Adolf Hitler in Bayreuth (Juli 1938), rechts Wieland Wagner, links Winifred Wagner, Bild: picture-alliance / Mary Evans Picture Library/WEIMA

Hitler-Bayreuth? Wieland Wagner im Zwielicht

In wenigen Tagen beginnen die Bayreuther Richard-Wagner-Festspiele. Eine Reihe Corona-bedingter Einschränkungen dürfte den Kunstgenuss trüben, aber immerhin: anders als im vergangenen Jahr kann das Festival 2021 wieder steigen. Zudem steht diesmal ein Jubiläum an, denn 1951, also vor 70 Jahren, ging „Neubayreuth“ an den Start. Die Festspiele im BRD-Kontext sollten die zwölf braunen Jahre unter der Ägide der Hitler-Verehrerin Winifred Wagner vergessen machen. Dieser künstlerische Aufbruch ist aufs engste mit Wieland Wagner verbunden, einem Enkel des Komponisten. Er leitete die Nachkriegsfestspiele (zusammen mit Bruder Wolfgang) bis zu seinem frühen Tod 1966. Nach wie vor genießt Wieland Wagner vielerorts einen legendären Ruf. Doch war dieser Mann wirklich die untadelige Lichtgestalt, als die er lange Zeit erschien?

ULRICH TEUSCH, 17. Juli 2021, 0 Kommentare, PDF

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Pünktlich zum Festspiel-Jubiläum hat der Musik- und Theaterwissenschaftler Anno Mungen unter dem Titel „Hier gilt’s der Kunst“ (ein Zitat aus den Meistersingern) im Frankfurter Westend Verlag ein schmales, sorgfältig recherchiertes, dicht und elegant geschriebenes Buch vorgelegt, das der Frage nachgeht, was der 1917 geborene Wieland Wagner eigentlich in der NS-Zeit getan und gelassen hat. Wie agierte er, bevor er schließlich nach dem Krieg in Bayreuth künstlerisch zum Zuge kam und als fortschrittlicher Reformer, Modernisierer und Ahnherr des wirkmächtigen Regietheaters gefeiert wurde? War dieser Weg zum Republik-kompatiblen Festspielchef vorgezeichnet? War schon in den 30er und 40er Jahren erkennbar, wohin sich Wieland Wagner künstlerisch und politisch dereinst bewegen würde?

Die Antwort lautet: Nein, das war nicht oder nur mit großer Mühe erkennbar. Mungen attestiert dem jungen Wagner ein fragwürdiges Verhalten im „Dritten Reich“. Seine Darstellung bewegt sich auf Linien, die in den vergangenen Jahren schon von anderen Autoren (etwa der Historikerin Brigitte Hamann) beschritten wurden. Ohne die Nachkriegsverdienste Wagners in Abrede zu stellen, unterzieht Mungen dessen Gebaren in der NS-Zeit einer kritischen Würdigung, die nichts verschweigt oder verklärt.

Wie Vater und Sohn

Schon das Buchcover ist vielsagend: Da sieht man einen ernst, beinahe herrisch in die Kamera blickenden Adolf Hitler, rechts von ihm und untergehakt einen zur Seite schauenden Wieland Wagner, ein wenig unsicher und befangen wirkend. Es könnte sich auch um das Bild eines gestrengen Vaters und seines folgsamen Sohnes handeln. Das Titelbild lässt eine enge, tiefe Beziehung zwischen dem Diktator und dem jungen Spross des Wagner-Clans vermuten.

Es sind vor allem die Jahre 1941 bis 1945, für die Mungen sich interessiert. Auf Basis welcher Quellen tut er das? Da sind natürlich zunächst die Nachlässe Wieland Wagners, seiner Ehefrau und seines Bruders, dazu die beiden Bayreuther Tageszeitungen. Vor allem aber konsultiert Mungen die Tagebücher der Gertrud Strobel – Tausende von eng beschriebenen Seiten. Gertrud Strobel und ihr Mann arbeiteten in der „Richard-Wagner-Forschungsstätte“ und lebten in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Wagners. Gertrud hielt alle Haupt- und Nebensachen fest, die ihr zu Ohren und vor die Augen kamen. Ihre Aufzeichnungen, bislang nicht ediert, sind eine Fundgrube, aus der Anno Mungen reichlich schöpfen kann.

