Iran: Proteste und Profiteure
FELIX FEISTEL, 24. Oktober 2022, 4 Kommentare, PDFHinweis: Dieser Beitrag ist auch als Podcast verfügbar.
Der chinesische Gelehrte Sun Tzu ist vor allem bekannt für sein Werk „Die Kunst des Krieges“, eine Anleitung für Feldherren, Kriege richtig zu führen und zu gewinnen. Darin beschreibt er unter anderem die Strategie für den Fall, dass der Feldherr seinen Feind nicht direkt angreifen könne, weil dieser zu mächtig sei. Dann solle er diesem zunächst die Verbündeten nehmen, sodass er allein dastehe. Seit 2014, als in der Ukraine der Maidan-Putsch stattfand, intensiver aber seit dem Jahr 2020, erleben nun die Verbündeten Russlands Wellen des Protests und Umsturzversuche. So gab es 2020 Unruhen in Weißrussland, die darauf abzielten, den Präsidenten Alexander Lukaschenko zu stürzen. In jüngster Zeit erlebten Kasachstan, Armenien und Kirgisistan Unruhen und Grenzstreitigkeiten, die scheinbar aus dem Nichts aufflammten.
Nun trifft es den Iran. Am 16. September verstarb die 22-jährige Kurdin Mahsa Amini im Gewahrsam der Sittenpolizei, wohin sie verbracht worden war, weil ihr Hijab nicht richtig saß und einige Haarsträhnen zu sehen waren. Aktivisten zufolge habe sie in Gewahrsam eine Kopfverletzung erlitten, in deren Folge der Tod eingetreten sei. Seitdem erlebt der Iran eine Protestwelle. Westliche Regierungen stellten sich augenblicklich auf die Seite der Protestierenden. Die US-Regierung verhängte neue Sanktionen.
Auch in den sozialen Medien ist der Protest groß. Auf Twitter trendete der Hashtag rund um den Fall Amini in einem historischen Ausmaß, wurde bereits mehr als 100 Millionen Mal geteilt. Eine Welle der Solidarität geht anscheinend um den Globus, Videos von symbolischen Aktionen, in denen Frauen sich Haarsträhnen abschneiden, werden massenhaft geteilt. Auch deutsche Schauspielerinnen beteiligen sich. Der internationale Widerstand gegen die iranische Regierung, gegen die Unterdrückung von Frauen und eine ungerechte Gesellschaft erscheint riesig, gewalttätig dagegen die Reaktion der Regierenden.
Geopolitik
Die Proteste begannen unmittelbar nach dem Tod der Frau am 16. September, und damit auch unmittelbar nach dem Treffen der Shanghai Cooperation Organisation (SCO) in Samarkand, bei dem am 15. September der Iran als vollwertiges Mitglied aufgenommen wurde. Die SCO ist eine internationale Organisation mit Sitz in Peking, der unter anderem China, Russland, Kasachstan, Indien und Pakistan angehören. Sie erstreckt sich damit von mittleren Osten über Zentralasien bis Süd- und Südostasien und repräsentiert mehr als 40 Prozent der Weltbevölkerung. Erklärtes Ziel der Organisation ist es, die Sicherheit und Stabilität in der Region zu wahren sowie in Wirtschaft und Handel eng zusammen zu arbeiten. Auch militärisch arbeiten die Länder innerhalb der SCO zusammen. Damit stellt die SCO einen Gegenentwurf zu vom Westen dominierten Bündnissen dar.
Ebenfalls Mitte September erklärte der Iran seine Absicht, ein Freihandelsabkommen mit der Eurasischen Wirtschaftsunion, der einige Ex-Sowjetrepubliken und Russland angehören, zu schließen. Darüber hinaus hat der Iran mehrere Verträge mit Russland geschlossen, darunter über die Lieferung von Erdgas, sowie ein Transitabkommen, um russisches Gas ins benachbarte Pakistan zu bringen.
Für den Iran bietet der Beitritt zur SCO und die enge Bindung an die Eurasische Wirtschaftsunion große Vorteile. Denn das Land leidet schon seit Jahrzehnten unter westlichen Sanktionen, die seine Entwicklung behindern. Der Iran war bis zum Jahr 2022 das am meisten sanktionierte Land der Welt – bevor er in dieser Rolle durch Russland abgelöst wurde. So ist es dem Iran nicht gestattet, internationale Zahlungsdienste zu benutzen, was dazu führt, dass das Land wichtige Güter wie Medikamente nicht einführen kann. Daher leidet der Iran an einer Knappheit von Medikamenten für 30 verschiedene Krankheiten, darunter Krebs und Herzerkrankungen. Die Sanktionen sind ein Grund, weshalb sich die Islamische Republik seit ihrer Gründung im Jahre 1979 in einer wirtschaftlichen Situation der Stagflation befindet, mit geringen Wachstumsraten und hoher Inflation und Arbeitslosigkeit.
