„Es ist ein Kulturkampf“
RUMEN MILKOW, 14. Juli 2023, 9 Kommentare, PDFMultipolar: Sehr geehrter Herr Maaz, Sie sind offiziell im Ruhestand, haben sich aber alles andere als zur Ruhe gesetzt. Wie sieht es aktuell in der Psychotherapie in Deutschland aus? Wie groß ist die Nachfrage? Wie lange die Wartezeit?
Maaz: Die Nachfrage nach Psychotherapie ist eher weiter gestiegen. Die Wartezeiten sind bis zu einem halben, dreiviertel Jahr. Es gibt zu wenig Behandlungsplätze, aber auch die Bedürftigkeit ist gestiegen. Das hat viel mit der gesellschaftlichen Situation zu tun: die Pandemie mit ihren Folgen, den Maßnahmen. Das hat die Menschen labilisiert, geängstigt, eingeschüchtert. Es sind sehr viele persönliche, aber auch familiäre Probleme hochgekocht. Dadurch, dass man zu Hause bleiben musste. Aber auch durch die allgemeine Ängstigung, die Panikmache, die immer wieder verbreitet wurde. Bei sehr vielen Menschen hat das individuelle Ängste und Unsicherheiten wieder aufgewühlt. Das hat viele psychische Symptome verursacht, auch Psychosomatik.
Jetzt kommt noch die Kriegssituation in der Ukraine hinzu. Sehr viele Menschen sind entsetzt und erschrocken, dass Deutschland sich nochmal an einem Krieg beteiligt durch Waffenlieferungen, statt auf Verhandlungen, auf Friedensgespräche zu orientieren. Was ja eigentlich nach dem Zweiten Weltkrieg ganz klar geregelt war: „Nie wieder Krieg!“, „Wehret den Anfängen!“ und „Keine Waffen in Krisengebiete!“ Dass diese Einstellungen verlassen wurden, macht mir persönlich große Sorge. Aber das betrifft viele Menschen.
Die Verunsicherung nach der Pandemie, durch den Krieg und damit vor der Zukunft hat dazu beigetragen, dass es eine starke, deutliche Zunahme an Psychosomatik und an psychischen Krankheiten gibt. Das betrifft vor allem auch Kinder und Jugendliche. Was den Kindern angetan wurde während der Pandemie, das Kontaktverbot, das Spielverbot, die Abgrenzung, das ständige Maske tragen, das hat schwerwiegende Folgen bei den Kindern. Das werden wir noch über Jahrzehnte erleben müssen, was da an Schädigung verursacht worden ist.
Multipolar: Mein Eindruck ist, dass Sie nicht nur, was das Geschehen in der Gesellschaft angeht, immer weniger optimistisch sind, sondern auch bezüglich der Wirkung von Psychotherapie. Ist mein Eindruck richtig? In dem Zusammenhang interessiert mich, wie viele Menschen Sie im Laufe Ihrer Tätigkeit kennengelernt haben.
Maaz: In den 28 Jahren in der Klinik waren es ungefähr 15.000 Patienten. Ich bin aber zuvor und auch danach psychotherapeutisch tätig gewesen. Ich denke, eine Zahl von 20.000 dürfte ungefähr hinkommen. Was die Wirkung von Psychotherapie angeht, da gibt es eine starke Tendenz, die tiefenpsychologische Behandlung, die psychoanalytische Behandlung, zurückzufahren. Das sind Therapieformen, die längere Zeit in Anspruch nehmen. Zwei oder drei Jahre können da durchaus eine Rolle spielen, in denen man wöchentlich ein bis zwei Stunden hat. Es ist eine Tendenz erkennbar, dass dies weniger gewünscht wird. Also Kurzzeittherapien in den Mittelpunkt gestellt werden, und auch Verhaltenstherapien.
