Mensch und Natur
WILFRIED NELLES, 17. April 2022, 5 Kommentare, PDFIm Juli 2021 wurde die Eifel von einer „Jahrtausendflut“ heimgesucht. An den Flüssen Ahr, Erft und Urft schwammen Autos wie Spielzeuge durch die Gegend, aus kleinen Bächlein wurden reißende Ströme und hunderte Meter breite Seen, Bahndämme und Gleise, hunderte Jahre alte Brücken und Häuser aus dickem Bruchstein wurden weggerissen, Dörfer und Kleinstädte wurden fast komplett zerstört, viele Menschen ertranken, eine Leiche wurde bis ins 300 Kilometer entfernte Rotterdam getrieben. Auch ein halbes Jahr später waren Schutt und Müll trotz unermüdlichen Einsatzes mit großen Maschinen noch nicht ganz weggeräumt und die betroffenen Häuser noch (lange) unbewohnbar. Die Bahnstrecken durch die Eifel werden erst in einigen Jahren wieder in Betrieb gehen können.
In den Tagen danach war es wie immer, wenn etwas Schreckliches passiert ist: Nach dem Entsetzen kommt die Schuldfrage. Wer oder was hat versagt, wer ist schuld? In diesem Fall war sich die veröffentlichte Meinung ziemlich einig: der Klimawandel. Dazu noch die üblichen Verdächtigen: fehlende oder nicht funktionierende Warnsysteme, schlechter Katastrophenschutz, schlechte Eingriffe in die Natur (Flussregulierung, Versiegelung etc.) sowie dieser oder jener Politiker, der nicht rechtzeitig eingegriffen hat. Natürlich: Abgesehen davon, dass man es hinterher immer besser weiß – Menschen machen Fehler, und den einen oder anderen Fehler kann man abstellen. Daher kann und sollte man immer fragen, was man aus einer Katastrophe lernen und was man besser machen kann. Aber Schuld?
Ich wohne in der Gemeinde Nettersheim, allerdings nicht im Talort Nettersheim, sondern im vier Kilometer entfernten Marmagen, das auf einem Hochplateau liegt. Hier war sozusagen das Epizentrum der Niederschläge und der Flut. Die Flüsse oder Bäche, in deren Tälern es zu den schlimmsten Zerstörungen kam, die Ahr, die Erft und die Urft sowie etliche kleine Nebenbächlein, entspringen alle in einem Umkreis von zehn Kilometern rund um Nettersheim. Was ich wahrgenommen habe, war: Es regnete zwei Tage und Nächte fast ununterbrochen, zumeist sehr, manchmal auch weniger stark, aber ein richtiges Unwetter, eine „Wetterkatastrophe“, schien es eigentlich nicht zu sein. Es war fast windstill. Tatsächlich habe ich gedacht: Der Wetterdienst übertreibt mal wieder.
Durch Nettersheim fließt das kleine Flüsschen Urft. Die Urft entspringt zehn Kilometer oberhalb und ist im Ort normalerweise etwa 20 bis 40 cm tief und drei bis fünf Meter breit. Am Naturzentrum Eifel, das direkt am Fluss in einer breiten Aue liegt und eineinhalb Meter unter Wasser stand, lassen Lehrer Grundschulkinder im Bach nach Fischen und anderen Tierchen und besonderen Steinen suchen und spielen. Das Flussbett ist in der Ortsmitte rund drei Meter tief, bei sehr starkem Hochwasser – meistens bei der Schneeschmelze mit starkem Regen – ist es randvoll oder läuft an flacheren Stellen über. Letzteres war in den zwanzig Jahren, die ich dort arbeite (wir führen im Naturzentrum Kurse durch), einmal der Fall.
