Klima-Lockdown?
ANJA BAISCH, 16. Oktober 2021, 9 Kommentare, PDFIm Umfeld der Klimaschutzbewegung wird die Coronapolitik der Großen Koalition überwiegend positiv eingeschätzt: Die Krise habe gezeigt, was möglich sei, wenn Regierungen von ihrer Macht Gebrauch machen. Nach diesem Vorbild sollen die Verantwortlichen auch in der Klimapolitik agieren, immerhin ginge es in beiden Fällen um „flatten the curve“. Der exekutive Durchgriff, die radikale Beschneidung der Grundrechte wird in dem Zusammenhang häufig positiv als ein Ende der jahrzehntelangen Ohnmacht empfunden. Endlich habe die Exekutive Handlungswillen gezeigt. Die coronapolitischen Maßnahmen gelten damit als Blaupause für eine notwendige ökologische Wende.
Genau diese Stoßrichtung wird von Regierungskritikern als Bedrohung empfunden. Eine Klimaschutzpolitik nach dem Vorbild der Coronamaßnahmen könnte konkret bedeuten, dass die Politik individuelle Verhaltensänderungen erzwingen will – entweder über gesetzliche Anordnungen oder über höhere Kosten. Das wäre eine Vorgehensweise, die nicht an systemischen Ursachen ansetzt, sondern die Handlungsfreiheiten des Einzelnen beschneidet und deshalb als repressive Klimaschutzpolitik bezeichnet werden könnte.
Weil sie hier demokratische Freiheiten bedroht sehen, wenden sich viele Lockdown-Kritiker vom Thema Klimaschutz ab. Sie vermuten, hier werde ein weiteres Angst-Narrativ bedient, mit dem Menschen unter Druck gesetzt werden sollen. Aus der Ablehnung der Coronapolitik wird so eine Ablehnung von Klimaschutzpolitik.
Woher kommt die Verknüpfung?
Die Reaktionen sowohl von Regierungskritikern als auch von Lockdown-Unterstützern zeigen vor allem eines: Eine große Resonanz. Das ist ein bemerkenswertes Echo, denn im Prinzip könnten die beiden Krisen unterschiedlicher kaum sein. Seit mindestens siebzig Jahren ist einer breiten Öffentlichkeit bekannt, welche Folgen die fossile Energieerzeugung für das Klima und die Umwelt hat. Die ökologischen Auswirkungen sind erkennbar und messbar, während die politischen Konzepte zur Bewältigung der Krise heftig umkämpft sind. Im Gegensatz dazu war die Coronapolitik von Beginn an von vielen Hypothesen geprägt. Die zu erwartende Tragweite der Lage beruhte auf Modellen, deren Annahmen umstritten waren. Die Krise dauert erst anderthalb Jahre, in denen die Regierung weitreichende und neue politische Vorgehensweisen durchsetzte. Dabei wurde ein großer gesellschaftlicher Druck entfaltet, diese Maßnahmen nicht zu hinterfragen.
Es gab daher viele Gründe, warum die Verknüpfung der beiden Krisen hätte misstrauisch machen müssen. Umso interessanter ist es, zu überprüfen, woher die Gleichsetzung eigentlich kommt. In diesem Artikel soll gezeigt werden, dass es die Bundeskanzlerin selbst war, die eine Verflechtung der beiden Themen startete und forcierte. Und dass sie einen Grund hatte, das zu tun.
Die klimapolitischen Konzepte von Angela Merkel
Um das aktuelle Geschehen einordnen zu können, ist ein Blick zurück auf die Klimapolitik der letzten Jahrzehnte hilfreich. Die Bundeskanzlerin selbst beschäftigt sich schon lange mit dem Thema, so amtierte sie von 1994-1998 als Bundesumweltministerin. Nachdem die CDU die Wahl von 1998 verloren hatte, arbeitete Angela Merkel in der Opposition. Die rot-grüne Bundesregierung schlug in ihrer Regierungszeit tatsächlich andere energiepolitische Wege ein, doch nach der Wahlniederlage von 2005 passte sie ihre Linie dem Kurs der Unionsfraktion an. Als Angela Merkel im Jahr 2005 das Amt der Bundeskanzlerin übernahm, setzte sie ihre frühere Programmatik aus der Zeit als Umweltministerin fort. Seitdem verantwortet sie die Klimapolitik, die im Wesentlichen auf ihren energiepolitischen Entscheidungen beruht. Die jeweiligen Koalitionspartner – FDP und SPD – unterstützten diese Politik.