Schon einer der ersten Hinweise auf Gertrud Strobel, sehr früh im Buch, mag irritieren: Denn da wird sie zum einen als „überzeugte Nationalsozialistin“ vorgestellt. Doch zum anderen heißt es, die Leiter der Festspiele (also Winifred Wagner und ihr Team) seien ihr ein Dorn im Auge gewesen. Man fragt sich: Wie kann das sein? Immerhin handelte es sich bei den damaligen Festspielen um „Hitler-Bayreuth“! Was genau hat die überzeugte Nationalsozialistin auszusetzen?

Doch damit nicht genug: Gertrud Strobel und ihr Mann, heißt es weiter, hätten als Wieland Wagners „Komplizen“ gehandelt. Soll man daraus schließen, dass auch Wieland gegen die Leitung der Festspiele (und damit gegen seine Mutter) opponierte? Wäre das nicht eine merkwürdige, im Grunde unwahrscheinliche Konstellation?

Hitler in Bayreuth

Der Begriff „Hitler-Bayreuth“ ist schon gefallen. Was hat man darunter zu verstehen? Ein Antwortversuch muss historisch etwas weiter zurückgreifen: Im Ersten Weltkrieg und in den Inflationsjahren der Weimarer Republik hatte es keine Bayreuther Festspiele gegeben. Das Unternehmen litt unter einer erheblichen Schuldenlast. Dem damaligen Festspielleiter Siegfried Wagner, Sohn des Komponisten, war es darum zu tun, bei potentiellen Förderern und Besuchern den Festspielgedanken wach zu halten und das bisher Geleistete in einem günstigen Licht erscheinen zu lassen. Zu diesem Zweck veröffentlichte er 1923 eine kleine Autobiografie.

Im Jahr 1923 war es auch, dass der Wagner-Verehrer Adolf Hitler dem Bayreuther Haus Wahnfried erstmals seine Aufwartung machte. Er gewann die Sympathie Winifreds, der aus England stammenden Gattin Siegfried Wagners. Ihre Zuneigung war nicht nur persönlicher, sondern auch politischer Natur. Sie engagierte sich fortan für die nazistische „Bewegung“.

Als Mitte der 1920er Jahre nach langer Pause endlich wieder Festspiele stattfinden konnten, war Hitler abermals zugegen. Seine erste Bayreuther Götterdämmerung (1925) wurde für ihn zu einem rauschhaften Erlebnis. Und seine Beziehung zur Wagner-Familie gewann eine außergewöhnliche Intensität.

„Auch ohne genetische Verbindung ist Wolf, wie die Kinder Hitler nennen, jetzt Teil des Clans, ein väterlicher Onkel, der ab 1930, dem Todesjahr von Siegfried Wagner, zum Ersatzvater avanciert. Hitler kommt 1933 als Reichskanzler erneut zu den Festspielen und wohnt nun einem vollständigen Bayreuther Ring bei. Das neue Staatsoberhaupt entsendet nicht nur in diesem Jahr, sondern auch fortan viel Geld nach Oberfranken.“

Beide Seiten profitieren von dem engen Verhältnis. Die Wagners werden dank Hitler „zur ranghöchsten deutschen Familie mit Standleitung zum Regenten“. Dieser wiederum weiß sein Bayreuther Hoftheater, wie Thomas Mann es nannte, zu schätzen, geriert sich wie ein barocker Herrscher, genießt seine Aufenthalte in Bayreuth, seine Ausflüge mit der Familie. Hitler ist nicht nur ein großzügiger Financier, er nimmt sich auch Rechte heraus. Schon zu Beginn seiner Diktatur lässt er den von ihm verehrten Alfred Roller, einen international renommierten Bühnenbildner, nach Bayreuth engagieren. Und bis zuletzt mischt er sich in die Programmplanung ein, wobei seine Wünsche von der Festspielleitung wie selbstverständlich befolgt werden (und wohl auch befolgt werden müssen).

