Kreuz- und Querfronten – Politische Orientierung „nach Corona“
ULRICH TEUSCH, 2. Juni 2020, 4 KommentareAuch menschliche Kollektive – von der unmittelbaren Nachbarschaft bis hin zur Weltgesellschaft – können sich unter dem gewaltigen Druck einer großen Krise verändern – zum Positiven, zum Negativen. Krisen schaffen grundsätzlich offene (oder offenere) Situationen. Ob die etablierten Mächte ihre Macht und Deutungshoheit in oder nach der Krise konservieren, vielleicht sogar verstärken, oder ob neue Kräfte die Gunst der Stunde nutzen und gesellschaftliche Veränderungen durchsetzen, das lässt sich in einer dynamischen Krisensituation nur schwer abschätzen.
I.
Wer über große Macht verfügt, sei sie politisch oder ökonomisch, militärisch oder medial, wird diese in aller Regel nicht freiwillig abgeben oder mit anderen teilen. Ganz im Gegenteil, er wird versuchen, sie zu sichern und zu steigern. Das war schon immer so – und das wird sich auch nicht ändern. Macht kann man nur von außen in Schach halten: durch Machtkontrolle oder durch die Bildung von Gegenmacht. Das gilt auch und gerade für Demokratien.
Machteliten lassen eine Krise selten ungenutzt verstreichen. Die Krise gilt ihnen als Chance, als Steilvorlage: zum Abbau von Liberalität und Demokratie, zur Verstärkung von Bevölkerungskontrolle und Repression – zur Festigung und Steigerung ihrer Macht.
Wie ich in einem früheren Artikel auf dieser Seite erläutert habe, erfreuen sich zwei Herrschaftstechniken besonderer Beliebtheit und werden oft in Kombination eingesetzt: Zum einen wird versucht, einen möglichst breiten Konsens in der Bevölkerung herzustellen, nicht zuletzt – wie gegenwärtig – durch die Erzeugung oder Instrumentalisierung von Angst und Schrecken, wobei gefügige, staatsnahe Medien verlässliche Unterstützung leisten.
Zum anderen werden dort, wo die Konsensbeschaffung ins Leere läuft, also auf Widerspruch oder Widerstand stößt, andere Saiten aufgezogen. Oppositionelle Strömungen – in einer Demokratie doch eigentlich eine pure Selbstverständlichkeit – werden offensiv und aggressiv ausgegrenzt: als Leugner, Unbelehrbare, Nörgler, Querulanten. Sie werden stigmatisiert und diffamiert.
II.
In der gegenwärtigen Krise werden beide Herrschaftstechniken (also die „Herstellung von Konsens“ und das „Teile und herrsche“) rücksichtslos eingesetzt. Der Anpassungsdruck wie auch die Kosten für Unbotmäßigkeit sind hoch. Das Ergebnis ist niederschmetternd: Deutschland bietet nicht mehr das Bild einer intakten, pluralen Bürgergesellschaft, die ihre Meinungsunterschiede und Konflikte in einer hoch entwickelten, vitalen Diskurs- und Streitkultur austrägt, nach verbindlichen Regeln und in wechselseitigem Respekt, sondern es präsentiert sich in einem desolaten, zerrütteten Zustand.
Gewiss, an Weihnachten, an Neujahr oder bei sonstwie passenden Gelegenheiten schmeicheln Präsident, Kanzler und andere politische Würdenträger den „lieben Mitbürgerinnen und Mitbürgern“. Doch im harten politischen Alltag werden besagte Mitbürgerinnen und Mitbürger, ob einzeln oder im Kollektiv, immer öfter aufs Übelste beschimpft: als Mob, als Pack, als Mischpoke, natürlich auch als Spinner, Rassisten, Antisemiten, Links- oder Rechtsextremisten. Manche unter ihnen seien keine Fälle für die Politik, sondern für die Psychiatrie, hieß es im Spiegel. So dachte man auch in der einstigen Sowjetunion und steckte Dissidenten in die geschlossene Abteilung.
Und, nicht zu vergessen, sind da noch die Verschwörungstheoretiker. Sie scheinen sich neuerdings zu vermehren wie die Karnickel. Man findet sie hinter jedem Busch. Doch in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle sind nicht die Verschwörungstheoretiker das Problem, sondern diejenigen, die sie so nennen. Das sind meist Journalisten oder Politiker, die nicht mehr weiterwissen und dann zu den besonders beliebten letzten Mitteln greifen: also der üblen Nachrede, der Rufschädigung, der Beleidigung. Die pauschale Diffamierung ersetzt ihnen die sachliche Auseinandersetzung. Für letztere fehlen ihnen offenkundig die Argumente, möglicherweise auch die intellektuellen Voraussetzungen. (Und natürlich produzieren die eifrigsten Warner vor Verschwörungstheorien ihrerseits selber welche – am laufenden Band: Weapons of Mass Destruction, Russiagate, Putin spaltet den Westen, der verwirrte Einzeltäter, die 19 Araber mit den Teppichmessern etc. pp.)