Und hier ist die Linie der Bundeskanzlerin klar und eindeutig: Grundsätzlich protegiert die Regierungschefin das fossile Energiesystem. So fördert sie den Abbau von fossilem Gas, setzt sich für die gefährliche CCS-Technik ein, und garantiert den Kohleunternehmen noch eine lange Geschäftstätigkeit. Insgesamt subventioniert sie die Energieerzeugung durch fossile Rohstoffe mit jährlichen Zuwendungen in Höhe von 37 Milliarden Euro.
Während ihrer langen Regierungszeit forcierte sie weder eine Verkehrswende noch einen Umbau der Landwirtschaft oder eine Wärmewende. Da, wo sie tatsächlich einen Unterschied hätte machen können, verweigerte sie dies. Gemeinsam mit dem jeweiligen Koalitionspartner bremste die Regierung den Ausbau der erneuerbaren Energien in Deutschland seit 2009 massiv aus.
Dass die Regierung hier eine so stringente Linie verfolgt, liegt an der konstitutiven Bedeutung der Energieversorgung. Deren Strukturen haben eine immense real- und finanzwirtschaftliche Tragweite, denn die globalen Machtverhältnisse bauen auf der fossil-atomaren Produktionsweise auf. Es geht um Grundsatzfragen und eben deshalb ist die Klimakrise so schwer zu bewältigen. Der SPD-Politiker und Energiewende-Vordenker Hermann Scheer schrieb über die Energiewende zu erneuerbaren Energien:
„Einem solchen Austausch stehen vor allem deshalb so große Hindernisse und Widerstände entgegen, weil damit der gesamte Zusammenhang von Energie-, Wirtschafts- und Gesellschaftssystem herausgefordert wird.“ (1)
Fundamentale Änderungen will die Kanzlerin aber gerade nicht. Ein paar ergänzende Windkraftanlagen an der Küste machen einen grün-ambitionierten Eindruck und passen ins Konzept, doch eine grundsätzliche Energiewende beabsichtigt die Regierungschefin nicht. Der Konflikt ist daher für sie im Prinzip unlösbar.
Genau das ist ein Problem, denn es gibt eine breite gesellschaftliche Unterstützung für eine soziale und ökologische Transformation. Und je mächtiger die Energiekonzerne im Zuge der neoliberalen Politik wurden und je drastischer die ökologischen Schäden ihrer Produktionsweise zutage traten, desto heftiger protestierten soziale und klimaschützende Bewegungen dagegen.
Die Doppelstrategie
Angela Merkel hat früh begriffen, dass sie deshalb eine Doppelstrategie fahren muss: Grundsätzlich unterstützt sie die Energiekonzerne in ihrem fossilen Modell, aber weil das so angreifbar ist, will sie öffentlich den Eindruck erwecken, sich für Klimaschutz einzusetzen. Das hat sie auf zwei Weisen getan, deren Ursprünge beide in ihrer Zeit als Umweltministerin liegen.
Schon früh entdeckte die Kanzlerin, dass die internationale Bühne ein guter Ort war, um sich als „Klima-Kanzlerin“ zu inszenieren. Über ihre Auftritte bei der allerersten UN-Klimakonferenz 1995 in Berlin (Conference of the Parties 1), die sie als frisch ins Amt gekommene Umweltministerin geleitet hatte, berichtete die Presse wohlwollend. „Unerwartet haben Umweltschützer Angela Merkel ins Herz geschlossen“, schrieb der Spiegel damals.
