London future sounds
PAUL SCHREYER, 9. Januar 2023, 3 Kommentare, PDFMein Vater war gelegentlich skeptisch, was technische Innovationen anging. Eine meiner frühen Kindheitserinnerungen ist der Besuch eines RFT-Fachgeschäftes Anfang der 1980er Jahre, wo mein Vater einen neuen Fernseher kaufen wollte. Der Verkäufer erwähnte, dass das angebotene Gerät, Marke Sanyo, über eine neuartige Fernbedienung verfügte, man also zum Umschalten der Sender nicht mehr extra aufstehen und zum Fernsehapparat laufen müsse. Meine Mutter war interessiert, doch mein Vater winkte ab: das brauche er nicht, die Fernbedienung könne gern im Laden bleiben. Erst auf nachdrückliches Drängen des Verkäufers – und des Restes der Familie – nahm er das in seinen Augen unnötige Accessoire doch noch widerwillig mit.
Und so dauerte es auch etwas, bis sich mein Vater nach dem Mauerfall 1989 entschloss, eine Satellitenschüssel für den Fernsehempfang zu erwerben – so wie praktisch alle Nachbarn es bereits vor ihm getan hatten. Erst 1994 war es bei uns so weit. Die Nutzung der eigens in den 1970er Jahren im Garten errichteten, gut zehn Meter hohen „Westantenne“ für den Empfang von ARD, ZDF und NDR (damals „N3“) wurde dadurch obsolet und der Antennenmast gefällt.
Die damit verbundene Programmerweiterung von fünf auf 50 Kanäle beschäftigte mich eine Weile, insbesondere der Empfang von MTV. Im Herbst 1994, als die Schüssel bei uns montiert wurde, war das noch nicht der deutschsprachige Sender – den es zu der Zeit noch gar nicht gab –, sondern das aus London in englischer Sprache sendende MTV Europe. Dort lief zwar, wie anderswo auch, der übliche Kommerz, zu später Stunde allerdings gelegentlich hintergründigere, künstlerischere und „undergroundigere“ Musik, etwa in der Sendung Party Zone am späten Samstagabend. Dort etablierte der gerade 24-jährige TV-Produzent James Hyman ein Schaufenster der seit 1990 aufblühenden Dance-Szene, die ihr Zentrum in England hatte. Präsentiert wurde energiegeladene elektronische Musik sowie experimentellere Klangcollagen, komponiert und produziert von zumeist britischen Musikern, die damals fast alle erst Anfang 20 waren und deren kreative Ausbrüche durch den Preisverfall bei Synthesizern und Samplern begünstigt wurden.
Doch es war nicht nur der günstige Zugang zu Instrumenten und digitalen Produktionswerkzeugen. Der eigentliche Drive dieser Musik wie auch der Szene, die sie entwickelte, speiste sich aus einem Zeitgeist, einer Mentalität, die mit dem Zusammenbruch des Eisernen Vorhangs in Europa zusammenhing, einem großen Aufatmen, einer Befreiung, die auch die Kreativität der meist erst angehenden Musiker aufblühen ließ. Es war die Zeit, in der auch die Love Parade in Berlin groß wurde. Deren Mitveranstalter Jürgen Laarmann erinnerte sich später so an das Jahr 1991:
„Ein superspannendes Jahr! Es war eine Zeit der Hoffnung und des Aufbruchs. Die Mauer war gefallen, Ost und West waren vereint, dauerhafter Weltfrieden schien möglich. Dieses Feeling löste einen regelrechten Kreativitätsschub aus. Woche für Woche kamen neue 12"-Platten heraus, mit einem neuen Sound, der den der Vorwoche toppte. Und es gab die ersten Partys zu dieser neuen Musik.“
Davon bekam ich damals, vierzehnjährig in einem Dorf in Mecklenburg-Vorpommern lebend, noch wenig mit. Meine Beschäftigung mit Musik beschränkte sich zu der Zeit auf den Mitschnitt von Radiomusik auf Audiokassette. Zwar strahlte die Aufbruchstimmung der elektronischen Musik damals auch auf die größere Pop-Welt aus – etwa beim gefälligen 1992er Hit „Sweet Harmony“ von The Beloved oder dem 1993er Björk-Titel „Big Time Sensuality“ –, interessante Titel mit Underground-Flair entdeckte ich aber nur, wenn sie bis in die Charts vordrangen und dann auch auf NDR 2 oder RSH (Radio Schleswig-Holstein) gespielt wurden – Sender, die mein Rekorder empfing –, so 1992 etwa die dunklen Synthi-Tracks „Rhythm is a dancer“ von Snap oder „It will make me crazy“ von Felix. Ungefähr um die Zeit erreichte auch der erste wirkliche Techno-Titel mein Ohr, verrauscht über einen dänischen Sender, den mein Radio gerade noch so quer über die Ostsee empfing: „The Meltdown“ von Lunatic Asylum. Diese krasse, rohe und düstere Musik war definitiv nichts für die Charts und weckte meine Neugier.