Die Jagd auf angebliche Verschwörungstheoretiker ist zum Lieblingssport unserer selbsternannten politischen und medialen „Elite“ geworden. Mit der Folge, dass der Begriff in den vergangenen Wochen derart häufig eingesetzt wurde, gegen beinahe alle und jeden, dass er inzwischen jeder Sinnhaftigkeit beraubt ist. Er ist verbrannt. Wer jetzt immer noch glaubt, mit diesem Vorwurf anrücken zu können, macht sich lächerlich und dokumentiert nichts weiter als seine intellektuelle Verwahrlosung und seinen akuten Argumentationsnotstand.
III.
Demokratie hat nichts mit Vertrauen zu tun, sondern mit Kontrolle. Selbstbewusste Bürgerinnen und Bürger vertrauen ihren jeweiligen Führungskräften nicht einfach so, sondern sie schauen und schlagen ihnen auf die Finger. Skepsis gegenüber der Staatsmacht, auch gegenüber anderen Machtformen (etwa ökonomischen), ist das Lebenselixier der Demokratie. Wachsamkeit und insbesondere das frühzeitige Wittern von möglichem Machtmissbrauch zählen zu den Kardinaltugenden demokratischer Bürger. Die Jasager, also die politischen Schlafmützen, obrigkeitsverliebten Leitartikler und sonstigen opportunistischen Hofschranzen werden das nie begreifen; sie werden sich weiter über „die Spinner“ echauffieren und sie zur „Gefahr“ erklären (Gefahr für wen? für was?).
Machen wir ein kleines Gedankenexperiment. Nehmen wir an, Merkel, Spahn, Söder & Co. hätten in der „Corona-Krise“ nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt. Nehmen wir an, sie hätten fast alles richtig gemacht oder dies zumindest reinen Herzens versucht. Vergessen wir einfach für einen Moment, dass sie anfänglich abgewiegelt und verharmlost haben, dann in Panik und Hysterie verfallen sind. Vergessen wir, dass die Gefahr maßlos übertrieben wurde (größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg). Vergessen wir, dass man mit den diversen Corona-Zahlen Schindluder getrieben und ganz offenkundig bewusst manipuliert hat, um Angst und Panik zu erzeugen.
Vergessen wir zudem, dass die drastischen Maßnahmen zur Bekämpfung der angeblich so tödlichen Pandemie entweder zu spät kamen oder sinnlos waren oder völlig überzogen, zudem vielfach inkonsequent und widersprüchlich. Reden wir nicht von den durch die Maßnahmen verursachten „Kollateralschäden“ (ökonomisch, sozial, individuell), die sich schon bald als die Hauptschäden zu erkennen geben werden. Reden wir auch nicht davon, dass die Verantwortlichen das von ihnen angerichtete Desaster ignorieren, offenbar gewillt, ihr perfides Krisenspiel bis zum Gehtnichtmehr fortzusetzen. Reden wir schließlich auch nicht von Immunitätsausweisen, Apps, Impfzwängen oder Gates. Vergessen wir das alles für einen Moment und unterstellen wider besseres Wissen, dass die oben genannten Politiker einen tollen Job gemacht haben.
Dann könnten wir sagen: Die Abwehr- und Schutzmaßnahmen wurden in bester Absicht ergriffen, allein der brennenden Sorge um Ihre oder meine Gesundheit, Ihr oder mein Leben geschuldet. Es drohte ein großes Verhängnis, und wir mussten alle zusammenstehen, um es abzuwenden – einer für alle, alle für einen. Die sich anbahnende Katastrophe wurde zum Bindemittel, die Deutschen zu einer großen Solidargemeinschaft – „ein neues soziales Miteinander...“.
Nehmen wir an, diese rein mitmenschliche, uns allen zugewandte Haltung wäre der maßgebliche politische Ansatz der Obrigkeiten gewesen. Wie hätten sie, also die Obrigkeiten, in diesem Fall die von ihnen für erforderlich gehaltenen „Maßnahmen“ gegenüber der Öffentlichkeit, also uns, kommuniziert und begründet? Die Antwort liegt auf der Hand: Sie hätten sie gänzlich anders kommuniziert, gänzlich anders begründet, als sie es tatsächlich getan haben. Sie hätten ein völlig anderes gesellschaftliches Klima erzeugt.
Diese These ließe sich an zahllosen Beispielen veranschaulichen. Ich will mich auf eines, das symbolträchtigste, beschränken: die Maske.