In den folgenden Jahren als Ministerin und insbesondere später als Kanzlerin nutzte Angela Merkel die Aufmerksamkeit von weltweiten Konferenzen regelmäßig. Gerade in diesem Rahmen lässt sich mit ambitionierten Reden eine positive Berichterstattung ernten. Das ist relativ folgenlos, da die einstimmigen Beschlüsse viel Interpretationsspielraum schaffen. Im Zweifel finden sich immer andere Regierungschefs, die sich ehrgeizigeren Plänen versperrt hätten und die Kanzlerin daher umso engagierter erscheinen lassen. Unklare Ziele wie „Klima-Neutralität“ bieten außerdem viele Möglichkeiten, die jeweilige Klima-Bilanz schönzurechnen. Dass diese Vorgehensweise erfolgreich war, zeigt sich an den anerkennenden Artikeln über die vermeintliche „Klima-Kanzlerin.“
Neben den internationalen Konferenzen gibt es eine zweite Vorgehensweise, mit der die Kanzlerin versucht, den öffentlichen Diskurs zu beeinflussen und die ebenfalls ihre Ursprünge in ihrer Zeit als Umweltministerin hat. Im Jahr 1995 initiierte sie eine Kampagne zum Thema Klimaschutz. Zwei Figuren – Bille und Henning – sollten die Bürger zu einem umweltfreundlicheren Verhalten animieren. Dazu klärten sie auf, welche CO2-Einsparmöglichkeiten es im Alltag gäbe. Das Motto der Aktion lautete: „Mensch, ändere dich.“ Damit vermittelte die Ministerin folgende Botschaft: Der Umwelt gehe es deshalb schlecht, weil die Verbraucher sich falsch benehmen würden.
Sechsundzwanzig Jahre später hat sich an der Einstellung der Kanzlerin nichts geändert. „Wir setzen darauf, dass die Menschen wissen, was an Verhaltensänderung in den nächsten Jahren stattfinden muss“, sagte sie im Oktober 2019 bei der Eröffnung der „Klima-Arena“ in Sinsheim (ein Erlebniszentrum, das den Besuchern genau das vermitteln soll). Ob der Kampf gegen den Klimawandel gelingen wird, hängt demnach von „den Menschen“ und ihrem individuellen Konsum ab. Dadurch verschob sie die Verantwortung: Weg von systemischen Ursachen und hin zum einzelnen Verbraucher. Aus einer politischen Richtungsentscheidung wurde eine Verzichtsdebatte. Das ist die Botschaft: „Mensch, ändere dich.“
Insofern praktiziert Angela Merkel seit dem Beginn ihrer politischen Tätigkeit eine Doppelstrategie. Das ist eine Vorgehensweise, in der die Öffentlichkeitsarbeit eine große Rolle spielt. Sie funktioniert nur mit einer positiven Berichterstattung und sie gerät dann in Gefahr, wenn die Ungereimtheiten öffentlich diskutiert werden.
Kontroverse Jahre
Im Verlauf ihrer Kanzlerschaft funktionierte diese Strategie mal besser und mal schlechter. Nachdem sie zu Beginn ihrer Amtszeit durch viele öffentliche Auftritte eine überwiegend positive Berichterstattung erhielt, veränderte sich die Lage im Jahr 2009. Damals fand die inzwischen fünfzehnte UN-Klimakonferenz in Kopenhagen statt (COP 15). Obwohl die Ergebnisse der vorherigen Konferenzen regelmäßig unter den Erwartungen geblieben waren, sahen Klimaschützer auf der ganzen Welt diesmal eine Chance für eine ökologische und soziale Wende. Zu dem Zeitpunkt lag der Ausbruch der Finanzkrise erst kurz zurück und viele hielten ein Ende der neoliberalen Transformation für möglich.
Doch der Gipfel in Kopenhagen scheiterte und die Proteste auf den Straßen wurden rigoros unterdrückt. Der Unwille der Industriestaaten aus EU und USA, die fossil-atomare Abhängigkeit zu beenden, lag offen auf dem Tisch. Regierungsvertreter aus dem globalen Süden zeigten sich empört über die Radikalität, mit der die Regierungen der Industrieländer die zerstörerische Geschäftstätigkeit der Energiekonzerne schützten. Für die Bundeskanzlerin war das Ergebnis bedrohlich, weil ihre Zustimmungswerte litten. Spiegel online schrieb über die „Zusammenkunft der Versager“, während die Süddeutsche das „Ende der Klima-Kanzlerin“ kommen sah und von einem Desaster sprach.
Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum und wie die Bundesregierung in den folgenden Jahren ihre Klimaschutzpolitik präsentierte. So ein Debakel wie in Kopenhagen sollte nicht mehr passieren. Deshalb initiierte sie den Petersberger Klimadialog, der von nun an die Klima-Konferenzen vorbereitete. Offiziell wird das Treffen als Ideenaustausch präsentiert, man könnte auch vermuten, dass widerspenstige Länder rechtzeitig auf Linie gebracht werden sollen.