Sodann: In den von Mungen betrachteten Kriegsjahren 1941 bis 1945 waren die Festspiele nicht länger ein Stelldichein der kulturbeflissenen High Society. Im Gegenteil, das Auditorium des Bayreuther Opernhauses wurde nun von der Organisation „Kraft durch Freude“ (KdF) bewirtschaftet. Verwundete Soldaten und Arbeiter der Rüstungsindustrie bildeten das Publikum. Der Chef von KdF, Bodo Lafferentz, stand dem Festival „als eine Art Geschäftsführer vor, der nichts von seinem Etat einspielen muss“. Bayreuth wurde zum Schauplatz von „Kriegsfestspielen“. Und wenn auf der Bühne Massenszenen zu realisieren waren, konnte es durchaus sein, dass Mitglieder der Hitlerjugend, des Bundes Deutscher Mädel oder der SS-Standarte Wiking auftraten, natürlich nicht uniformiert, sondern in historischen Kostümen.

In mancherlei Hinsicht (nicht in jeder Hinsicht, wie wir noch sehen werden) war also das Bayreuth der Hitlerjahre tatsächlich ein Hitler-Bayreuth. Das konnte auch kaum anders sein: Richard Wagner und die Wagner-Festspiele nahmen im Kulturleben des NS-Staates und seiner Außenwirkung einen unvergleichlichen Rang ein.

Karriere im Krieg

Das alles hat Wieland Wagner selbstverständlich hautnah mitbekommen. Und da er selbst künstlerische Ambitionen hegte und dem Werk seines Großvaters anhing, war er erpicht darauf, in genau diesem Bayreuth tätig zu werden. Zunächst schien sich die Sache gut anzulassen. Schon 1936 durfte er die Parsifal-Bühnenbilder von Alfred Roller überarbeiten. Doch die Resonanz fiel ungünstig aus. Wieland realisierte, dass sein Name oder seine Herkunft den Erfolg nicht garantierten. Er musste sich bilden und weiterbilden. Und Adolf Hitler, jetzt Diktator, stand ihm treu zur Seite.

„Hitler ist Wagners Mentor. (…) Wagner kennt Hitler als den Freund der Eltern von klein an und erbietet ihm Respekt. Der engagiert sich für ihn, und es ist nicht wenig, was Hitler für Wagner tut. Er schanzt ihm Aufträge zu, stellt ihn vom Militär frei und lässt sich von ihm fotografieren. (…) Wagner (…) darf seine Hitlerfotos vermarkten. (…) Das Geschäft mit den Führerbildern ist einträglich.“

Wieland Wagners Verhältnis zu Adolf Hitler wird im Lauf der Zeit immer enger. Er wird für den Diktator zur vielleicht wichtigsten Person im Wagner-Clan. Immer wieder treffen sich die beiden. Man kann wohl sagen, dass sie ein freundschaftliches Verhältnis pflegen. Und wenn Hitler einmal keine Zeit hat, kümmert sich Goebbels um den jungen Wagner.

Nach dem eher missglückten ersten Gehversuch bei den Bayreuther Festspielen zieht Wieland mehrere Engagements als Bühnenbildner und/oder Regisseur an den Theatern in Nürnberg und im thüringischen Altenburg an Land. „Während Deutschland auf den Untergang zusteuert, nimmt Wagners Karriere Fahrt auf“, schreibt Mungen. Doch im eigenen Haus, den Bayreuther Festspielen, gestaltet sich die Sache zäh.

Hitler hätte wohl nichts dagegen gehabt, wenn die Leitung der Festspiele an Wieland gefallen wäre. Allerdings tat er nichts, um das zu ermöglichen. Wieland hingegen scharrt ungeduldig mit den Hufen und lässt nichts unversucht, um an die Schalthebel zu gelangen. Er bedient sich dabei äußerst fragwürdiger Methoden. Es zieht sich wie ein roter Faden durch Mungens Buch: Wieland lässt nicht locker, unternimmt immer neue Anläufe, um die Festspielleitung anzuschwärzen, unter Druck zu setzen oder aus dem Amt zu drängen.