IV.
Wir haben in den vergangenen Wochen gesehen, dass man Menschen von einem Tag auf den anderen zwingen kann, bei bestimmten Gelegenheiten eine Maske aufzusetzen. Wir haben gesehen, dass man sie denunzieren und bestrafen kann, wenn sie es nicht tun. War und ist diese Verfahrensweise alternativlos? Selbstverständlich nicht. Man hätte die Menschen im Rahmen einer Werbe- und Aufklärungskampagne oder in persönlicher Ansprache ohne weiteres auch freundlich bitten können, bei bestimmten Gelegenheiten eine Maske zu tragen. Man hätte diesen Wunsch in aller Ruhe und mit guten Argumenten unterfüttert vortragen können. Man hätte für die Maske werben, man hätte Menschen überreden oder überzeugen können.
Man hätte sagen können: „Selbst wenn Sie nicht vom Nutzen der Maske überzeugt sind – offen gestanden, wir sind es auch nicht so recht –, würden wir uns dennoch freuen, wenn Sie sich dazu entschließen könnten. Sie müssen wissen: Viele Menschen haben große Angst, einige sind besonders gefährdet, und gerade diesen Menschen könnte es helfen, wenn sie sehen, dass andere auf ihre Situation Rücksicht nehmen. Aber letztlich steht es Ihnen natürlich frei. Wenn Sie partout keine Maske tragen möchten, bedauern wir das zwar, aber es ist selbstverständlich Ihre Entscheidung. Wir wollen und können Ihnen da nichts vorschreiben.“
Hätte jemand mich in dieser Weise angesprochen – warum hätte ich da auf stur schalten und mich verweigern sollen? Ich bin im Allgemeinen ein freundlicher Mensch, und wenn ich jemanden einen Gefallen tun kann, dann mache ich das. Aber diese Chance hat man mir gar nicht gegeben. Im Gegenteil. Die Sache mit der Maske wurde knallhart durchgezogen. Es wurde richtig Druck gemacht. Warum nur, wenn es doch auch ganz anders gegangen wäre?
V.
Nun weiß ich natürlich, dass für viele Menschen das Tragen der Maske kein Problem ist. Viele finden die Maske sogar attraktiv, ein schickes Utensil, und sie besitzen inzwischen für jedes ihrer Oberteile eine farblich passende. Für wieder andere Menschen mag die Maske zwar ein Problem darstellen, aber kein gravierendes. Sie mögen sie als unbequem oder als nutzlos empfinden, aber sie tragen das Ding ohne großes Murren, weil es eben so verlangt wird.
Neben diesen beiden Gruppen gibt es aber auch Menschen, und es sind nicht wenige, für die ist die Maskenpflicht ein außerordentlich großes Problem. Sie sehen sich zu etwas gezwungen, dessen Sinnhaftigkeit ihnen schleierhaft ist. Sie fühlen sich bevormundet, entmündigt, ja, regelrecht erniedrigt und unterdrückt, in der Entfaltung ihrer Persönlichkeit behindert.
Es gab im Zuge des Shut- und Lockdowns zweifellos gravierendere, politisch und verfassungsrechtlich ungleich problematischere Einschränkungen und Reglementierungen als die Maskenpflicht. Und doch hat die Maske für viele Menschen das Fass zum Überlaufen gebracht. Die Maske steht für eine tiefe Ohnmachtserfahrung, für Stress, Frustration und Depression.
An dieser Stelle können wir unser kleines Gedankenexperiment beenden und Folgendes festhalten: Wie bei vielen anderen Reglementierungen und Einschränkungen im Rahmen der „Corona-Krise“ hat die Obrigkeit es auch bei der Maskenpflicht mit uns keineswegs gut gemeint – ganz im Gegenteil. Bei der von Tag zu Tag absurder werdenden Maskenpflicht geht es nicht um Sicherheit und nicht um Gesundheit, sondern um soziale Kontrolle. Wer die Maske anlegt, vollzieht immer auch einen Kotau. Die Obrigkeit sieht es mit Wohlgefallen. Wir machen Männchen, und wir holen Stöckchen. Braver Hund.
Betrachten wir noch kurz das Gebaren unserer Polizei: Musste sie in der „Corona-Krise“ und zwecks Durchsetzung der „Maßnahmen“ wirklich so massiv, so bedrohlich, so einschüchternd, so martialisch auftreten? Musste sie Menschen maßregeln, festnehmen, schikanieren? Natürlich musste sie das nicht. Die Polizei kann auch anders. Bei vielen Gelegenheiten versteht sie es sehr wohl, sich als Freund und Helfer beliebt zu machen.