Die Vorbereitung erwies sich als wirkungsvoll, denn der nächste groß arrangierte Gipfel 2015 in Paris (COP 21) lief glatt über die Bühne und wurde von der Presse euphorisch gefeiert. „Grüner wird’s nicht“ titelte die taz, Spiegel online beschrieb das „Wunder von Paris.“ Kritische Stimmen, die das Abkommen als reine Inszenierung bezeichneten, erhielten in der Berichterstattung keinen Raum, stattdessen wurde von Regierung und Leitmedien ein klimapolitischer Kurswechsel suggeriert. Die Politik hätte verstanden, dass sie umsteuern müsse. Alles wird gut, lautete die Botschaft.
Doch ganz so einfach war es nicht, denn die Klimaaktiven kritisierten die politischen Maßnahmen als völlig unzureichend, protestierten kontinuierlich weiter und initiierten diverse neue Aktionsformen. So hielten sie das Thema präsent. Egal, wie viele Zukunftsdialoge die Regierung initiierte, wie viele Klima-Arenen die Kanzlerin einweihte und wie viele grün klingende Begriffe erfunden wurden: Die Proteste ließen nicht nach.
Das alles passte nicht ins Bild einer Regierung, die für sich eine Rolle als Vorreiterin in Sachen Klimaschutz beanspruchte. Insofern könnte man die Stimmung ab 2015 als eine instabile Zeit bezeichnen, in der um die Deutungshoheit gerungen wurde. Die große Koalition sah sich ständiger Kritik ausgesetzt, ihre Politik sei klimaschädlich, kurzsichtig, unsozial und unsolidarisch gegenüber dem globalen Süden.
In dieser kontroversen Stimmung entstand eine Bewegung, die die Pläne der Regierung vollends sprengte: Die Fridays For Future Streiks begannen. Nun traten junge Menschen und Kinder auf die Straße, um an die Verantwortung der Erwachsenen zu appellieren. Dabei erhielten sie große Unterstützung, quer durch die Bevölkerung und über alle Generationen hinweg. Selbst die Leitmedien, die 2015 noch die Botschaft von der klimapolitischen Zeitenwende transportiert hatten, scherten wieder aus und feierten die Jugendbewegung. Damit hatte die Bundesregierung nicht gerechnet. Und so irrlichterte sie eine Weile, wie sie mit der neuen Bewegung umgehen sollte. Schließlich schwenkte die Regierung auf eine Strategie der Übernahme ein und umgarnte die jungen Aktivisten.
Doch auch damit konnte sie nicht verhindern, dass die Klimaschutzbewegung im Sommer 2019 wieder aufblühte. Ihr Thema dominierte die Berichterstattung und die Bundesregierung geriet zunehmend in die Defensive. Sie kündigte ein Maßnahmenpaket für den Herbst an, doch als die Eckpunkte veröffentlicht wurden, hagelte es Kritik. Das alles sei zu zögerlich und zu wenig. „Das Gespenst des Murksismus“, titelte die taz.
Gescheiterte Strategie
Nun hatte Angela Merkel über einen Zeitraum von vielen Jahren daran gearbeitet, einen breiten Konsens zu ihrer Klimaschutzpolitik zu organisieren. Doch die „Klima-Kanzlerin“, die das ständige Konflikt-Thema mit wohlklingenden Reden auf internationaler Ebene auflösen wollte, war gescheitert. Ihre Strategie, eine konzernfreundliche Energiepolitik zu praktizieren und gleichzeitig als progressiv und ökologisch ambitioniert zu gelten, war nicht aufgegangen. So stand die Kanzlerin mit ihrer Regierung im Herbst 2019 vor den Trümmern ihrer Doppelstrategie. Doch wenige Wochen später sollte sich alles ändern. Denn dann kam Corona.