Die Urft ist hier auch weder begradigt noch ist die Landschaft drum herum versiegelt – sie fließt ganz natürlich durch Wald und Wiesen. Jetzt stand das Wasser in der Talsohle im Dorf zwei Meter über den Ufern; insgesamt war die Urft also, anstatt 20 bis 40 Zentimeter, bis zu fünf Meter hoch, mehr als das zehnfache des normalen Pegels. Zum Vergleich: Der Rheinpegel in Köln liegt normalerweise um die drei Meter. Er müsste also auf rund 30 Meter, dreimal so hoch wie bei den Höchstständen (ca. 10 Meter) der letzten 200 Jahre, steigen, um ein vergleichbares Hochwasser hervorzubringen. Da die Urft hier noch ganz jung ist und kaum Wasser aus Nebenflüssen aufgenommen hat und das Tal in den bebauten Gebieten in Nettersheim recht breit ist, ist der Ort vergleichsweise glimpflich davongekommen – abgesehen davon, dass drei Menschen ertrunken sind. Einer der Ertrunkenen wollte zwei durchnässte Wanderer mit seinem Jeep in seine Waldhütte bringen und wurde auf der Rückfahrt einfach samt Auto weggespült, so schnell ging alles.
Kurz gesagt: Fehlende Vorwarnungen oder „Sünden“ beim Landschafts- und Gewässerschutz hin oder her: Einer Warnung über das hinaus, was tatsächlich getan wurde, hätte wohl kaum jemand geglaubt, und es hätte auch wenig an dem geändert, was geschehen ist. Das gilt auch für die stärker betroffenen Orte, die teils an viel kleineren Bächen liegen. Dass in Bad Münstereifel hunderte Jahre alte Brücken und Mauern weggespült und die Jahrhunderte alte Altstadt völlig verwüstet werden würde, liegt jenseits von allem, was man sich vorstellen konnte. Weder dort noch an der noch stärker betroffenen unteren Ahr hätten die Menschen freiwillig ihre Häuser verlassen, und kein Landrat oder Bürgermeister oder Katastrophenschutz hätte die Zerstörungen verhindern können. Bleibt der Klimawandel als Ursache, und da er, wie alle „wissen“, menschengemacht und durch CO-2-Ausstoß (vulgo: durch Autos mit Benzin- und Dieselantrieb und Kohlekraftwerke) verursacht ist, ist der Mensch beziehungsweise die Art seines Wirtschaftens daran schuld. So die „grüne“ (womit ich keine politische Partei meine, gefühlsmäßig und in unserem Denken sind wir ja alle „grün“) Legende. Tatsächlich wissen wir wenig.
Niemand ist schuld
Ich vertrete hier eine andere These: Niemand ist schuld. Es ist einfach geschehen, und nichts und niemand konnte es verhindern. Es kann – sei es in einem, in zehn, in hundert oder in fünfhundert Jahren – wieder geschehen. Ebenso beim Klimawandel: Er geschieht einfach, und nichts und niemand kann ihn mehr verhindern. Vielleicht sind wir erst am Anfang, vielleicht schon mittendrin, womöglich sogar schon nahe an einem Kipppunkt, wo alles so schnell geht und die Folgen so gewaltig sind (in den Dimensionen – weltweit – natürlich viel gewaltiger), wie es jetzt bei der Flut war, so dass man nicht mehr reagieren und sich schützen kann. Das würde auch heißen, dass es den jetzt lebenden Menschen gar nichts nützten würde, wenn der weltweite CO-2-Ausstoß noch in diesem Jahr auf null gestellt würde, denn die nächsten hundert Jahre wird der Klimawandel nicht zu stoppen sein, es sei denn, außermenschliche Faktoren bringen ihn zum Stillstand oder zu einer Umkehr (dann fürchten wir uns vor der kommenden Eiszeit). Und es würde heißen, dass ganz andere Dinge notwendig sind als klimapolitische Maßnahmen, die ihre Wirkung auch dann, wenn sie radikal sind und – was völlig utopisch ist – die ganze Welt mitziehen würde, frühestens in fünfzig Jahren zeitigen.