Die Lehrstühle an den Universitäten haben fast nur noch Verhaltenstherapeuten inne. Das ist etwas ganz anderes als eine analytische oder tiefenpsychologische Therapie, wo man auf die entwicklungspsychologischen Ursachen zurückgreift. Das tut die Verhaltenstherapie praktisch gar nicht oder nur ganz wenig. Also da gibt es deutliche Veränderungen. Je kürzer eine Therapie ist, je weniger sie tiefenpsychologisch orientiert ist, desto geringer wird ein dauernder Erfolg sein. Einfach weil es nicht zu einer wirklich tieferen Erkenntnis und damit auch dem Bemühen einer Persönlichkeitsentwicklung kommen kann durch Kurzzeittherapie.
Multipolar: Ist diese Entwicklung einem Sparzwang bei den Krankenkassen geschuldet? Oder ist es eher ein gesellschaftliches Phänomen?
Maaz: Es ist eher ein gesellschaftliches Problem. Der Umgang mit den Krankenkassen ist eigentlich ganz gut. Wenn jemand eine Therapie haben will, dann muss der Therapeut einen Antrag an die Krankenkasse stellen. Der Therapeut schreibt einen anonymisierten Bericht an einen Psychotherapiegutachter. Das erfolgt anonym, da erfährt die Krankenkasse nicht, um wen es geht. Ich habe das selbst auch viele Jahre gemacht. Dann hat man einen anonymisierten Bericht über die Problematik eines Patienten und den Therapieplan und muss beurteilen, ob die Therapie indiziert ist, ob der Therapieplan gut konzipiert und die Qualität gesichert ist. Allerdings hat das nachgelassen, das Gutachterverfahren wird zurückgefahren. Es gibt jetzt auch eine Zulassung zur Therapie, ohne dass ein Gutachter das zuvor beurteilt hat. Dann liegt die Entscheidung in den Händen der Krankenkasse. Damit spart die Krankenkasse Kosten, mit der Gefahr der Qualitätsminderung. Die Krankenkassen gehen in der Regel mit dem mit, was der Therapeut beantragt und begründet.
Multipolar: Was die Wirksamkeit von Psychotherapie generell angeht, hat sich da Ihre Einschätzung mit den Jahren verändert?
Maaz: In der Psychotherapie gibt es natürlich auch keine Wunder. Und Veränderungen sind immer ein längerer Prozess, der über Jahre geht. Dann muss man zugeben, dass, sich immer wieder mit seinem eigenen Leben kritisch auseinanderzusetzen und Beratungs- und Therapiestunden in Anspruch zu nehmen, das wollen dann sehr viele Menschen nicht.
Psychotherapie ist letztlich eine Lebenseinstellung, die eben nicht nur ein paar Stunden, sondern ein ganzes Leben beansprucht, und zwar immer im Sinne der kritischen Selbstreflexion. Also sich zu fragen, wo komme ich her, wie bin ich herangewachsen, wie bin ich beeinflusst worden, wie haben die Eltern, die Schule mich beeinflusst, welche Werte gibt es in der Gesellschaft, die mir helfen oder die mich behindern, die mich manipulieren. Diese ewige Auseinandersetzung nehmen nicht zu viele Menschen in Anspruch, so dass es dann auch vorkommt, dass man nach einem Therapieerfolg, vielleicht nach ein paar Wochen, erstmal wieder aufhört, therapeutische Regeln zu beachten. Dann denkt man, man ist jetzt stabil und gesichert. Und dann kommen ein Jahr später neue Probleme wieder hinzu.
Aber ich bin da nicht pessimistisch oder resigniert, sondern ich weiß um den Anspruch, die Dauer einer notwenigen Therapie, die Intensität. Man kann relativ oberflächlich erstmal beratend versuchen zu verstehen und zu besprechen. Das kann natürlich situativ helfen, aber es hilft nicht für eine grundlegende Veränderung der Lebenseinstellung.
Diese Erfahrung habe ich sowohl in der DDR gemacht, als auch im vereinten Deutschland, dass es bestimmte therapeutische Ziele gibt. In der DDR war das eigenständiger, kritischer, autonomer, selbstbewusster zu werden. Das war ja für viele Menschen eine erhebliche Einengung. Und wenn das erfolgreich war, dann waren sie fast automatisch mit dem politischen System im Konflikt. Da sollte man nicht zu autonom sein, und nicht zu kritisch.