Zudem wurden im Rahmen der Sanktionen immer wieder Auslandsvermögen eingefroren, Handelsembargos verhängt und jede Unterstützung für die Erdölproduktion des Landes verweigert. Erdöl ist einer der wichtigsten Bodenschätze des Iran. Mehr als 20 Milliarden Tonnen lagern dort. Damit liegt das Land im internationalen Vergleich an vierter Stelle, noch vor Russland.
Dieses Erdöl ist auch im Westen begehrt. Als der demokratisch gewählte Premierminister Mossadegh in den 1950er Jahren die iranischen Erdölkonzerne verstaatlichte, die bis dato in britischer und amerikanischer Hand gewesen waren, führte das zu einem von britischen und US-amerikanischen Geheimdiensten organisierten Putsch, in dem sie Schah Palavi an die Spitze des Landes setzten. Dieser führte ein brutales Regime und machte die Erdölquellen dem Westen wieder zugänglich. Erst 1979 wurde er durch eine islamische Revolution, angeführt von Ayatollah Khomeini, gestürzt, die das heutige Regierungssystem etablierte und die Ölquellen wieder verstaatlichte. Seitdem steht der Iran in den USA auf der Liste der „Schurkenstaaten“, wird vom Westen sanktioniert und immer wieder unter Druck gesetzt.
Doch geht es nicht allein um Erdöl. Denn das Land grenzt im Süden an den persischen Golf und im Norden mit dem kaspischen Meer an den größten See der Erde – und ist somit auch das Tor zum Kaukasus. Damit liegt das Land auch geostrategisch günstig.
Das Atomprogramm
Zudem verfügt der Iran schon seit Jahren über ein Atomprogramm. Das ist insbesondere dem Erzfeind Israel ein Dorn im Auge, der dem Iran vorwirft, palästinensische Gruppen, die in Israel als Terroristen gelten, sowie die Hisbollah im Libanon zu unterstützen und auf diese Weise einen Stellvertreterkrieg gegen Israel zu führen. Israel selbst verfügt über Atomwaffen, sieht sich aber durch die Möglichkeit iranischer Atomwaffen bedroht. Denn der Iran erkennt Israel nicht als Staat an, sondern bezeichnet es als „zionistisches Regime“, und das Staatsgebiet des Landes als „besetztes Gebiet“. Auch die USA stören sich an den Experimenten mit spaltbarem Material und der Anreicherung von Uran, die in der islamischen Republik unternommen werden.
Das im Jahr 2015 nach 13 Jahren Verhandlungen geschlossene Atomabkommen, das unter anderem vorsah, die Menge angereicherten Urans und die Menge der dafür zur Verfügung stehenden Zentrifugen drastisch zu reduzieren, sowie die Schwerwasserreaktoren in Arak umzubauen, wurde 2018 einseitig von den USA gekündigt. Nach neuerlichen Sanktionen der USA gegenüber der islamischen Republik hat diese ebenfalls ihre Verpflichtungen ausgesetzt. Seitdem schwelt der Streit um das iranische Atomprogramm. Ein Versuch Joe Bidens, das Atomabkommen wieder zu beleben, wird von Hardlinern unter den Abgeordneten torpediert. Sie sehen das Atomprogramm des Iran lieber vollständig beendet, als nur reguliert.
Die Annäherung des Iran an Russland und China, sowie die damit verbundenen Wirtschafts- und Militärbündnisse stärken die Position des Iran gegenüber dem Westen. Durch den unter dem Druck der Sanktionen gegen Russland eingeführten, alternativen Zahlungsdienst „Mir“ kann der Iran wieder Zugriff auf einen Teil des internationalen Marktes erlangen, ein Aspekt, der auch für die medizinische Versorgung des Landes von Interesse ist. Zugleich ist der Iran ein starker Verbündeter Russlands in der Region. Ein Interesse daran, den Iran zu schwächen, und die Regierung durch eine prowestliche auszutauschen, haben unter anderem die USA, Großbritannien und Israel. Diese Ambitionen bringen sie auch immer wieder zum Ausdruck.