Die vermeintliche Zeitenwende
Nun passierte etwas sehr Interessantes. Im Rahmen des Petersberger Klimadialoges hielt die Bundeskanzlerin im April 2020 eine Rede. Zu diesem Zeitpunkt steckte die Coronakrise – aus heutiger Sicht – noch in ihren Anfängen. Dennoch scheute sich die Regierungschefin nicht, einen großen Bogen zu entwerfen und der Coronakrise eine grundsätzliche Bedeutung zuzuschreiben. Sie erklärte Folgendes:
„Ob Coronavirus-Krise, Wirtschafts-, Finanz- oder Klimakrise – für alle großen Herausforderungen gilt: Je mehr wir gemeinsam handeln, umso besser können wir menschliches Leid und wirtschaftliche Verwerfungen vermeiden bzw. eindämmen.“
In dieser Aufzählung erscheint die Coronakrise nicht nur als ebenso bedeutsam wie die ökonomischen Zusammenbrüche der letzten Jahre, sondern die Kanzlerin verknüpfte sie zum ersten Mal mit der Klimakrise. Die Konflikte seien so ähnlich, dass sie dieselbe Lösung anstrebe.
Diese Linie setzte die Kanzlerin in den folgenden Monaten fort. In ihrer Rede beim Weltwirtschaftsforum im Januar 2021 beispielsweise eröffnete sie ihren Vortrag mit der Frage, welche Lehren sie aus der Pandemie ziehen wolle. Diese habe „unsere Verwundbarkeit“ gezeigt, deshalb beabsichtige sie nun stärker an der Umsetzung klimapolitischer Maßnahmen arbeiten, entschiedener und resoluter. „Die Pandemie hat uns auch vor Augen geführt, dass jetzt eine Zeit des Handelns kommt“, so die Regierungschefin wörtlich. Mit großer Entschlossenheit wolle sie die internationale Verbundenheit stärken, denn die Pandemie sei „eine Jahrhundertkatastrophe“ bzw. ein „Jahrhundertnaturereignis.“
In diesen Aussagen steckt die Annahme, beide Krisen seien vergleichbar. In beiden Krisen müsse die Exekutive resolut durchgreifen, beide Krisen seien ähnlich gefährlich, in beiden Krisen müsse die internationale Zusammenarbeit gestärkt werden und in beiden Krisen ginge es um Schutz vor „Verwundbarkeit“. Doch nicht nur das: Die Kanzlerin erklärte, diese Art der Krisenbearbeitung habe eine Vorbildfunktion für sie, daran wolle sie künftig ihre Klimaschutzpolitik orientieren.
Die beiden programmatischen Reden zeigen auf: Es war die Bundeskanzlerin selbst, die die Verknüpfung der zwei Themen zu einem sehr frühen Zeitpunkt startete und im weiteren Verlauf der Krise forcierte.
Eine maßgeschneiderte Antwort
Die Verflechtung der beiden Themen ergibt dann einen Sinn, wenn man sie vor dem Hintergrund der sozialen und ökologischen Proteste der vorangegangenen Jahre interpretiert. Denn alle Punkte in den Reden der Bundeskanzlerin lassen sich auf den Diskurs der sozialen Bewegungen beziehen.
So betonte die Kanzlerin ihren politischen Willen, drohende Krisen wirkungsvoll zu bekämpfen. Dabei reagiert sie auf eine Gefahr, bevor diese kommt, und handelt nach dem Vorsorgeprinzip. Sie stärkt die internationale Zusammenarbeit und erhöht damit ihren Wirkungsgrad. Und sie hat den Mut, nicht-profitorientierte Ziele wie Gesundheit an die erste Stelle zu setzen. Dadurch traut sie sich, kurzfristige Profitinteressen zu stoppen. Das sei langfristig für alle besser, insofern praktiziert sie eine vorausschauende Politik.
Diese Erklärungen wirken wie eine maßgeschneiderte Antwort auf die kapitalismuskritischen und klimaschutzpolitischen Proteste der vorangegangenen Jahre. Offenbar beabsichtigte die Regierung, ihre Lockdown-Politik eng mit den Diskursen der sozialen Bewegungen zu verknüpfen. Dadurch sollte der Eindruck einer durchsetzungsfähigen, solidarischen Politik zum Schutz von Schwächeren erweckt werden – linke Ideale. Und gleichzeitig schuf die Kommunikation Assoziationen in Richtung Klimaschutzbewegung. So suggerierte sie eine entschlossene, präventive und umsichtige Politik, die Gefahren verhindert und langfristig denkt. Damit richtete sich die Ansprache gezielt an Klimaschutzbefürworter.