Im Westen hat sich nur die Symptomatik etwas verändert. In der westlichen Zivilisation sind die Menschen so manipuliert, dass sie sich immer größer machen, mehr Schein als Sein sind, was hermachen müssen. Sie müssen sich darstellen, verkaufen. Wenn sie daran krank geworden sind und feststellen, das will ich ändern, verlieren sie – wenn man so will – an Marktwert. Weil sie sich dann nicht mehr so wie bisher behaupten, durchsetzen und konkurrieren wollen, wie sie es brauchten, um im Wettbewerb – auch um Arbeitsplätze – erfolgreich zu sein.
Ein Therapieerfolg in dem Sinne, dass man sich besser versteht und zurechtfindet, auch in der Partnerschaft, dass man ehrlicher, klarer ist und besser weiß, was man braucht und was man nicht braucht, macht dann mitunter Probleme. Insbesondere in einer Gesellschaft, die solche Ehrlichkeit und Offenheit nicht wünscht. Individuelle Gesundheit, Gesundung, kann dann dazu führen, dass man gesellschaftliche Probleme bekommt.
Multipolar: Die Unterschiede zwischen Ost und West gibt es bis heute, man findet sie auch aktuell im Land wieder. Als jemand, der aus dem Osten kommt, beschäftigt mich die Frage, inwieweit das, was wir gerade erleben, eine verspätete Rache der Ostdeutschen ist?
Maaz: Also von Rache würde ich nicht sprechen. Es ist eher eine Enttäuschung. Enttäuschung heißt auch, dass eine Täuschung vorausgegangen ist. Das hat viele im Osten betroffen, die glaubten, im Westen ist alles besser. Vordergründig war das auch so. Es gab mehr Freiheiten, mehr zu kaufen, mehr Reisemöglichkeiten, so dass man tatsächlich von außen betrachtet glauben konnte, das ist wirklich das bessere Leben.
Mit der Vereinigung ist vielen erstmal bewusst geworden oder sie haben es am eigenen Leib gespürt, welche Veränderung das jetzt auf dem Arbeitsmarkt gibt, in der Selbstbehauptung, im Konkurrieren müssen. Da ist sehr viel Ungerechtigkeit geschehen. Enttäuschung, Ernüchterung sind für mich die Begriffe, mit denen sehr viele Menschen im Osten zu tun haben.
Heute ist es so, dass ich die Reaktionen im Osten als die ehrlicheren, die gesünderen erlebe als im Westen. Weil wir die Veränderung, die wir in der Politik erleben, nicht einfach hinnehmen. Damit meine ich zunehmende autoritäre Strukturen, dass Kritiker ausgeschlossen, beschimpft werden, nicht zu Wort kommen. Oder dass in den öffentlich/rechtlichen Medien fast nur noch eine Meinung, nämlich eine regierungsnahe, gilt, und die Kritiker dort auch nicht zu Wort kommen.
Das sind alles Dinge, die kennt man im Osten. Dort sieht man genauer, wo Heuchelei oder Lug und Trug in der Politik Fuß fassen. Das ist der Grund, warum im Osten der Protest größer ist. In Westdeutschland können sehr viele Menschen nicht glauben, dass die Regierung nicht nur das Gute im Sinn hat, sondern dass da auch sehr viel Problematisches, Falsches ist. Das hat auch damit zu tun, dass man über Jahrzehnte relativ gut gelebt hat. Und deshalb wollen die meisten nicht glauben, dass dieses gute Leben zu Ende ist.
Multipolar: Ich beobachte regelrechte Denkverbote. Wenn ich zurückdenke an die DDR, dann muss ich sagen, da durfte man alles denken. So dass ich zu dem Schluss kommen, dass die Schere heute früher ansetzen muss. Also dass man sich bereits verbietet, bestimmte Dinge zu denken.