Man fragt sich: Wie war so etwas möglich? Musste Wieland denn nicht davon ausgehen, dass in einer für das Regime derart wichtigen Einrichtung wie den Bayreuther Festspielen eine handverlesene, nibelungentreue, sakrosankte Führungsriege agiert, die sich des ungeteilten „Führer“-Wohlwollens erfreut? Wie kam er dazu, diese Hierarchie zu attackieren?

Und wen genau attackierte er? Dass er seine Mutter nicht vom Grünen Hügel würde vertreiben können, war ihm frühzeitig klar. Sie war Anfang vierzig und noch nicht bereit, das Feld zu räumen. Also richtete Wieland seine Angriffe, Intrigen und Denunziationen notgedrungen gegen Winifreds wichtigste Helfer. Die hießen: Heinz Tietjen und Emil Preetorius.

Attacke!

Der eine, Tietjen, war ein versierter Dirigent und Regisseur und fungierte seit der zweiten Hälfte der 20er Jahre als Generalintendant der Preußischen Staatstheater. Der andere, Preetorius, gehörte zu den führenden Bühnenbildnern des Landes und war seit vielen Jahren Tietjens kongenialer Partner.

Wielands Angriffe beschränkten sich nicht darauf, den beiden künstlerisch am Zeug zu flicken, also ihren Dirigaten und Bühnenbildern Abweichungen vom erklärten Willen des Meisters nachzusagen. Es ging in dieser Auseinandersetzung wesentlich härter – nämlich politisch – zur Sache. Der mit Wieland paktierende Dirigent Kurt Overhoff ließ zum Beispiel Ende 1942 triumphierend verlauten, man habe die „höchste Stelle“ (also Hitler) über Tietjen aufgeklärt…

Die übelste Attacke betraf Preetorius: In einer Denunziation (wiederum Ende 1942) hieß es, er pflege Kontakte zu Juden. Bald fanden sich Briefe, die das belegten. Preetorius geriet in eine lebensgefährliche Situation und mehrere Wochen in die Fänge der Gestapo. Er überlebte, doch erhielt Berufsverbot, wurde in Bayreuth abserviert. Anfang 1943 befasste sich Hitler persönlich mit dem Fall und hob das Berufsverbot wieder auf. Beweisen lässt es sich wohl nicht, aber es ist nicht unwahrscheinlich, dass Wieland hinter der Denunziation steckte und dass Mutter Winifred ihren Einfluss zugunsten von Preetorius geltend machte.

Nochmal also die Frage: Wieso kann Wieland es wagen, diese beiden herausragenden Akteure der Bayreuther Festspiele frontal anzugreifen? Mungen streift dieses Thema immer wieder, gibt aber letztlich leider keine klare Antwort. Versucht man, dem Rätsel auf die Spur zu kommen, muss man zunächst festhalten: Tietjen und Preetorius verdankten ihren Aufstieg nicht dem NS-Staat. Sie hatten ihre Karriere in der Weimarer Republik gemacht. Sie waren Künstler von Rang, auf die maßgebliche Kräfte des NS-Regimes nicht verzichten wollten. Und dies, obwohl beide der NS-Ideologie und dem -Regime auf unterschiedliche Weise fernstanden. Preetorius war eine Künstlernatur und eher unpolitisch. Tietjen hingegen galt als politisch versiert und mit allen Wassern gewaschen. Da lohnt ein genauerer Blick!

Tietjens Aufstieg

Seit 1919 zählte der spätere preußische Kultusminister Carl Heinrich Becker, ein Liberaler, zu den Förderern Tietjens, ebenso der große Musikreformer der Weimarer Republik, Leo Kestenberg (ein linker Sozialdemokrat und Jude, der sich nach 1933 über die Stationen Prag und Paris schließlich nach Tel Aviv rettete). Nach langen Lehrjahren in der Provinz wurde Tietjen 1925 an die Berliner Städtische Oper berufen. Nur ein Jahr später übernahm er die beiden staatlichen Opernhäuser „Unter den Linden“ und am Platz der Republik („Kroll-Oper“).