Westliche Einflussnahme
Am 17. August referierte John Bolton, zuletzt Sicherheitsberater von US-Präsident Trump, auf einer vom Nationalen Rat des iranischen Widerstandes (NCRI) in Zusammenarbeit mit der US-Regierung veranstalteten Konferenz anlässlich des 20. Jubiläums der Natanz-Enthüllungen – die das iranische Atomprogramm öffentlich gemacht hatten –, dass der Schlüssel für einen Regime Change im Iran die iranische Bevölkerung sei. Dass es hier ein tatsächliches Umsturzpotenzial gibt, weiß auch die iranische Opposition. Gerade in den großen Städten gibt es eine prowestliche, liberale Strömung, welche die Regierung ablehnt.
Der NCRI besteht aus einer Reihe iranischer Dissidentengruppen, hauptsächlich jedoch aus dem MEK (Mojahedin-el-Kalq), zu deutsch „Volksmudschaheddin“. Beim MEK handelt es sich um eine neostalinistische Vereinigung oppositioneller Iraner, die schon vor der Revolution von 1979 damit begonnen haben, den Shah gewaltsam zu bekämpfen. Nach der Revolution richtete sich der Kampf der Gruppe gegen die islamische Republik. Immer wieder verübte sie Sprengstoffanschläge und Morde. Aus diesen Gründen gilt sie im Iran als Terrororganisation. Diesen Status hatte der MEK bis 2012 auch in den USA inne, wurde dann jedoch von der Liste der Terrororganisationen gestrichen. Die Gruppe erhielt schon vorher, unter George W. Bush, im Geheimen starke Unterstützung des US-Militärs in Sachen Ausbildung. Auch die CIA nutzte die Gruppe, um den Iran zu destabilisieren.
Laut dem albanischen Historiker Olsi Jazexhi unterstützen auch Großbritannien, Israel und Saudi-Arabien den MEK. Seine Zentrale befindet sich seit einigen Jahren in Albanien, wohin die Mitglieder aus dem Irak nach Angriffen auf den US-Stützpunkt Camp Liberty ausgeflogen wurden. Die Kämpfer waren dort stationiert gewesen, um sich auf Seiten der USA am Krieg zu beteiligen.
Eigenen Angaben zufolge plant der NCRI die Zukunft des Iran. Dies geschieht aus dem Ausland. So hat die Organisation einen Sitz in Paris und eben in Albanien. Die erwähnte Konferenz fand hingegen in Washington statt und wurde von einer Reihe einflussreicher US-Politiker besucht. Auf der Konferenz sprach auch Yonatan Freeman, Politikwissenschaftler an der Universität Jerusalem, der erklärte, dass die israelische Regierung mit dem Atomprogramm des Iran nicht einverstanden sei, was die Regierung dazu bewegen könnte, die iranische Opposition zu unterstützen. Die israelische Regierung hatte Medienberichten zufolge schon 2012 iranische Wissenschaftler des Atomprogrammes von einer iranischen Oppositionsgruppe ermorden lassen.
Die iranische Gesellschaft: Nicht nur schwarz und weiß
Laut dem Bild, das aktuell von den Protesten im Iran in den Medien vermittelt wird, greift ein unbeliebtes Regime mit aller Gewalt gegen die eigene Bevölkerung durch. Differenzierter ist der Eindruck, wenn man mit Menschen vor Ort spricht, so wie es der Journalist Max Blumenthal in einem Interview getan hat. Er sprach mit der in Isfahan lebenden Lehrerin Setareh Sadeghi, die sich in ihrem Studium mit US-Menschenrechtsbewegungen und Propaganda auseinandergesetzt hat. Sie ruft zunächst einen Umstand in Erinnerung, der in der westlichen Sichtweise oftmals zu kurz kommt: Der Iran ist ein muslimisches Land. Das betrifft nicht nur die Regierung, sondern ebenso die Bevölkerung. Viele dort lebende Menschen sind überzeugte Muslime, die ihre Religion leben. Daher sei es keineswegs so, dass alle Frauen den Hijab loswerden wollten.
So seien auch nicht alle Frauen im Iran gegen die Sittenpolizei. Wo es Regeln gibt, da gibt es auch jene, die diese durchsetzen. Es gäbe zwar viele Menschen, die den Hijab vollkommen ablehnen – und damit auch die Sittenpolizei. Aber ebenso gäbe es jene, welche an den Hijab glauben, die Sittenpolizei aber ablehnen, oder lediglich die Strafen, die von dieser verhängt werden. Die iranische Bevölkerung sei hier keineswegs homogen in Opposition zur Regierung eingestellt.
