Behauptungen stützen. Und hier setzt nun meine Kritik an vielen sogenannten alternativen Medien an: Von denen werden vielfach Behauptungen im Ton der Sachdarstellung aufgestellt, tatsächlich aber vorgefasste Ansichten bekräftigt. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Da gibt es viele Leute, die aus psychischen Gründen keine Schutzmaske tragen wollen oder können. Viele von ihnen sind eifrige Leser der Blogs, welche das Maskentragen als schlimme Disziplinierungsmaßnahme der autoritären Merkel-Regierung verteufeln. Die sagen dann: Also es stimmt, das ist wirklich schlimm! Statt einfach zu sagen, dass es für sie persönlich unerträglich ist, eine Maske zu tragen, egal, wie gut die Maske vor Ansteckung schützt.
Multipolar: Wenn Sie „unabhängig“ in Anführungszeichen setzen: Halten Sie leserfinanzierte kritische Medien allgemein nicht für unabhängig? Zudem klingt das, als würden Alternativmedien lediglich auf den Mainstream reagieren oder sich an ihm abarbeiten. Aber gerade in der Corona-Krise haben einige Alternativmedien das getan, was eigentlich Aufgabe der etablierten Medien gewesen wäre und was auch Sie einfordern: Recherchieren, Infragestellen, Nachhaken, Aufklären – und auch Informieren, über das, was in den etablierten Medien weggelassen wird. Zeigt nicht das Thema Masken beispielhaft, dass wichtige Informationen wie auch kritischen Sachdebatten in vielen etablierten Medien ausbleiben?
Haller: Wir reden hier aneinander vorbei. Ich sprach von der Informationsfunktion, die tagtäglich in voller Breite erfüllt werden sollte und die von den Alternativmedien nicht geleistet werden kann – die wenigen Ausnahmen bestätigen die Regel. Aber es stimmt, dass beim Thema Corona diese Informationsfunktion von den Leitmedien über lange Zeit nur im Sinne der Regierungspolitik eingelöst wurde. Auf dieser Informationsverarbeitungsebene konnten und können die Alternativmedien aber leider kaum mithalten – wie denn auch! Aber sie können übergangene Vorgänge hervorholen und kritischen Medienstimmen Gehör verschaffen, wie Sie es mit dem Magazin Multipolar ja auch tun.
Multipolar: Aber warum sprechen Sie von „unabhängig“ – eben in Anführungszeichen?
Haller: Wir sollten hier genau hinschauen und fragen: Wie definieren wir „unabhängig“, und welche Alternativmedien sind in unserem Sinne wirklich „unabhängig“? Die Anschlussfrage lautet: Welche Alternativmedien haben hier zu welchen Vorgängen eine lupenreine Rechercheleistung abgeliefert? Mir scheint, die meisten Alternativmedien verbinden mit „alternativ“ eine dezidierte Sichtweise und reden mit Leuten, die diese Sichtweise bekräftigen und die es bezeichnend finden, dass diese Sicht in den etablierten Medien nicht zu Wort kam und kommt. Im Übrigen finde ich gerade in Alternativmedien viele Beiträge, die wie Berichte verfasst sind, aber in die Welt der Meinungsäußerung gehören, weil sie Faktisches und Vermutetes und Unterstelltes durcheinandermischen. Um konkret zu werden: Nennen Sie mir die Alternativmedien, die mit aufdeckenden Rechercheleistungen Licht ins Dunkel der Coronapolitik gebracht haben. Ich würde Ihnen dann ein paar aufdeckende Recherchen aus der als Mainstreamblatt verlachten Zeitung „Die Welt“ entgegenhalten. Vielleicht wird ja die journalistische Medienwelt wieder ein bisschen vielfältiger als noch vor einem Jahr.
Multipolar: Der Münchner Kommunikationswissenschaftler Michael Meyen hat im November 2020 festgestellt, dass die Medien in der Corona-Krise zur Spaltung in der Gesellschaft beitragen, unter anderem in dem sie Einzelne oder Gruppen von Menschen für die Ausbreitung des Corona-Virus verantwortlich machen.