Es gibt nichts Festes
Vor einigen Jahren war ich mit meinem Schweizer Freund und Kollegen Ruedi in den Bergen. „In der Schule“, sagte er, „haben wir gelernt, dass die Alpen nicht immer da waren, sondern vor sehr, sehr langer Zeit durch Faltung entstanden, sozusagen gewachsen sind. Ich fange aber jetzt erst ganz langsam an zu begreifen, dass dies immer noch geschieht – die afrikanische Platte schiebt sich noch immer weiter unter die eurasische, und die Alpen wachsen immer noch.“ Ähnlich oder noch viel krasser ist es in der Eifel: Die erwähnten Schulkinder suchen nicht nur nach Kleingetier im Wasser, sondern in Steinbrüchen und auf Feldern auch nach Fossilien – versteinerten Fischen und Seetieren aus dem tropischen Meer, dessen Grund die heute immerhin bis zu 800 Meter hohe Eifel einst war. Der Boden um Nettersheim herum besteht zu großen Teilen aus Muschelkalk, also dem Material, das einst Muscheln waren (in der Südeifel ist dies durch Vulkangestein überdeckt). Möglicherweise wird man hier in 50 Jahren hervorragenden Burgunder anbauen können, denn auch die Hügel an der Cote D’Or, der burgundischen „Goldküste“ mit ihren Spitzenweinen, bestehen aus Muschelkalk.
Die Erde war und ist immer in Bewegung, und dies wird so bleiben, so lange sie existiert. Auch diese Existenz ist nicht ewig, die Erde wird vergehen wie alles, was entsteht und entstanden ist. Das gilt nicht nur für die Erde, es gilt für das gesamte Sein einschließlich des menschlichen Lebens: Es ist immer in Bewegung – mehr noch: es ist Bewegung, Leben ist nichts anderes als bewegtes Dasein, und das heißt: Es wandelt sich fortwährend. Und zwar ganz von selbst, ohne das geringste Zutun von uns Menschen.
Damit dies ganz klar ist: Damit bestreite ich nicht den menschlichen Beitrag zum Klimawandel und anderen Veränderungen und Umweltzerstörungen. Allein die Tatsache, dass heute fünfzehn Mal mehr Menschen die Erde bevölkern als vor 300 Jahren und zu allen Zeiten davor, trägt schon zu diesen Veränderungen bei. Zusammen mit seinen Haustieren und den Tieren, die er zu seiner Ernährung züchtet, macht der Mensch rund neunzig Prozent der Biomasse großer Tiere aus. Allein, also ohne die domestizierten Tiere, sind es noch dreimal mehr als die Biomasse der großen Wildtiere. Damit ist sein Einfluss auf die gesamte einstige Natur so groß geworden, dass viele Wissenschaftler das Zeitalter des Homo Sapiens als „Anthropozän“ bezeichnen. Allerdings: Wie groß er tatsächlich ist, weiß niemand. Im Spätmittelalter, als es noch keine Industrie gab, war die durchschnittliche Erdtemperatur um 1 bis 2 Grad höher, ohne dass die Welt untergegangen wäre, während es danach vom 15. bis ins 19. Jahrhundert in Europa eine „kleine Eiszeit“ gab, in der die Alpengletscher, deren Schwinden man jetzt beklagt, mehr wuchsen als in allen Epochen seit Ende der großen Eiszeit.
Was ist (heute) Natur?
Die Natur von einst gibt es nicht mehr. Nicht nur in dem Sinne, dass sie faktisch auf immer engere Gebiete zurückgedrängt ist, sondern auch und vor allem in dem Sinne, dass unsere gesamte Welt, unsere äußere wie unsere innere, geistige Welt, eine menschengemachte ist. Der Mensch hat sich spätestens seit der Entstehung der modernen Wissenschaft und der ihr folgenden Aufklärung und Industrialisierung zum Herrn der Erde aufgeschwungen. Die Rede davon, dass der Klimawandel „menschengemacht“ sei, ist im Grunde tautologisch. ALLES ist heute menschengemacht, selbst der Urwald.