Twitter als Propagandainstrument
Sadeghi zufolge wurde der Hashtag zum Fall Amini auf Twitter populär, weil einzelne Accounts ihn in sinnlosen Zusammenhängen immer wieder posteten. Diese Accounts gehen demnach auf eine CIA-gestützte Trollfabrik in Albanien zurück, die vom MEK betrieben wird. Das geht so weit, dass ganze Personen erfunden werden, bei denen es sich scheinbar um iranische Dissidenten handelt, die anti-iranische Postings verbreiten. Bekannt wurde im Jahr 2019 der Fall von Heshmat Alavi, dessen Lob für Donald Trump wegen seines harten Kurses gegenüber dem Iran der damalige US-Präsident auf Twitter geteilt hatte. Heshmat Alavi war allerdings eine fiktive Person. Der MEK betrieb den Account. Die Berichte und Posts von Alavi fanden ihren Weg auch in die Presse. Auch auf diesem Weg wurde damals und wird auch heute wieder das Bild des Iran in der Öffentlichkeit geformt.
Im Iran ist die Nutzung von Twitter seit 2009 verboten. Trotzdem nutzen Millionen von Iranern über technische Umwege den Dienst, unter ihnen auch der islamische Hardliner Ajatollah Ahmad Chatami. Sadeghi erklärt, den meisten Iranern sei bewusst, dass Twitter nicht die Realität abbilde. Als Instrument findet der Dienst dennoch Verwendung.
Wahrer Protest findet Sadeghi zufolge im Iran auch nicht auf Twitter statt, sondern in Aktionen zivilen Ungehorsams und anderen Kampagnen direkt vor Ort. Soziale Medien verzerrten die Sicht auf die Wirklichkeit. Auch der Umstand, dass westliche Medien oft nur Exiliraner zu Wort kommen ließen, welche beispielsweise auch von der amerikanischen Regierung unterstützt werden und im Grunde die westliche Sicht auf die Befreiung der Frauen im Iran wiedergeben, würde nicht zu einer akkuraten Wiedergabe der Situation vor Ort führen. Es sei auch nicht so, dass Frauen im Iran völlig unfrei wären. Ganz im Gegenteil seien sie oftmals hoch gebildet, studierten, seien Ärzte, Ingenieure und am gesellschaftlichen Leben in bedeutender Weise teilnehmen. Was den Frauen tatsächlich helfen würde, wäre eine Aufhebung der westlichen Sanktionen. Dies jedoch forderten die Exilanten in der Regel nicht.
Das Bild einer unterdrückten iranischen Bevölkerung, insbesondere der Frauen, die unter dem „Regime“ leiden, wird allerdings durch Medien geschürt. Daran nehmen auch die erwähnten Trollfabriken des MEK Teil, die nicht selten auf Twitter jeden mit einem Shitstorm überziehen, der etwas Positives aus seinem Leben im Iran postet. Twitter ist damit ein wichtiges Instrument, um das Bild der Welt vom Iran zu formen und Protestpotenzial auf den Straßen des Landes freizusetzen. Auch die iranische Regierung misst sozialen Medien erhebliche Bedeutung bei. Im Zuge der jüngsten Unruhen erklärte sie, Meta, den Mutterkonzern von Facebook und Instagram wegen Verbreitung von Fake News und Hetze verklagen zu wollen. Die Regierung sieht soziale Netzwerke als Teil einer Operation des Westens gegen den Iran.
Der Fall Amini
Die Hintergründe des Todes von Mahsa Amini sind strittig. Mittlerweile ist ein Video einer Überwachungskamera aufgetaucht, das Amini in Gewahrsam zeigen soll. Auf diesem sieht man, wie die junge Frau plötzlich und ohne Einfluss von außen zusammenbricht. Andere Aufnahmen zeigen, wie sie daraufhin ins Krankenhaus verbracht wird. Die iranische Regierung, die unmittelbar nach Bekanntwerden des Falles eine Untersuchung anordnete, hat mittlerweile eine Erklärung zu ihrem Tod veröffentlicht. Demnach sei sie an den Folgen eines Eingriffes gestorben, der in ihrer Kindheit an ihrem Gehirn aufgrund eines Hirntumors vorgenommen worden sei. Aus diesem Grund hätte sie noch immer Hormone einnehmen müssen. Berichtet wurde, dass der Vater des Mädchens die staatliche Erklärung nicht glaube. Amini sei bei bester Gesundheit gewesen, bevor sie in Gewahrsam gekommen sei. Auch beklagen die Anwälte der Familie, dass ihnen keine Einsichtnahme in die Untersuchungsakten gewährt werde.