Die Agenturen übernehmen
Die Kanzlerin hatte so den Rahmen gesteckt, innerhalb dessen die politische Ansprache zur Coronapolitik stattfinden sollte. Im Laufe der Krise investierte die Regierung viel Geld in ihre Öffentlichkeitsarbeit und engagierte mehrere Kommunikationsagenturen, die Kampagnen konzeptionierten und durchführten.
Ein großer Auftrag ging an die Agentur Scholz & Friends (Auftragsvolumen 22 Millionen Euro über vier Jahre). Sie entwarfen die „zusammengegencorona-Kampagne“. Des Weiteren konzipierte die Beratungsagentur Cosmonauts & Kings Aktionen, die sich speziell an ein jüngeres Publikum auf Plattformen wie TikTok richten sollten. Die Agentur Pulse Advertising suchte die passenden Influencer aus, während die Werbeagentur Zum Goldenen Hirschen den Auftrag erhielt, für die Corona-App zu werben. Auf Social Media Plattformen durfte die Regierung ihre Anzeigen meistens kostenlos zeigen. Darüber hinaus erhöhte sie ihr Budget für bezahlte Werbung in 2020 um mehr als das Doppelte, allein das Bundesgesundheitsministerium verdreißigfachte seine Ausgaben.
Die Details der zugrundeliegenden Konzepte sind nicht öffentlich und es ist nicht bekannt, ob weitere, strategisch ausgerichtete Denkfabriken involviert waren. Es gibt allerdings Beispiele, die zeigen, wie politische Kommunikationsagenturen arbeiten. So wurden in den Jahren 2008 und 2009 zwei interne Strategiepapiere zugänglich gemacht, mithilfe derer die politische Debatte in der Energiepolitik beeinflusst werden sollte. Das war zum einen die PRGS-Studie, die mutmaßlich von dem Energiekonzern Eon in Auftrag gegeben worden war, was das Unternehmen allerdings bestritt. Das andere Dokument stammt aus der Feder der Kommunikationsagentur Deekeling Arndt Advisors, die für das Deutsche Atomforum arbeitete. In beiden Papieren bestand der Auftrag darin, eine „Grundstimmung pro Atomkraft“ herzustellen.
Die geleakten Konzepte sind schon zwölf Jahre alt, aber sie sind immer noch interessant, weil sie die Arbeitsweise der Agenturen aufzeigen. Die Zielgruppen werden nach Parteipräferenz eingeteilt und für jede Gruppe skizzieren die Kommunikationsexperten eine spezielle Ansprache. Dabei planen sie jeweils passende Argumente und schätzen ab, welche Wirkung beim flüchtigen Lesen erzeugt werden soll. Es geht darum, eine bestimmte Wahrnehmung zu schaffen, die in ein Narrativ eingebettet wird.
Dabei muss nicht jeder Punkt von den Agenturen vorgegeben sein. Eine Erzählung erhält dann besondere Kraft, wenn sie sich ein Stück weit verselbständigt, indem die beabsichtigten Botschaften aufgegriffen, weitergedacht und interpretiert werden. Insofern ist nicht immer erkennbar, wer gewisse Begriffe als erster in die Debatte gebracht hat, aber im Laufe der folgenden anderthalb Jahre entstanden einige Diskurse, die an die klima- und verteilungspolitischen Auseinandersetzungen der letzten Jahre anknüpften.
- Team Wissenschaft gegen vermeintliche Leugner
In der Coronakrise tritt „Team Wissenschaft“ gegen vermeintliche Leugner an. Dabei wird eine überwältigende wissenschaftliche Mehrheit behauptet, die den Coronakurs der Regierung stützen würde. Das knüpft auffallend an einen heftig geführten Kampf um Glaubwürdigkeit in der Klimapolitik an.
Seit den siebziger Jahren ermitteln Wissenschaftler die klimatischen Veränderungen. Dieser Forschungsstand wurde von der Fossilwirtschaft in großen Kampagnen angegriffen. „Klimawandelleugner“ gelten daher als Feindbilder und es ist sicher kein Zufall, dass Regierungskritiker kontinuierlich als „Coronaleugner“ diffamiert werden.