Maaz: Die Schere im Kopf, das sehe ich auch so. Ich vergleiche es mal so: Zu DDR-Zeiten waren die Verhältnisse klar. Da gab es die Seite der Partei, der Stasi-Leute und Denunzianten. Und den großen Teil der Bevölkerung, der damit nichts zu tun haben wollte. Da waren die Grenzen klar. Man wusste auch genauer, was man sagen durfte und was nicht, wo man Schwierigkeiten bekam. Aber das Denken war frei oder freier als heute. Das erlebe ich auch so. Heute hat das Denken eine sehr starke moralisierende oder ideologisierende Einengung. Diese Thematik war zu DDR-Zeiten weniger, weil man hatte die Ideologie, und man war entweder dafür oder dagegen. Das ist heute anders, weil es so scheint, dass bestimmte politische Inhalte dann auch moralisch aufgeladen sind, beispielsweise was von den Grünen kommt für die Umwelt, gegen die Klimaveränderung, wie man sich auch beim Essen verhalten soll. Das scheint alles gut gemeint, und man kriegt nicht gleich mit, dass man dadurch erheblich manipuliert wird.
Multipolar: Dieser fast kindliche Glaube an das Gute, den ich verstärkt im Westen wahrnehme, erkläre ich mir so, dass viele Menschen sich nicht vorstellen können, dass die uns Regierenden so Böse sein können, wie auch unsere Eltern es gelegentlich waren.
Maaz: Genauso ist es. Es gibt einen großen Unterschied zwischen Sozialisation Ost und West, wie Kinder im Westen erzogen wurden sind. Viele waren hier äußerlich erfolgreich, haben die Erfahrung gemacht, wenn man sich angepasst hat, Leistung gebracht hat, tüchtig war, sich unterordnet hat, auch in der Arbeitswelt, der Geschäftswelt, dann konnte man erfolgreich sein. Damit ist eine Entfremdung verbunden, dass die Kinder nicht um ihrer selbst Willen verstanden, anerkannt, bestätigt werden, sondern so, wie die Eltern es wollen. Das Kind hat nicht gut erfahren, wie es sein kann, sondern immer nur, wie es sein soll. Und mit Anpassung an das falsche Leben einer Konkurrenzgesellschaft kann man Karriere machen, Geld verdienen und denkt, dass doch alles in Ordnung sei.
Das ist einer der Hintergründe, warum Menschen plötzlich krank werden und gar nicht wissen, warum. Wir haben doch gut gelebt. Ich bin doch reich geworden, war erfolgreich. Sie haben gar nicht mitgekriegt, dass das aber eigentlich ein falsches Leben, ein ungesundes, ein stressreiches Leben gewesen ist. Aufgrund dieser Sozialisation im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen möglichen Auswirkungen und Folgen glauben viele Westdeutsche noch naiv, es ist alles gut. Sie doch in einen guten Demokratie leben würden und es irgendwie weiter geht. Es gibt halt jetzt nur ein paar Schwierigkeiten. Ich erlebe viele Westdeutsche, zumindest das, was bei mir ankommt, auch über die Medien, als viel, viel naiver, als das im Osten der Fall ist.
Multipolar: Ein aktuelles Thema sind die „Klimakleber“. Dass junge Menschen sich sorgen um die Zukunft, ist nicht neu. Das hatten wir bereits in den Achtzigern mit „No Future“. Auch Umweltthemen gab es, beispielsweise den „Sauren Regen“ und das „Ozonloch“. Wie ist Ihr Blick auf die „Letzte Generation“ und inwieweit spielt die Beziehungsproblematik eine Rolle?
Maaz: Ich halte die Aktionen für ziemlich verstört. Sie sind unangemessen, es kriegen die Autofahrer, Durchschnittsmenschen etwas ab. Überhaupt der Begriff „Letzte Generation“ ist schon ein Begriff, der eine Panik transportiert. Es wird etwas auf den klimabedingten Weltuntergang projiziert, was auf keinen Fall real so stimmt. Es wird etwas übertrieben. So viel, wie ich gehört oder Informationen habe, sind das nicht nur einige junge Menschen, die klimabewegt sind, sondern das sind organisierte Proteste, die von ganz anderen Quellen unterstützt werden. Das ist ein viel tiefer liegendes politisches Problem. Da werden die jungen Menschen auch nur benutzt oder missbraucht. Dass es genug Menschen gibt, die sich für solche absurden Aktionen hingeben, ist eine Frage, was sie dafür kriegen, wie sie bezahlt werden, aber eben auch, dass sie tatsächlich auch ideologisch vergiftet sind.