Die Proteste
Die Proteste, bei denen viele Iranerinnen und Iraner, jene die Hijab tragen und jene die es ablehnen, zunächst friedlich auf die Straße gingen, wurden nach kurzer Zeit von einer Gruppe gewalttätiger Personen gekapert. So berichtet es die iranische Politanalystin Hiba Morad. Diese gewalttätigen Demonstranten zögen demnach marodierend durch Teheran und andere große Städte, attackierten und töteten Sicherheitskräfte und verursachten Chaos. Bei einigen von ihnen seien größere Waffenarsenale entdeckt worden. Berichten zufolge sind auch terroristische Organisationen wie das MEK in die Proteste verwickelt.
Videos der Proteste zeigen, dass die Gewalt auch von Demonstranten ausgeht. Sie randalieren und zerstören geparkte Autos, oder Bankgebäude. Immer wieder kommt es zu Schusswechseln mit der Polizei. Mehrere Polizisten wurden getötet. Insgesamt sind sind seit Beginn der Proteste mehr als 200 Menschen ums Leben gekommen. Zudem sind unzählige Menschen verletzt oder in Gewahrsam genommen worden.
Die kurdische Dimension
Die Aufstände haben zudem eine weitere Dimension. Mahsa Amini war Kurdin, und so ist es wenig verwunderlich, dass die ersten Proteste hauptsächlich von den Kurden ausgingen und gerade in den Regionen, in denen die kurdische Minderheit stark ist, Proteste besonders verbreitet sind. Auch die ersten Todesopfer der Proteste waren Kurden. BBC berichtete vom Einsatz scharfer Munition gegen kurdische Protestierende und von Anzeichen eines „Massakers“ in der Hauptstadt der westiranischen Provinz Kurdistan Sanandaj. Es gibt auch Berichte über kurdische Gruppierungen, die vom Irak kommend Polizeiwachen und Grenzposten attackiert und angezündet und versucht hätten, auf das Gebiet des Iran durchzubrechen. Vergolten wurde dies mit Luftschlägen gegen Kurden im Irak durch das iranische Militär. Unter den Kurden ist bereits die Rede von einer Revolution.
Die Kurden werden auch im Iran unterdrückt, und so gibt es auch dort militante Gruppen, die gewalttätig agieren. Die iranische Regierung beschuldigt nun kurdische Bewegungen separatistischer Bestrebungen. Dem stimmte auch Çağatay Balcı von der nationalen Verteidigungsuniversität in Ankara zu. Ihm zufolge haben mehrere militante kurdische Bewegungen, darunter Ableger der PKK, die anfangs friedlichen Proteste gekapert und benutzten sie zu Umsturzversuchen.
Die Kurden wurden immer wieder von den USA unterstützt. Dies geschah in Syrien, wo sie mit westlicher Hilfe in Regionen im Norden des Landes den Einfluss der Regierung zurückgedrängt haben. Ebenso geschieht das im Iran.
Die Videoaufnahmen und Beschreibungen von marodierenden Banden, die Brände legen, Polizisten töten, Krankenwagen zerstören und dabei keine anderen Forderungen haben, als allein den Sturz der Regierung, erinnern zudem an die Aufstände in Kasachstan Anfang dieses Jahres. Auch dort gibt es starke Hinweise darauf, dass die zu Beginn friedlichen Proteste gewaltsam gekapert und aus dem Ausland angefacht worden sind.
Unzufriedenheit im Land
Die meisten Iraner lehnen solche Gewalt vollkommen ab. Auch Setareh Sadeghi erklärt, dass die Aufrufe, die Regierung zu stürzen nicht das Anliegen der meisten iranischen Frauen nach Reformen reflektiert. Daher hielten sie sich von diesen Demonstrationen fern. Ähnlich schreibt es Hiba Morad.
Andererseits herrscht im Iran ein hohes Maß an Unzufriedenheit. Die ökonomische Situation ist für viele aussichtslos. Der ehemalige Sprecher des iranischen Parlaments, Ali Larijani, erklärte einmal, dass 80 Prozent der Probleme des Landes auf Missmanagement zurückgingen, und nur 20 Prozent den Sanktionen geschuldet seien. Die Regierung erscheint vielen korrupt und demokratische Mitsprache kaum mehr als schöner Schein, da sich die zu wählenden Vertreter aus dem System selbst rekrutieren. Nicht einmal 50 Prozent der Wahlberechtigten haben bei der Wahl im Jahr 2021 ihre Stimme abgegeben. Es besteht somit ein großes Potenzial für Proteste, an das westliche Regierungen in ihren Bestrebungen zu einem Regime Change anknüpfen können – so wie es John Bolton richtig erkannt hat.
Über den Autor: Felix Feistel, Jahrgang 1992, studierte Rechtswissenschaften mit dem Schwerpunkt Völkerrecht. Seit 2017 arbeitet er als freier Journalist, unter anderem für den Rubikon.
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