Gesellschaft in Balance
SUSANNE WOLF, 8. März 2024, 3 Kommentare, PDFDas Matriarchat gilt als älteste Gesellschaftsform der Welt: Spuren von matriarchalen Gesellschaftsstrukturen wurden bereits der Altsteinzeit zugeordnet. In der Jungsteinzeit begannen die großen Besiedlungsbewegungen, die von den ersten matriarchalen Ackerbauzentren ausgingen und zur weltweiten Verbreitung dieser weit entwickelten Gesellschafts- und Kulturform führten. Erst rund 2000 vor Christus begannen patriarchale Entwicklungen.
Heute gibt es noch rund 20 Matriarchate weltweit, darunter die Mosuo in Südwestchina, das Volk der Khasi im indischen Bundesstaat Meghalaya oder die Einwohner der Stadt Juchitán in Mexiko. Auch die Minangkabau auf der indonesischen Insel Sumatra sind matrilinear organisiert, was bedeutet, dass die Mutterlinie entscheidend ist.
Egalität der Geschlechter
Beim Matriarchat handelt es sich um eine Gesellschaftsordnung, die in allen Bereichen von Frauen geschaffen, geprägt und getragen wird. Entgegen der landläufigen Meinung handelt es sich jedoch nicht um eine Umkehrung des Patriarchats: „Das Faszinierende ist, dass es Gesellschaften sind, die völlig ohne Herrschaft auskommen“, sagt die Matriarchatsforscherin Heide Göttner-Abendroth. Es gebe eine Egalität der Geschlechter, die gleichzeitig die natürlichen Unterschiede respektiert. „Das heißt, Unterschiede werden nicht zu Hierarchie und Abwertung oder Aufwertung genutzt, sondern zu einer gegenseitigen Balance im Bewusstsein des Reichtums der Menschheit, auch der Natur.“
In matriarchalen Gesellschaften sind beide Geschlechter gleichwertig; jedes Geschlecht hat seinen eigenen Aktionsbereich. Das bedeutet auch: In einer solchen Gesellschaft gibt es keine Frauenquoten oder Frauen, die die Rolle von Männern einnehmen. Die Menschen leben in großen Clans zusammen, die aus den Verwandten in der Mutterlinie bestehen. Deswegen sind die Mütter zentral. „Das heißt aber noch lange nicht, dass sie dort herrschen“, sagt Göttner-Abendroth. „Sie haben einfach die größte Achtung, weil alle, die in dem Clan-Haus wohnen, ihre direkten Nachkommen sind.“
Auf der ökonomischen Ebene betreiben Matriarchate Subsistenzwirtschaft mit lokaler oder regionaler Unabhängigkeit. Land und Häuser sind Eigentum des Clans im Sinne eines Nutzungsrechts. Privatbesitz und territoriale Ansprüche gibt es nicht. Die Frauen bestimmen über die wesentlichen Lebensgüter: Felder, Häuser, Nahrungsmittel. Die Clanmutter verwaltet die Güter und verteilt sie gleichmäßig an die Mitglieder. Bei den zahlreichen Festen laden wohlhabende Clans abwechselnd das ganze Dorf oder Stadtviertel ein. Durch diese Ökonomie des Schenkens bleiben die Güter in einem Kreislauf und werden nicht einseitig gehortet.
Gesellschaft ohne Gewalt
Der argentinische Arzt und Autor Ricardo Coler lebte zwei Monate lang mit den Mosuo in Südwestchina und traf auf eine Gesellschaft ohne Gewalt und mit klar verteilten Aufgaben zwischen Frauen und Männern. Auch wenn die Frauen hier das Sagen haben, treffen die Männer wichtige Entscheidungen, etwa über den Kauf eines Hauses. „Männer taugen in den Augen der Mosuo für diese Art von Entscheidungsfindung und für körperlich harte Arbeit“, so Coler.