Die Devise „Hört auf die Wissenschaft“ verbinden Klimaaktive dagegen mit einer sachlichen Analyse, die sich gegen Profitinteressen wehren muss. Das schafft eine positive Assoziation, die verdeckt, dass die Interessenkonflikte in der Coronakrise ganz anders aufgestellt sind.
- Team Solidarität
„Seien Sie solidarisch. Lassen Sie sich impfen“, appelliert Gesundheitsminister Jens Spahn auf der Website seines Ministeriums. Und auch die Kanzlerin sprach in den letzten anderthalb Jahren auffallend häufig von Solidarität.
Der Begriff spielte eine wichtige Rolle bei den Protesten gegen die Umverteilung infolge der Finanzkrise. Auch in der Klimaschutzbewegung ist Solidarität ein großes Thema. Dort wird über die historische Verantwortung der Industriestaaten diskutiert, die im Laufe der Zeit sehr viel mehr Schadstoffe emittiert haben, als die südlichen Ländern. Dennoch ist die Südhalbkugel stärker von den Folgen betroffen, weshalb der Kampf um „Klimagerechtigkeit“ in den letzten Jahren den Diskurs prägte. Für Klimaschützer ist es daher ein bekanntes Thema, dass sie von Strukturen profitieren, unter denen andere, wirtschaftlich schwächere Länder leiden, die sich zudem schlechter gegen die drohende Gefahr wehren können.
Aus diesem Zusammenhang könnte sich die Leidenschaft erklären, mit der im linken und klimaschutzorientierten Umfeld für eine globale Verteilung der Impfstoffe und die Freigabe der Patente gestritten wird. Das knüpft an Muster an, die aus der Klimadebatte bekannt sind: Weltweite Solidarität wird eingefordert. Globaler Norden kämpft für globalen Süden.
- Team Selbstbeschränkung und Verzicht
Seit fast drei Jahrzehnten erklärt die Kanzlerin der Bevölkerung, diese müsse sich ändern. Ihre Bereitschaft zum Verzicht sei entscheidend für die Bewältigung der Krise. Das schlechte Gewissen, das mit diesen Vorwürfen getriggert wurde, könnte gerade in den ersten Monaten der Pandemie eine Rolle gespielt haben. Nun bot sich eine Gelegenheit, ein deutliches Zeichen zu setzen mit der Botschaft: Ich bin bereit, mich zu beschränken und eine unkomfortable Situation auszuhalten. An meiner Bequemlichkeit soll das Wohl aller nicht scheitern. Und im Gegensatz zur Klimakrise, bei der das „richtige“ Verhalten kompliziert ist, war das Wohlverhalten diesmal einfach: Eine Maske.
- Team Gemeinsinn
In sechzehn Jahren Regierungszeit praktizierte die Kanzlerin eine konzernfreundliche Politik, baute die staatlichen Strukturen im Sinne einer „marktkonformen Demokratie“ um und kürzte soziale Sicherungssysteme. Sie wusste, dass große Teile der Bevölkerung dem neoliberalen Wettbewerbsgedanken etwas entgegensetzen wollten und andere Prioritäten forderten. Dieses Bedürfnis versuchte sie zu bedienen, indem sie immer wieder den Gemeinsinn ansprach. „Zusammen gegen Corona“ heißt die Botschaft der zentralen Kampagne. In ihrer Rede in Davos lobte sie den „Einsatz von Menschen“, die überall im Land gemeinsam und verantwortlich handeln würden. „Das ist unser größter Schatz.“
Die Implosion der Rechts-Links-Koordinaten
So richtete sich die politische Kommunikation gleich auf mehreren Ebenen gezielt an Aktive und Unterstützer, die sich seit Jahren für eine soziale und ökologische Transformation einsetzen. Insofern wirkte die Ansprache der Kanzlerin wie eine große Kehrtwende, als hätte die Regierung auf die jahrelangen Proteste reagiert. Nun ermächtigte sich die Politik und behauptete, das im Sinne einer fürsorglichen Gesundheitspolitik zu tun. Diesmal würden die Entscheidungsträger die Gefahr nicht aussitzen, sondern mit größtmöglichem politischen Willen bekämpfen.
Das waren Vorgehensweisen, die linke Aktive und Klimaschützer immer gefordert hatten, und offenbar brachten die Äußerungen der Regierung sie völlig aus dem Konzept. So ist erklärbar, warum so viele von ihnen die rigorose Lockdown-Politik unterstützten. Vielleicht war es verlockend, die Behauptungen der Kanzlerin als Erfolg der eigenen Proteste zu interpretieren.