1927 wurde er zum Generalintendanten aller Preußischen Staatstheater ernannt, zu denen zusätzlich das Schauspielhaus am Gendarmenmarkt, das Schillertheater sowie die Theater in Wiesbaden und Kassel gehörten. Als hätte diese Ämterfülle nicht genügt, berief ihn Winifred Wagner 1931 obendrein zum künstlerischen Leiter der Bayreuther Festspiele, deren Zukunft nach dem plötzlichen Tod Siegfried Wagners gefährdet schien. Kultusminister Adolf Grimme gab anstandslos sein Plazet, und so hatte Tietjen noch zu Weimarer Zeiten – in einem sozialdemokratisch geprägten kulturpolitischen Umfeld – alles erreicht, was man als Theatermann in Deutschland erreichen konnte.

Tietjen ist nie ein Theaterrevolutionär gewesen, doch ebenso wenig war er ein konservativer Traditionalist. Den an die Macht strebenden Nationalsozialisten galt er als Exponent des verhassten Weimarer „Systems“. Umso mehr muss es noch heute erstaunen, dass Hermann Göring schon 1932 das Gespräch mit ihm suchte, um in Erfahrung zu bringen, ob er auch unter einer NS-Regierung bereit wäre, in seinen Ämtern zu bleiben.

Eine prekäre Stellung

Selbstverständlich kann man es Tietjen zum Vorwurf machen, dass er sich – nach anfänglichem Zögern – schließlich mit den neuen Machthabern einließ. Die Möglichkeiten des Rücktritts oder der Emigration hätten ihm offen gestanden. Der Vorwurf lässt sich auch nicht durch den Hinweis entkräften, dass Tietjen zumindest bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs in Berlin und Bayreuth ein Musiktheater der internationalen Spitzenklasse geboten hat. Im Gegenteil, hat er doch gerade durch diese allenthalben unbestrittenen Leistungen maßgeblich zum kulturellen Renommee des Nazi-Regimes beigetragen.

Dennoch gibt eine Argumentation dieser Art lediglich eine Außenperspektive wieder. Aus einer Binnenperspektive stellt sich zunächst eine ganz andere Frage: Warum und wie ist es Tietjen gelungen, das NS-Regime heil zu überstehen? Dass ihm eine ganz andere Theaterentwicklung vorschwebte, als sie dann unter der NS-Herrschaft stattfand, lässt sich vielfältig belegen. Tietjen war ein polyglotter Kosmopolit mit humanistischer Bildung und preußischen Tugenden. Zur NS-Ideologie, zu völkisch-rassistisch oder antisemitisch durchtränkten Weltbildern hat er sich nie hingezogen gefühlt. Er hatte ein gestörtes Verhältnis zum NS-Staat, galt als politisch unzuverlässig und war es auch.

Selbst wenn er anfänglich davon ausgegangen sein mag, das neue Regime werde sich nicht allzu lange halten können, dürfte ihm seine prekäre Stellung bewusst gewesen sein. Führende NS-Kulturpolitiker, allen voran Joseph Goebbels, würden sich kaum damit abfinden, dass die erste Theaterposition des „neuen Deutschland“ nicht mit einem linientreuen Erfüllungsgehilfen besetzt wurde. Wenngleich den Nazis daran lag, hochkarätige Künstler im Lande zu halten, ist Tietjen nie bedingungslos hofiert worden. Der NS-„Chefideologe“ Alfred Rosenberg intervenierte schon 1931 bei Winifred Wagner gegen den neuen Festspielleiter („zweifellos ein Sozialdemokrat“), und auch in Berlin blieb seine Position in den ersten Jahren der Diktatur ungefestigt, war er mehrfach Zielscheibe von Intrigen, Kampagnen oder Untersuchungen.

Gefährliche Gratwanderung

Tietjens Überleben ist zunächst auf eine günstige Konstellation äußerer Umstände zurückzuführen. In Bayreuth präsidierte Winifred Wagner. Sie, die Tietjen zeitweise auch auf privater Ebene zugetan war, ermöglichte ihm und Emil Preetorius eine weitgehend ungestörte künstlerische Arbeit. Sie brachte ein – aus heutiger Sicht – geradezu paradoxes Ergebnis hervor. Denn durch die Regiearbeiten Tietjens und die Bühnenbilder Preetorius’ gelang ausgerechnet unter NS-Bedingungen eine nachhaltige Modernisierung der Festspiele, die sich gegen erhebliche Widerstände der Wagner-Traditionalisten zu behaupten hatte.