Das mag verrückt klingen, gelten doch die Urwälder – neben Arktis und Antarktis – als die letzten rein natürlichen Refugien. Das sind sie aber längst nicht mehr. Spätestens in dem Moment, indem wir sie – nachdem sie geplündert wurden – „retten“ wollen, sind sie ein Objekt menschlichen Handelns, hat der Mensch sie und ihr Schicksal in seinen geistigen Griff genommen und wird (in seinem Selbstverständnis) für sie verantwortlich. „Was ist die Natur heute? Sie ist nicht mehr die Mutter, sondern das Sorgenkind des Menschen. (...) In eben dem Augenblick, wo die Natur geschützt werden muss, ist sie nicht mehr Natur im eigentlichen Sinn, und so ist es gerade der Naturschutz, durch den sich die ontologische Vernichtung der Natur, das heißt ihre Denaturierung, mit vollzieht“, schrieb Wolfgang Giegerich 1988 in seinem nach wie vor aktuellen Buch „Die Atombombe als seelische Wirklichkeit. Versuch über den Geist des christlichen Abendlandes“ (S. 18). Die Natur ist nicht mehr das, was den Menschen hervorbringt, ihn umgreift, trägt und wieder zu sich nimmt, nicht mehr das, was wir sind, sondern das, was wir be-greifen und dann im Griff haben und behalten müssen. Selbstverständlich sind wir dann auch „schuld“, wenn es unserem Griff entgleitet.
Physisch zeigt sich die Natur noch immer widerspenstig und macht uns oft einen Strich durch die Rechnung mit ihren „Naturkatastrophen“, die für die Natur überhaupt keine Katastrophen sind. Allein der Begriff „Naturkatastrophe“ zeigt, dass und wie sehr der Mensch alles auf sich bezieht. Denn die Natur hat unter der Flut überhaupt nicht gelitten. Was für uns schrecklich ist, ist für sie normal. Sie leidet auch nicht wegen des Klimawandels, denn Klimawandel ist immer. Ob Eiszeit oder Warmzeit – der Erde ist’s egal. Wie sehr viele Menschen jetzt auch materiell betroffen sind und wie schrecklich dies in jedem Einzelfall tatsächlich ist: die eigentliche Katastrophe betrifft – genau wie bei Corona – unseren Geist, der denkt, so etwas könne und dürfe nicht geschehen. Zumindest müsste man die „Ursachen“, das „Warum“ finden und es somit für die Zukunft verhindern können.
Das Unbegreifliche
Dass etwas nicht begreiflich ist, ist für uns unbegreiflich. Es ist in unserer inneren Haltung zur Welt und zum Leben nicht mehr vorgesehen. Wir kennen nur das, was wir wissen (genauer: zu wissen glauben) und das, was wir noch nicht wissen, das Bekannte und das noch nicht Bekannte. Dass es etwas geben könnte, das sich dem Zugriff unseres Geistes grundsätzlich entzieht, etwas Unerkennbares, kann und will das moderne Bewusstsein nicht mehr sehen. Es ist ein Tabu. Die Wissenschaft muss zwar zugeben, dass die Zahl und Tiefe der Rätsel und ungelösten Fragen umso größer wird, je mehr sie entdeckt, je weiter und tiefer sie sowohl in den Makro- als auch in den Mikrokosmos eindringt, aber die grundsätzliche Haltung und Erwartung, dass im Prinzip ALLES erklärbar sein müsste und es nur eine Frage der Zeit ist, bis wir auch die letzten Geheimnisse aufgedeckt haben, können wir nicht aufgeben. Denn dies ist das Versprechen der „Aufklärung“ und der Wissenschaft: alles ist prinzipiell erklärbar und dann auch prinzipiell beherrschbar. Die Einsicht, dass die Welt und das Leben letztlich ein Geheimnis sind und bleiben, wäre das Ende der modernen Welt.