Ich kann mir das sehr gut vorstellen, dass sie viele Beziehungsprobleme haben und Zukunftsängste. Dass sie nicht wissen, wie sie in ihrem Leben zurechtkommen werden – ganz individuell. Und dann natürlich auch, was aus dieser Gesellschaft wird. Diese Verunsicherung hat immer auch mit Beziehungen zu tun. Mit zwischenmenschlichen Beziehungsfragen, an erster Stelle mit den Eltern, aber auch mit den Lehrern, mit den Werten, mit denen man aufgewachsen ist, waren die echt und ehrlich. Das alles sind Themen, die mit den Aktionen abgewehrt werden, und jetzt auf eine Klimapanik projiziert werden. Ich bin ziemlich sicher, dass bei all diesen Aktivisten erhebliche persönliche Beziehungsprobleme in ihrer Entwicklung eine Rolle gespielt haben. Sonst würde man sich nicht so verhalten können.
Multipolar: Ein anderes aktuelles Thema ist KI, Künstliche Intelligenz. Ich verbinde mit ihr die Abschaffung der Altersweisheit. Eine Entwicklung, die mit Corona begann, als man alte Menschen vor allem als Problem sah, als „vulnerabel". Wie sehen Sie die Künstliche Intelligenz und fühlen Sie sich, was die Abschaffung der Altersweisheit angeht, vielleicht sogar als Betroffener?
Maaz: (lacht) Nein. Ich erfahre genug Kritik wegen meiner kritischen Position. Aber in Zukunft wird das schon so sein, dass man persönliche Meinungen und Positionen gar nicht mehr wertschätzt. Ich sehe eine Tendenz überhaupt gegen Menschen, gegen Menschheit, und vor allem gegen menschliche Beziehungen. Bei praktisch allem, was politisch angedacht ist oder schon geschieht mit dem so genannten Great Reset, geht es um Globalisierung, Digitalisierung, Roboterisierung, größere Kontrolle, totalitaristische Kontrolle. Das sind alles Dinge, die sind gegen menschliche Grundbedürfnisse gerichtet, vor allem gegen menschliche Beziehungen. Es ist im Grunde genommen die Fortsetzung des falschen Lebens bis zum Exzess.
Das, was das menschliche Leben ausmacht, Beziehung, friedliche Kommunikation, überhaupt Kommunikation, offen und ehrlich, also nicht kämpferisch, nicht siegen wollen mit irgendwelchen Positionen. Das alles ist in Gefahr und wird verändert – auch durch Künstliche Intelligenz. Die KI wird immer schlauer sein als wir Menschen, aber nicht in der Beziehungsfähigkeit. Es geht ja nicht nur darum, dass man etwas weiß, sondern welches Wissen wie und unter welchen Umständen angewendet wird. Da geht immer mehr menschliche Bezogenheit verloren.
Multipolar: Würden Sie eher dazu raten, einen alten weisen Menschen zu fragen als die KI?
Maaz: Ich würde keine Alternative aufmachen. Mit der Maschinenstürmerei war es auch so. Technologische Veränderungen haben natürlich nicht nur Vorteile gebracht, sondern immer auch erhebliche Störungen, Zerstörungen und Nachteile. Schauen Sie, was mit dem Fernseher, mit dem Handy, mit dem Computer alles geschehen ist. Da gibt es natürlich wesentliche Erweiterungen an Information und Kommunikation, aber eben auch einen erheblichen Verlust. Dass man sich oft nicht mehr persönlich trifft und austauscht. Die menschliche Begegnung geht verloren und so wird es auch mit der Künstlichen Intelligenz sein.
Man wird manche Dinge viel schneller und besser auf der Wissensseite, auf der informativen Seite haben. Aber immer zunehmend unter Verlust der menschlichen Bezogenheit, der Gefühle, des Austausches, der Begegnung, des Vergnügens mit anderen Menschen in Kontakt zu sein. Oder auch um sich gemeinsam um ein Thema zu bemühen. Das schafft ja auch emotionale Beziehung.