„Auch in matriarchalen Kulturen wird gestritten oder es vertragen sich zwei Clans im Dorf nicht. Aber die Lösungen für solche Konflikte sind anders als bei uns“, ergänzt Heide Göttner-Abendroth. „Wenn bei uns zwei Menschen in Streit geraten, kommt es zu seelischen Verletzungen, und die beiden Menschen sind meist allein, es hilft ihnen niemand. In matriarchalen Gesellschaften ist bei einem individuellen Streit der ganze Clan da.“ Bei Problemen zwischen den Clans helfe das gesamte Dorf, die Streitigkeit zu lösen. „Das bedeutet: Es ist niemand im Streit allein. Es ist immer eine Gemeinschaftsaufgabe, Konflikte zu lösen“, so Göttner-Abendroth. Dies geschehe durch Verhandlungen und Gespräche, ebenso wie bei der politischen Entscheidungsfindung.
„Matriarchale Gesellschaften regieren sich selbst durch Verhandlungen mit dem Ziel der Konsensfindung.“ Das geschieht über ein sehr ausgeklügeltes System von verschiedenen Räten: Zuerst kommt der Clan-Rat zusammen, dann der Dorf-Rat und schließlich der Regional-Rat. „Die Beratungen zeugen von einer enorm hohen kommunikativen Kompetenz“, so Göttner-Abendroth. Die Beratungen dauern so lange, bis über ein Problem einer bestimmten Region bei allen Beteiligten Einigkeit herrscht.
Die Anthropologin Peggy Reeves Sanday, die mehrere Jahre unter den Minangkabau auf Sumatra lebte, beschreibt in ihrem Buch „Frauen im Mittelpunkt: Leben in einem modernen Matriarchat“, wie Entscheidungen gemeinsam getroffen wurden: Statt Dominanz und Wettbewerb zähle Zusammenarbeit und Ausgleich.
Familie ohne Ehe
Über Familie und Partnerschaft gibt es im Matriarchat klare Vorstellungen: Die Mosuo leben mit ihren Blutsverwandten zusammen, auf dem Hof der Matriarchin. Ehe gibt es nur in Form der sogenannten Besuchsehe: „An den Türen der Frauen befinden sich Haken für die Hüte der Männer“, erzählt Ricardo Coler. Hängt ein Hut, wissen alle: Sie hat Besuch. „Die Frau sucht aus, mit wem sie in der Nacht zusammen sein will.“
Mosuo-Frauen | Bild: picture alliance / dpa | Liu Xianbiao
Wenn eine Frau schwanger wird, ist es unwichtig, wer das Kind gezeugt hat. Es bleibt im Hause der Mutter und wird von ihr und ihren Schwestern aufgezogen. Der Onkel übt eine wichtige soziale Rolle innerhalb der Familie aus und übernimmt die Vaterrolle. Die Kleinfamilie aus Vater, Mutter, Kind gibt es nicht. Die Kinder gehören grundsätzlich zur Mutter und bleiben in deren Clan.
Das Konzept der Ehe dient eher als Abschreckung. „Den Kindern wird sogar damit gedroht, 'Wenn du nicht brav bist, dann verheiraten wir dich'“, erzählt Coler. „Mich haben sie gefragt, wie wir das machen. Ich sagte: Mann trifft Frau, sie verlieben sich, haben Kinder und leben ihr ganzes Leben zusammen. Ah, sagten sie, das muss toll sein. Und du weißt, sie lachen sich darüber kaputt, dass wir ständig etwas wiederholen, von dem wir selbst wissen, dass es nicht funktioniert.“
Geld oder Macht spielen bei der Partnerwahl keine Rolle, ein wohlhabender Mann hat keine Vorteile. „Die Idee, Vermögen anzuhäufen oder viel Geld zu verdienen, kommt den Mosuo einfach nicht in den Sinn“, so Coler.