Kurzum: Obwohl man mit der Krise auch ganz anders hätte umgehen können, ist man mit ihr genau so und nicht anders umgegangen: nämlich autoritär und repressiv. Das war kein „Fehler“, kein „Versehen“ – es war Absicht. Und es erlaubt Rückschlüsse auf die Motivlage der politisch Verantwortlichen. Wenn Merkel in diesen Tagen mit scheinbarem Bedauern eingeräumt hat, dass man der Bevölkerung in der Krise einiges zugemutet habe, dann ist diese Aussage vor dem soeben skizzierten Hintergrund heuchlerisch, zynisch und selbstgerecht.
VI.
Welche Konsequenzen ziehe ich aus der „Corona-Krise“? Stefan Korinth hat vor einigen Tagen in einem bedrückenden Artikel die enormen Belastungen geschildert, denen er und seine Familie durch die „Maßnahmen“ ausgesetzt wurden (und immer noch werden). Was er schreibt, dürfte repräsentativ sein für zahllose andere junge Familien in diesem Land – auch meine eigene.
Wer ist für dieses Elend verantwortlich? Ich habe Merkel und ihre Entourage nicht gewählt. Aber sie und ihresgleichen haben Amtseide abgelegt, die auch mich betreffen. Die Kanzlerin zum Beispiel hat geschworen, dass sie ihre „Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden“ werde. Und nun?
Seit Monaten wird dieses Land nun schon von einer sich selbst ermächtigenden Virokratie drangsaliert, einem Wohlfahrtsausschuss der besonderen Art, der einfach nicht davon ablassen will, einen grotesk überdimensionierten Teufel an die Wand zu malen und der sich um die dramatischen Folgen seines Tuns nicht weiter schert. Wie viele Kinder mögen wohl inzwischen traumatisiert sein? Wie geht es ihren Eltern? Wie viele Tragödien mögen sich in den Seniorenheimen abgespielt haben? Wie kommen die Angehörigen damit zurecht? Man kann nur hoffen, dass die zahllosen Opfer dieser zynischen Politik das, was ihnen angetan wurde, weder vergessen noch verzeihen werden.
Ende März hatte ich in einem Artikel festgestellt, „dass Menschen, mit denen man über viele Jahre kollegial und freundschaftlich zusammengearbeitet hat, mit denen man auch weiterhin in tausend Fragen übereinstimmt, nun wegen eines abweichenden Urteils über ‚Corona‘ unvermittelt den Stab brechen – und zwar einseitig, unwiderruflich, ohne weitere Diskussion“. Doch das war erst der Anfang. Im weiteren Verlauf zeigte sich, dass diejenigen, die „Corona“ für eine eminente Gefahr hielten, auch dazu neigten, den dann folgenden autoritären und repressiven staatlichen Zugriff zu unterstützen.
Ob man die Suspendierung von Grundrechten abnickte oder gegen sie protestierte – es handelte sich nicht um eine „Links-Rechts-Frage“. Viele Linke agierten staatstragend, geradezu beflissen (man denke an Katja Kipping), und wenn man als Maßnahmen-kritischer Linker nach Verbündeten suchte, fand man sie häufig dort, wo man sie vielleicht nicht unbedingt vermutet hätte.
Dass US-amerikanische Libertäre, wie Ron Paul, David Stockman und viele andere, gegen ihren Maßnahmenstaat zu Felde zogen, war nicht überraschend. Aber dass man sich in Deutschland sein Herz an Einlassungen von Roland Tichy oder der „Achse des Guten“, von Julian Reichelt, Mathias Döpfner oder Wolfgang Herles, von Schäuble oder Kubicki wärmen konnte, war eine durchaus neue Erfahrung. Eine interessante Querfront gab sich da zu erkennen, die man – angesichts der Tatsache, dass sich auch hohe katholische Würdenträger der Bewegung anschlossen – vielleicht als „Kreuz- und Querfront“ bezeichnen könnte.
Diese erstaunlichen Erfahrungen müssen alle Beteiligten jetzt erst einmal verarbeiten. Vielleicht bahnt sich hier ja eine Entwicklung an, die in der Zeit „nach Corona“ noch an Bedeutung gewinnen wird: keine festgefügten Lager mehr, keine ideologischen Borniertheiten, keine Berührungsängste (also kein „political distancing“), sondern flexible, überraschende, schwer berechenbare und immer themenbezogene Bündnisse ganz unterschiedlicher Kräfte. Man müsste sich da auch gar nicht groß absprechen – getreu dem Motto: getrennt marschieren, vereint schlagen. Solche Kreuz- und Querfronten könnten eine befreiende Wirkung entfalten, also die etablierte Politik auf Trab bringen – und eine demokratische politische Kultur revitalisieren.
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