Es wird wie immer sein: Es hat Vorteile und erhebliche Nachteile. So wie unsere Zeit sich entwickelt, werden die Vorteile überbewertet und der Verlust an Menschlichkeit und Bezogenheit wird klein geredet. Der wird aber erheblich sein, das ist wirklich zu befürchten.
Multipolar: Nach der Wende 1989 kam es im Osten anders als von vielen gedacht oder erhofft. Diese Erfahrung hat etwas hemmendes. Gleichzeitig höre ich, dass wir in einer spannenden Zeit leben. Das sind die Gegenpole, zwischen denen ich mich sehe. Sehen Sie das ähnlich und was empfehlen Sie?
Maaz: Es ist für mich ein Kulturkampf, bei dem es viel stärker jetzt um Kontrolle des Menschen geht, um Beeinflussung, Manipulation. Der Gegenpol dazu wäre das, was ich Beziehungskultur nenne. Dass Menschen zusammenkommen können, sich austauschen können, ehrlich machen können, empfangen werden auch, vor allem auch emotionaler Austausch. So sehe ich praktisch die Kampffront. Auf der einen Seite mehr Kontrolle, Macht über die Menschen, sie zu manipulieren. Auf der anderen Seite das Bedürfnis der Menschen, wieder gut zusammensein zu können, eine Gemeinschaft zu haben.
Das halte ich auch in der momentanen Zeit für die wichtigste Aufgabe, dass wir uns um Beziehungen bemühen, als Gegenkraft zu dem, was offiziell läuft oder gefordert wird. Dass man sich in kleinen Gruppen mit wenigen Menschen trifft. Dass man dort anders kommuniziert. Dass man sich mitteilt. Nicht nur streitet, sondern das praktiziert, was wir unter „Zwiegesprächen“ verstehen. (1) Das heißt, dass man sich mitteilen kann, ohne belehrt zu werden, ohne kritisiert zu werden, sondern mit dem Bedürfnis: Ich will verstanden werden und verstehen, ich will empfangen sein. Wenn das im Austausch geschieht, hat das eine hohe befriedigende Potenz. Eine viel größere als wenn man in einem Disput nur streitet, um Recht haben zu wollen.
Das sehe ich im Moment als das wichtigste an. Dass wir uns bemühen mit einigen wenigen Freunden, Partnern, kleine Gemeinschaften gegen diese Tendenz der ideologischen Dominanz, der moralisierenden Dominanz globalen Denkens tatsächlich wieder lokal und beziehungskulturell zusammen zu sein.
Multipolar: Sie betonen auch immer wieder, dass man wegkommt von der Sachebene hin zur Gefühlsebene.
Maaz: Ja, genau. Dass man beim Diskutieren aufhört über Pro und Contra auf einer Sachebene zu streiten, sondern anfängt, von sich zu sprechen: „Ich denke so, ich bin der Meinung, weil …“ Und mit dem „weil“ wird man herausgefordert, es ist eine persönliche Stellungnahme. „Ich denke so, weil ich die und die Erfahrungen oder Bedürfnisse oder Gefühle habe.“ Es gibt dann am Ende keine dominante Meinung, sondern eine individuell-subjektive. Wenn man anfängt zu sagen, dass ist meine Meinung „weil“, muss der andere nicht damit übereinstimmen. Aber ich habe die Chance zu verstehen, weshalb jemand so denkt, und ich kann mich verständlich machen, warum ich so oder anders denke.
Multipolar: Das ist etwas, was ich bei mir im Taxi gelernt habe. Den Leuten zuzuhören, und das Gesagte nicht sogleich zu bewerten, zu beurteilen oder gar zu verurteilen. Im Nachhinein muss ich sagen, es hört sich leicht an, aber es ist ziemlich schwer. Es hat Jahre gedauert, es auch wirklich dann zu praktizieren. Einfach weil wir so gepolt sind, alles gleich bewerten zu müssen.