Die US-amerikanische Ökonomin Sara Lowes stellte in einer Untersuchung fest, dass in matrilinearen Gesellschaften Frauen seltener häusliche Gewalt erleben, dass sie über größere Entscheidungsfreiheit verfügen, etwa für die Inanspruchnahme gesundheitlicher Versorgung, und dass männliche und weibliche Nachkommen das gleiche Recht auf Bildung haben.
Geschichte des Patriarchats
Der Historiker Kai Michel und der Anthropologe Carel van Schaik gehen in ihrem Buch Die Wahrheit über Eva der Geschichte der Unterdrückung der Frau auf den Grund. Das Buch verweist darauf, dass die Schlechterstellung der Frauen erst mit der Neolithischen Revolution begann, als ein Wandel der frühen Jäger und Sammler hin zu Bauern und Viehzüchten stattfand. „Bei den Jäger-Sammlern bekommen Frauen noch alle vier bis sechs Jahre ein Kind, während die frühen Bäuerinnen fast jährlich schwanger werden“, sagt Kai Michel. Durch die zusätzliche schwere Feldarbeit sinkt die Lebenserwartung der Frauen.
Zugleich besitzen die Menschen in dieser Zeit erstmals Privateigentum an Land und Vorräten, das verteidigt werden muss – das wiederum stärkt die Rolle des Mannes. Diese Entwicklung schreitet unaufhaltsam voran, in den folgenden Jahrtausenden sucht man nach Erklärungen für das Ungleichgewicht der Geschlechter ausgerechnet innerhalb der Diskurse, die bereits von mächtigen Männern dominiert werden: In der Religion, der Philosophie und den Naturwissenschaften. Nicht zuletzt spielt das Christentum mit seinem Mythos des Sündenfalls in der Bibel für die patriarchalen Strukturen der westlichen Welt eine entscheidende Rolle.
Alternativen zum Patriarchat
Die Frauenforscherin und Politikwissenschaftlerin Claudia von Werlhof meint, dass man das Patriarchat als ein aus der Not geborenes, lebensfeindliches Konstrukt durchschauen müsse, bevor etwas verändert werden könne. „Meine These ist, dass das Patriarchat keine eigenständige, von den Gesellschaften des Matriarchats unabhängige Gesellschaftsordnung und Kultur darstellt, sondern sich aus der Negation des Matriarchats entwickelt hat“, betont von Werlhof. Sie tritt dafür ein, die herrschende Gesellschaftsordnung als prinzipiell weltweites Patriarchat zu verstehen, das nach mehr als 5.000 Jahren nun an seine Grenzen stößt.
„Damit steht historisch zum ersten Mal global die Frage auf der Tagesordnung, welche Alternativen zum Patriarchat gefunden werden können“, so von Werlhof. Die Matriarchatsforschung sei heute aufgerufen, sich dazu zu äußern, inwiefern neo-matriarchale Verhältnisse eine solche Alternative darstellen würden, denkbar sind und konkret gestaltet werden können. Lebende Matriarchate sowie alternative Bewegungen und Gemeinschaften weltweit könnten Hinweise darauf geben.
„Matriarchate sind Gesellschaften, die nicht dazu neigen, die Mitgeschöpfe auszubeuten oder abzuschlachten oder überhaupt die Biosphäre auszuplündern“, erklärt Heide Göttner-Abendroth. Vielmehr werde die Biosphäre als etwas Göttliches betrachtet, die Menschen inklusive. „Darum heiligen sie die Natur und nehmen nur das, was sie brauchen und dafür auch zurückgeben.“ Natur als ein Objekt zu betrachten, das man plündern kann, sei bei einer solchen Spiritualität und Mentalität nicht möglich.
Über die Autorin: Susanne Wolf, Jahrgang 1968, arbeitet seit über 10 Jahren als freie Journalistin und Autorin mit den Schwerpunkten Umwelt, Nachhaltigkeit und Transformation. Sie ist Autorin der Bücher „Nachhaltig Leben“ und „Zukunft wird mit Mut gemacht“.
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