Haller: Ihre Formulierung ist ein kleines Beispiel für das, was ich eben angesprochen habe. Was Meyen sagte, war keine Feststellung, also kein Sachverhalt, sondern eine Hypothese. Die lautet, anders formuliert, etwa so: Vieles spricht dafür, dass die Art und Weise, wie die Mainstreammedien – weiß Gott nicht alle Medien! – regierungskritische Positionen ausgegrenzt beziehungsweise übergangen haben, die Spaltung in der Gesellschaft verstärkt. Und ja: Das kann so sein, und vieles spricht dafür, wie ich schon ausgeführt habe. Empirisch untersucht wurde diese These indessen noch nicht.
Multipolar: Sie haben kürzlich in einem Beitrag im „Tagesspiegel“ von Medien und Journalisten in der Corona-Krise mehr Aufklärung statt Gesinnung eingefordert. Warum?
Haller: Mein Beitrag richtete sich gegen die Meinung von Politikjournalisten, die Medien sollten die Politik der Regierung bestätigen und verbreiten, weil sie quasi alternativlos sei. Diese Auffassung wäre jedoch purer Gesinnungsjournalismus, der nicht aufklärt, sondern – zu Ende gedacht – nur Propaganda bedeutet. Demgegenüber hat der Journalismus den Auftrag, aus unabhängiger Sicht über Politik zu berichten und diese kritisch zu beleuchten. Zudem sollte er wichtige Vorgänge und Entscheidungen, die im Verborgenen blieben, durch Recherchen aufdecken und darüber aufklären. Übrigens war es das Bundesverfassungsgericht, das dem Journalismus vor einem halben Jahrhundert diese Aufgaben zugeschrieben hat. Und gelegentlich klappt es ja auch, siehe CumEx oder Wirecard-Skandal.
Multipolar: Im April 2020 haben Sie von einem „großen Hunger nach Aufklärung“ in der Bevölkerung geschrieben. Nun haben Sie mit Ihren Kollegen vom EIJK festgestellt, dass die etablierten Medien in der Corona-Krise „zu oft einseitig und tendenziös“ berichten. Warum ist das so, warum wird dieser Hunger nach Aufklärung von den etablierten Medien nur unzureichend gestillt?
Haller: Dafür gibt es viele Gründe, mehrere haben wir ja gerade besprochen. Zu diesen hinzu kommt die personelle Ausdünnung vieler Printredaktionen, die zulasten der Recherchearbeit geht. Oder die Neigung vieler Medienleute, lieber irgendeine gefühlsstarke Geschichte zu erzählen, möglichst in der Ich-Form, statt mühsame Faktenbeschaffung und -überprüfung zu betreiben. Oder die fachliche Überforderung vieler Newsredaktionen bei dem sehr komplizierten Thema Covid-19. Viele haben falsch berichtet, viele mussten sich auf Erklärungen von Fachleuten verlassen, die ihrerseits oft mehr sagten als sie wussten. So kam es, dass auch seriöse Redaktionen oftmals Vorurteilen folgten, statt aus kritischer Distanz nachzufragen.
Multipolar: Macht sich mangelnde Politikferne von Journalisten und Medien, die unter anderem Uwe Krüger für meinungsführende Journalisten im außenpolitischen Bereich festgestellt hat, indem er Vernetzungen der Akteure aufdeckte, auch in der Corona-Krise bemerkbar?
Haller: Ja, ich denke schon. Allerdings sollte man mit bedenken, dass wir alle – die Medien vorneweg – große Probleme im Umgang mit Ungewissheit haben. Und das Thema Corona-Pandemie war, ist und bleibt beängstigend. Leider agieren die Zuständigen in Berlin eher hektisch als besonnen und verstärken die Ungewissheit. Offenbar wollen sie ihr Nichtwissen und Nichtkönnen mit viel Rhetorik und ziellosem Aktionismus verdecken.
Zum Interviewpartner: Prof. Dr. phil. Michael Haller, Jahrgang 1945, leitet das Europäische Institut für Journalismus- und Kommunikationsforschung (EIJK) in Leipzig. Bis zu seiner Emeritierung 2010 hatte er an der Universität Leipzig den Lehrstuhl für Journalistik inne. Zuvor war er leitender Redakteur in verschiedenen Pressemedien im In- und Ausland, darunter beim SPIEGEL und der ZEIT. Er ist Autor mehrerer Journalismus-Standardwerke, darunter „Methodisches Recherchieren“ und „Die Reportage“ und ist Gründungsherausgeber der Internationalen Fachzeitschrift für Journalismus „Message“.
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