Der Technologiesprung zur Satellitenschüssel spülte mir dann weiteres Material ins heimische Elternhaus. Zu den ersten akustischen Entdeckungen, die ich 1994 vor dem TV-Schirm machte, gehörte ein Auftritt der Band Orbital im Londoner MTV-Studio, eine Mischung aus programmierten und improvisierten Klangexkursen, eingeleitet vom Titel „Forever“, dessen eigenwillige Synthesizersequenzen mit der Tonaufnahme eines Redners hinterlegt waren:
„We waste, we destroy, and we cling like savages to our superstitions. We give power to leaders of state and church as prejudiced and small-minded as ourselves, who squander our resources on instruments of destruction; while millions continue to suffer, and go hungry, condemned forever.“ – („Wir verschwenden, wir zerstören und wir klammern uns wie die Wilden an unseren Aberglauben. Wir geben Staats- und Kirchenführern Macht, die so voreingenommen und kleingeistig sind wie wir selbst, die unsere Ressourcen für Instrumente der Zerstörung verschwenden; während Millionen weiter leiden und hungern, verdammt für immer.“)
Hier gab es also auch eine inhaltliche Ebene. Zugleich vermittelte der Auftritt das Ambiente eines Kunstprojektes. Hier stand nicht einfach eine Band, die ihre neuesten Titel spielte, sondern hier hatten Künstler offenbar eine umfassende Vision, die sie in Text, Bild und Ton inszenierten, ähnlich einer Theateraufführung, allerdings mit hypnotisierender Rhythmik und dadurch mit direkter Wirkung auf den Bauch, intuitiv verstehbar. Die Band veröffentlichte im gleichen Jahr die Single „Are we here?“, die in ähnlicher Weise neuartige Musik mit einer nachdenklichen Botschaft verknüpfte.
Eine ähnliche Entdeckung war das Duo The Future Sound of London, ebenfalls eher Konzeptkünstler als Hitlieferanten, deren experimenteller computeranimierter Clip „Lifeforms“ akustische und optische Horizonterweiterungen miteinander verknüpfte – und auf MTV Europe gespielt wurde. Computeranimierte Videos, die Phantasiewelten darstellten, waren damals noch nicht allgegenwärtig. Zwar kannte ich die für damalige Verhältnisse verblüffend realistischen Animationen des Hollywood-Blockbusters „The Abyss“ von 1989, in denen eine optimistische Vision hochentwickelten, intelligenten Lebens in der Tiefe der Ozeane dargestellt wurde, doch künstlerische Videos wie „Lifeforms“ verbanden die optische Utopie dazu noch mit neuartigen und geheimnisvollen Klängen. Das gleichnamige Doppelalbum war dann auch die erste CD, die ich erwarb, genauer: in Berlin von einer Bekannten erwerben ließ, denn in der Provinz war diese Musik nicht erhältlich und auch in Berlin dauerte der Bestellvorgang mehrere Wochen. Das Album war eine 90-minütige, aufwändig produzierte Klangcollage, ohne Pausen, rein instrumental, voller assoziativer Geräusche, die immer wieder in Songstrukturen zusammenfanden, sich wieder auflösten und als Musik völlig grenzenlos zu sein schienen.