Die Coronakrise ist zweifellos ein komplexes Phänomen mit vielen Einflussfaktoren, aber die gezielte Verknüpfung von Klima- und Coronakrise hat sicher dazu beigetragen, dass die Lockdown-Politik der Bundesregierung im linken und klimaschutzpolitischen Umfeld so eine weitreichende Unterstützung erhielt. Dadurch wurden Maßnahmen, die zu einer gigantischen Umverteilung von Reichtum führten, die eine große Zunahme von Armut bewirkten, und die soziale und gesellschaftliche Schäden auf vielen Ebenen verursachten, als „links“ geframed und als klimaschutzpolitische Hoffnung dargestellt. Im Prinzip ist die Verknüpfung mit linker Politik das Gegenstück zum „Rechts-Framing“ der Kritiker. Dadurch implodierten die politischen Koordinaten und lösten eine große Verwirrung aus.
Diese aufwändige Strategie wäre nicht notwendig, wenn die Regierung die Klimakrise mit ein paar Zugeständnissen und Inszenierungen befrieden könnte. Doch wegen der systemischen Bedeutung der fossilen Produktionsweise ist das nicht langfristig möglich. Die Verknüpfung der beiden Themen ist deshalb ein Anzeichen für die Bedeutung der Klimakrise. Sie wird an die Coronapolitik gekoppelt, gerade weil sie so gefährlich ist – in ökologischer Hinsicht und als Bedrohung der politischen Stabilität.
Das Prinzip Hoffnung
Die scheinbare Kehrtwende der Regierung vermittelte vielen Klimaschützern eine Perspektive der Hoffnung und der Zuversicht. Dieser vermeintliche Silberstreif am Horizont war offenbar eine wirksame Assoziation. Dabei kann man die Ansprache der Bundeskanzlerin hier als besonders perfide bezeichnen, denn sie setzte direkt an der verzweifelten Ohnmacht an, mit der sich viele Aktive seit Jahrzehnten der neoliberalen Dynamik entgegengestellt hatten. Nun kämpften sie schon so lange gegen die zerstörerischen Geschäftsmodelle der Energiekonzerne, doch die Mauern des mächtigen fossil-energiewirtschaftlichen Komplexes schienen unüberwindbar. Und plötzlich erschien ein bisher unlösbares Problem als lösbar.
Doch die Hoffnung auf eine regierungspolitische Kehrtwende basiert auf einem Denkfehler. Die Bundeskanzlerin hat den Boden bereitet für eine repressive Klimapolitik, die gerade keine grundsätzliche Neuausrichtung der Energiepolitik bedeutet.
Die Chancen für eine tatsächliche soziale und ökologische Transformation stehen schlechter als vor zwei Jahren. Einen Klima-Lockdown – wie ihn der Politiker Karl Lauterbach gefordert hat – lehnen die Fridays For Future-Aktivisten und andere Klimaschutzbewegungen deutlich ab.
Aber der Diskurs hat sich verändert. So sind immer häufiger Verfahren, Beschränkungen oder Kosten in der Diskussion, die beim individuellen Verhalten ansetzen. Die Ermächtigung der Exekutive zielt dabei auf die Handlungsfreiheiten der Bürger, und richtet sich gerade nicht an die Verursacher der ökologischen Krisen.
Für die Energiekonzerne ist das eine optimale Entwicklung, denn sie können ihre Position halten und mit ein paar grün angestrichenen Produkten die Kritik abwehren. Eine systemische Lösung, die an den grundsätzlichen Strukturen der Energieversorgung ansetzt, rückt dadurch in noch weitere Ferne.
Über die Autorin: Anja Baisch, Jahrgang 1978, ist Politologin und Volkswirtin. Sie arbeitete wissenschaftlich zum Thema europäische Wirtschaftspolitik und beschäftigte sich mit Lobbyismus und Politikbeeinflussung. Auf der Seite klima-radikal.de bloggt sie über Macht und Ohnmacht in der Klimakrise.
Anmerkung
(1) Hermann Scheer (1998). Sonnen-Strategie. Politik ohne Alternative (2. Aufl.). Piper Verlag, München. S.20.
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