Ich war am Tag nach der Flut in Nettersheim, weil ich sehen musste, ob wir die einwöchige Sommerakademie unseres Instituts, die einen Tag später beginnen sollte, durchführen können. Wir konnten natürlich nicht und mussten alles absagen, sie ist buchstäblich „den Bach runtergegangen“. Eine Woche lang war ich danach in einer Art Schockzustand – nicht innerlich von mir und meinen Gefühlen abgeschnitten wie bei einem tiefen Schock, aber doch geistig wie sediert und ohne Motivation. Es waren aber nicht die äußeren Dinge (die Zerstörungen oder unser finanzieller Verlust), die dies auslösten, sondern die Tatsache des Unbegreiflichen. Erst als mir dies bewusst wurde und ich mich innerlich damit versöhnt hatte, fühlte ich mich wieder normal.
Natur als Rohstoff
Geistig haben wir uns die Natur längst einverleibt – sie hat uns zu dienen und zu gehorchen. Sie hat uns zu dienen mit ihren Ressourcen, ihren Rohstoffen (zu denen auch die Tiere gehören). Die Verschmutzung und Überfischung der Meere interessiert uns nur insoweit, als sie unsere Lebensgrundlagen gefährden. Das Bienensterben (wie das Artensterben generell) berührt uns nicht wegen der Bienen, sondern wegen der Leistungen, die sie für uns erbringen, weil wir sie brauchen. Die Bienen selbst sind vielen von uns völlig egal. Das gilt für die gesamte Natur: Sie hat unserem Wohlbefinden zu dienen, ansonsten ist sie uns gleichgültig. Das gilt auch für viele „Naturfreunde“, die die Natur gerne genießen: Sie dient der Erbauung, dem Genuss, dem Kitzel – man will sie „erleben“. Nettersheim hat wegen seines vorbildlichen Engagements im Naturschutz etliche Preise gewonnen und schmückt sich mit dem Titel „Naturerlebnisdorf“. Jetzt haben wir die Natur erlebt.
Die wirkliche Natur wollen wir nicht. Dies zeigt sich auch in unserem Verhältnis zu uns selbst, zu unserem eigenen Natursein. Dass die Natur nicht nur um uns herum ist, sondern wir selbst Natur sind, haben wir völlig verdrängt. Wir wähnen uns darüber. Wir wollen unsere eigenen Baumeister sein. Wir nehmen unseren Körper und unser gesamtes Leben nicht mehr als etwas Gegebenes, sondern haben es geistig längst zu einem Projekt gemacht. Innerlich und mehr und mehr auch äußerlich sind wir zu unserem eigenen Projekt und Produkt geworden, das entworfen, geplant, durchgeführt und wie jedes industrielle Produkt hergestellt werden muss. Wir betrachten uns selbst und unser Leben wie die Güter, die wir produzieren, oder wie ein Haus, das wir nach unseren Bedürfnissen und Wünschen planen und dann bauen. Wie ein Architekt machen wir „Lebensplanungen“ und „Lebensentwürfe“, versuchen diese dann „umzusetzen“ oder zu „verwirklichen“ und erwarten, dass das dann auch gelingt. Wenn etwas anderes geschieht, sind das Katastrophen, und irgendwer oder irgendwas muss „schuld“ sein.