Zu letzteren gehörte seinerzeit eben jener Wieland Wagner, Günstling Hitlers und Goebbels’, der alles daransetzte, dem innovativen Regie-Team zu schaden und selbst die Regentschaft in Bayreuth zu übernehmen. Briefwechsel aus der Nachkriegszeit dokumentieren Tietjens pure Fassungslosigkeit darüber, dass nunmehr Wieland als der eigentliche Modernisierer gefeiert wurde, er und Preetorius sich hingegen als Repräsentanten eines „Hitler-Bayreuth“ stigmatisiert fanden.

„… es scheint tatsächlich so, dass man ein Günstling Hitlers gewesen sein muss, um im heutigen Bayern Karriere zu machen, denn sonst wäre diese Unglaublichkeit, diese moralische Schweinerei und diese künstlerische Idiotie, die man über den Hügel (…) ausbreitet, undenkbar.

Meine Campagne gegen den Erben wird aber doch zu gegebener Zeit steigen, denn so einfach soll er es nun doch nicht haben. Die Welt soll gründlich über das Paradoxon aufgeklärt werden, dass der Günstling Hitlers dort oben hämisch lächelnd über die Dummheit seiner Mitwelt einzieht, während wir beide verpönt und geächtet werden.“

So lange Tietjen in Bayreuth erfolgreich agierte, konnte auch seine Position in Berlin als halbwegs gesichert gelten, zumal er für eine enge künstlerische Verzahnung beider Spielstätten gesorgt hatte. Für die preußischen Staatstheater war Hermann Göring zuständig, während die übrigen Theater an Propagandaminister Goebbels gefallen waren. Dieser Umstand verschuf Tietjen einen gewissen Spielraum. Zwar war er einerseits eine bloße Figur im Machtkampf zwischen Goebbels und Göring, denn solange er im Amt war, konnte Göring seine Staatstheater vor dem begehrlichen Zugriff des Propagandaministers schützen. Doch andererseits verstand er es mit diplomatischem Geschick und politischer Intelligenz, auch mit profunder Menschenkenntnis und intellektueller Überlegenheit, sich die bösartige Rivalität der beiden Politiker, mehr noch: die polykratische Natur des NS-Regimes zunutze zu machen.

Dabei musste Tietjen im eigenen Interesse und im Interesse der ihm anvertrauten Institute die Nähe zum System suchen und zugleich darauf bedacht sein, Distanz zu halten und sich nicht zu kompromittieren. Das gelang ihm nicht immer, doch die wenigen dunklen Flecken sind aufzurechnen gegen seine zahlreichen anders gearteten Aktionen. In einem totalitären Kontext nahmen diese schon bald den Charakter des Dissidententums, des Widerstands an. Tietjen half, schützte, rettete – auch Menschleben, wie das des jüdischen Dirigenten Leo Blech oder des späteren CDU-Politikers Hermann Pünder, um nur zwei Beispiele zu nennen. Er brachte sich damit immer wieder selbst in Gefahr.

Vor diesem Hintergrund lässt sich nun leicht erklären, warum Wieland Wagner es wagen konnte, Männer wie Tietjen oder auch Preetorius anzugreifen. Die beiden waren keine Parteigänger des Regimes, sondern galten als unsichere Kantonisten. Sie befanden sich während der NS-Zeit und insbesondere in den Kriegsjahren in einer schwierigen, oft gefährlichen und gefährdeten Lage, waren verwundbar, hatten keine mächtigen Verbündeten. Es ist kein Ruhmesblatt für Wieland Wagner, dass er aus ungezügeltem Karrierismus diese Situation ausgenutzt und den beiden Männern das Leben zusätzlich erschwert hat.

Anno Mungen: Hier gilt’s der Kunst. Wieland Wagner 1941-1945, Westend Verlag, 160 Seiten, 18 Euro

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