Allerdings: Das war kein „Chill Out“ und keine „Lounge Music“, wie sie später inflationär wurde, produziert, um sich in wohligen Harmonien zu entspannen, dem Stress des durchgetakteten Berufslebens zu entfliehen, um am nächsten Tag dann wieder ein produktives Zahnrad im Getriebe zu sein. Man spürte, dass es bei dieser Musik nicht ums Relaxen, sondern ums Ganze ging, um das Erforschen und Begreifen der Welt, letztlich um etwas Spirituelles. Es war klar erkennbar Kunst ohne vordergründiges kommerzielles Interesse und ohne Starkult – die Klänge standen für sich.
1995, kaum hatte ich die neue Welt entdeckt, entschied das Management von MTV, den Sender mit einer Bezahlschranke zu versehen. Fortan wurde auf dem Sendeplatz ein graues Rauschbild ausgestrahlt. Allerdings blieb die Audiospur unverschlüsselt. Mit Hilfe des Videotextes war es stellenweise möglich, bei einzelnen Sendungen die Playlist abzurufen und so doch noch zu erfahren, was und wen man da hörte. Auf diese umständliche Art entdeckte ich etwa die Musik von Aphex Twin, einem Pseudonym des aus dem englischen Cornwall stammenden Soundtüftlers Richard D. James. MTV strahlte 1995 den Experimentalfilm „Stakker Westworld“ aus, dessen Tonspur aus Stücken von James´ Album „Selected Ambient Works Vol. 2“ bestand. Diese Musik war meditativer, traumartiger Natur, ganz anders als die brachialen, diabolischen Titel, für die dieser Musiker später vor allem bekannt wurde. Die gänzlich namenlosen Instrumentalstücke waren nicht zum Tanzen geeignet, nicht aufputschend, dafür aber irritierend und anregend. Sie schienen ein Geheimnis zu bergen.
Die nie gehörten Klänge faszinierten mich so, dass der Berufswunsch entstand, in einem Tonstudio zu arbeiten, was ich Ende der 1990er mit einem Umzug nach Köln auch in die Tat umsetzte. 1996 kaufte ich meinen ersten Computer, bald darauf einen alten analogen Synthesizer (Korg Monopoly, Baujahr 1982) und begann, angeregt von den neuen Vorbildern, selbst elektronische Musik zu fabrizieren, teilweise gemeinsam mit Freunden, die ähnlich begeistert waren. Die Klänge, die wir hörten, waren dabei nicht zu trennen von der Künstlerszene, die sie hervorbrachte und die meine Freunde und ich verehrten. Intensiv durchforstete ich das Kleingedruckte der Booklets der erworbenen CDs und Schallplatten, immer auf der Suche nach Namen der beteiligten Musiker und Techniker, die ich von anderen Platten bereits kannte, um so zu rekonstruieren, wer mit wem zusammen arbeitete, wer wen beeinflusste und welches geheimnisvolle Netz von Menschen da eigentlich wirkte.
Über einige Jahre wurde diese Musik zu einem wichtigen Teil meines Lebens – und die teils kommerzielle, teils anarchische Sendung MTV Party Zone ein Schlüssel in eine Welt, deren Lebendigkeit, Farbigkeit und Kreativität in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre Stück für Stück wieder schwanden, parallel zu einer zunehmend lähmenden, rückwärtsgewandten Politik, die vom „Ende der Geschichte“ schwadronierte und den Aufbruchsimpuls von 1990 rasch wieder unter sich begrub. Elektronische Musik wurde, nach meiner Einschätzung ab etwa 1995, konventioneller, langweiliger, weniger mutig, weniger energetisch – all dies ein Spiegel der stagnierenden gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Kunst konnte den Horizont zwar erweitern, aber in der sich nun verfestigenden Realität nicht gedeihen.
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