Inzwischen entwerfen und gestalten wir sogar unsere Körper – bis ins Innerste, bis zur Gestaltung unseres Geschlechts. Kindern muss per Dekret von oben von ihren Erziehern und Lehrern gesagt werden, dass ihr Geschlecht nichts Natürliches ist, sondern etwas kulturell Gemachtes, und dass sie es, wenn sie dies wünschen, ohne weiteres ändern können. Dass dabei dann doch massive Eingriffe in ihre (angeblich gar nicht existierende) geschlechtliche und körperliche Natur, ihre Biologie, notwendig sind, wird ganz einfach verdrängt. Anstelle der Bio-logie – der Logik, dem Gesetz des Lebens, der Logik der Natur – ist die Humanologie getreten. Alles hat sich der eigenwilligen Logik des Menschen, dem Anspruch des menschlichen Willens, zu beugen. Interessanterweise ist diese Haltung bei denen, die sich ökologisch oder „grün“ nennen und so fühlen, am tiefsten und härtesten: Jeder Verweis auf die menschliche Natur gilt hier als „biologistisch“. Kaum jemand hat weniger Respekt vor der Natur als die Grünen.
Die Natur: Unsere Quelle und unser Tod
Wenn jetzt dazu aufgerufen wird, den Kampf gegen den Klimawandel zu intensivieren, dann zeigt dies exakt unsere Geisteshaltung: Krieg gegen die Natur. Die Klimaaktivisten meinen zwar, sie würden für die Natur kämpfen, aber ihre Auffassung von Natur ist, wie bereits gesagt, längst denaturiert. Sie vertrauen ihr in keiner Weise. Es ist wie beim menschlichen Körper – die Erde wird wie der Mensch als Mechanismus, als Maschine oder „System“, aufgefasst, das im Sinne der Ich-Bedürfnisse zu funktionieren hat und das man deshalb regulieren und kontrollieren muss. Dass die Erde ein sich selbst regulierender Organismus ist, der sich fortwährend verändert und sich genau deshalb seit Urzeiten in einem dynamischen Gleichgewicht erhält, wird nicht mehr gesehen. Stattdessen glaubt man an die Rechenmodelle von Wissenschaftlern und an technische Eingriffe in dieses Gleichgewicht. Die Validität von Computermodellen haben wir gerade bei Corona gesehen, und die Folgen der darauf basierenden Eingriffe werden uns noch sehr lange beschäftigen.
Wohl gemerkt: Ich rede hier nicht gegen Maßnahmen, sich vor der Gewalt der Natur und den Wandlungen des Klimas besser zu schützen. Wenn wir überleben wollen, bleibt uns nichts anderes übrig. Ob Hochwasser, Stürme, Hitzewellen, Feuersbrünste, Erdbeben: Sie werden geschehen und wir müssen unsere Hausaufgaben machen. Genau wie bei Corona – wir müssen lernen, mit der Natur, mit dem Virus wie mit dem Klima, wie es nun mal ist und sich ändert, zu leben. Zu diesem Natursein gehört es, dass wir uns vor dem Sterben schützen und die Sterblichkeit zugleich sehen und anerkennen. Beides. Jedes Lebewesen schützt sich vor denen, die es fressen wollen, und zugleich gehört das Gefressen werden und das Vergehen zu seinem Leben, zu seinem Dasein als natürliches Lebewesen, untrennbar dazu. Leben bedeutet, sterblich zu sein. Wenn wir nicht mehr sterben wollen, können wir nicht mehr leben.
Das Kulturwesen Mensch ist und bleibt zugleich ein Naturwesen. Die Natur ist unsere Quelle und auch unser Tod. Sie ist noch immer unsere Mutter, auch wenn wir dies längst vergessen haben. Ohne ihre Brust und ihre Milch können wir nicht leben, und sie kann uns jederzeit verschlingen. Sie schenkt uns zwar das Leben, aber alles andere müssen wir ihr durch eigene Anstrengung abgewinnen. Es ist ein Geben und Nehmen. Wer sich im Winter nicht warm anzieht stirbt. Aber den Winter zu bekämpfen ist Wahnsinn.
Ich rede also nicht davon, nicht zu handeln und das Notwendige (das die Not Wendende) zu tun. Ich rede davon, wie, in welcher inneren Haltung wir handeln, von unserer Geisteshaltung. Davon, dass wir glauben, die Natur habe uns zu dienen und ansonsten brav zu sein wie ein Schoßhündchen; auch davon, dass wir nie alles verstehen werden. Die Wirklichkeit des Lebens bleibt uns vollkommen fremd und äußerlich, solange wir (nur) darüber nachdenken. Wir kommen mit dem Leben nur dann in Berührung, wenn wir uns davon berühren lassen. Diese Berührung ist manchmal wunderschön und manchmal schrecklich und schmerzhaft. Das eine lässt sich ohne das andere nicht erleben, entweder wir sind berührbar – und damit lebendig – oder nicht. Der Soziologe Hartmut Rosa spricht von Resonanz. Wenn wir sie verlieren, weil wir uns alles „verfügbar“ (Rosa) gemacht, alles in unseren Griff genommen haben, ist das Leben ein totes.
So sehr wir uns außen schützen mögen, innerlich sind und bleiben wir nackt und schutzlos. In der Wahrnehmung dieser Nacktheit und Schutzlosigkeit liegt paradoxer Weise unser Schutz. Denn sie sind unsere Wahrheit. Wenn man sie sieht, wird man ruhig und gelassen und handlungsfähig. Dann kämpft man nicht gegen das, was ist, sondern geht mit der Bewegung und tut das, was not tut. Das gilt auch für den Klimawandel.
Und ich rede davon, dass wir begreifen, dass alles, was wir schaffen, im Grunde nichts ist. Es kann uns jederzeit genommen werden, und es wird uns auch zu seiner Zeit – also zu einer Zeit und unter Umständen, die wir nicht bestimmen – genommen. Was immer wir tun, was immer wir aufbauen, wie immer wir uns schützen – es ist immer begrenzt, es ist nie von Dauer und nie absolut. Genau wie unser eigenes Leben. Es geht darum, von unserem hohen Ross zu steigen, unsere Winzigkeit zu sehen und im Bewusstsein dieser Winzigkeit zu leben, so lange es uns gegeben ist. Das wäre wirklich menschlich.
Die Flut könnte uns dies – ebenso wie Corona – lehren, wenn wir sie als Anlass zur Besinnung nehmen. Das Schockierende an ihr ist, dass sie uns unsere Nichtigkeit zeigt, die Nichtigkeit unserer Pläne, unserer „Sicherheit“, unseres gesamten Lebensgefühls. Es gibt nichts Festes, nichts Bleibendes. Die Menschen auf dem Land, vor allem die Bauern, wissen das noch, die in den Blasen der Medien, der Universitäten, des Kulturbetriebes und der Politik haben es – mit wenigen Ausnahmen – längst vergessen. Der moderne Glaube, wir hätten die Natur und das Leben im Griff, ist nichts als eine Luftblase. Alles, was wir haben, ist dieser Augenblick. Und auch den „haben“ wir nicht – er IST.
Über den Autor: Dr. Wilfried Nelles, Jahrgang 1948, ist Psychologe und Sozialwissenschaftler und leitet gemeinsam mit seinem Sohn Malte Nelles das „Nelles-Institut für Phänomenologische Psychologie und Lebensintegration“ in Nettersheim, Eifel und Berlin. Nelles ist Autor vieler Bücher, die in zehn Sprachen übersetzt wurden. In seinen letzten beiden Büchern „Die Welt, in der wir leben. Das Bewusstsein und der Weg der Seele“ und „Also sprach Corona. Die Psychologie einer geistigen Pandemie“ beschreibt er die Entwicklung des modernen Bewusstseins, das er als „Jugendbewusstsein“ bezeichnet, und die Sackgasse, in die dieses Bewusstsein die Menschheit führt, und skizziert Wege, die darüber hinaus in ein erwachsenes Bewusstsein führen.
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