Maaz: Das ist ein hoher Wert, glauben Sie mir. Es ist ein hoher Wert, wenn man bereit ist, nur zuzuhören, um zu verstehen. Ich will dich verstehen. Ich höre dir zu. Und nicht etwa, dass ich nur das höre, was ich hören will. Sondern ich will hören, um dich zu verstehen. Das ist erstens für den Empfänger hilfreich, dass man einem Menschen auf diese Weise sich innerlich nähert. Und für den, der empfangen wird, dem man zuhört, der das Gefühl hat, da gibt es Menschen, die bemühen sich, mich so zu verstehen, wie ich bin und denke. Das ist ein hoher Wert. Das kann man nicht hoch genug schätzen.
Dass es uns nicht leicht fällt, liegt daran, dass wir es nicht gelernt haben. Wir haben gelernt zu streiten und Recht zu behalten, uns durchzusetzen. Wir haben doch nie vermittelt bekommen, wie das geht, wenn ein anderer Mensch spricht. Wie ich mein Verständnis verbessern kann, dass ich genauer verstehe, was er meint. Es gibt dazu auch einfache Untersuchungen: Nehmen Sie zehn Menschen und es passiert zur gleichen Zeit etwas. Alle zehn sind dabei. Dann erlebt das jeder von den zehn anders und interpretiert es anders oder reagiert anders darauf. Es gibt keine objektive Wahrheit in solchen Zusammenhängen.
Multipolar: Eine objektive Wahrheit ist: Sie arbeiten an einem neuen Buch. Worum geht es darin?
Maaz: Das Manuskript habe ich gestern dem Verlag geschickt, das Buch soll im September erscheinen. Es wird wieder „Frank & Timme“ sein, der auch die „Angstgesellschaft“ gemacht hat. Die Themen sind Friedensfähigkeit und Kriegslust. Der Hintergrund ist, ich bin erschrocken darüber, dass in Deutschland schon wieder so eine Kriegsunterstützung möglich ist. Dass das „Nie wieder!“ keine wirkliche Gültigkeit mehr hat und dass man mit den Waffenlieferungen einen Krieg anheizt. Das hat mich erschreckt, und dann habe ich versucht, es genauer zu ergründen und die Psychodynamik zu erfassen. Was braucht es, dass Menschen friedensfähig sein können. Und was ist der Grund, weshalb es passiert wie jetzt, dass Menschen wieder kriegslüstern werden, sich für Krieg begeistern. Und das habe ich in dem Buch vor allem auf die entwicklungspsychologischen Bedingungen bezogen, um es verständlich zu machen, um es erklären zu können.
Multipolar: Können Sie ein Beispiel geben?
Maaz: Ich gehe dabei von den negativen und positiven elterlichen Beziehungen aus, die ich durchdekliniert habe: Mutterbedrohung, Mutterbesetzung, Muttermangel, Muttervergiftung, Vaterterror, Vatererpressung, Vaterflucht, Vatermissbrauch. Wenn ein Mensch nun in der frühen Entwicklung zum Beispiel Mutterbedrohung erlebt hat in dem Sinne, dass die Mutter das Kind nicht wirklich wollte: „Du gefällst mir nicht“ oder „Ich wollte dich gar nicht haben“, so ist das ein ganz schlimmes Schicksal. Es geht um frühe Kränkungen, Traumatisierungen und Beziehungsdefizite, die einen Gefühlsstau begründen, weil man sich nicht richtig wehren darf. Dann hat ein solcher Mensch viel berechtigte Empörung und Einschüchterung. Er fühlt sich bedroht. Das Leben ist bedroht.
Jetzt wird ihm wieder eine Bedrohungslage vermittelt. Damit ist ein solcher Mensch sehr viel anfälliger, in den Krieg ziehen zu wollen. Stellvertretend natürlich. Dann wird man kriegslüstern: Jetzt kann ich endlich den Gefühlsstau aus früher Traumatisierung an einem Feindbild abreagieren.
Und die andere Seite, wenn ein Kind eine Mutterliebe erfährt: Ich bin okay, ich bin richtig so, ich kann zufrieden sein. Ein solcher Mensch wird nie in den Krieg ziehen wollen. Denn er ist zufrieden mit sich und seinem Leben. Das ist eine wesentliche Grundlage, um überhaupt friedensfähig zu sein. Das setzt voraus, dass man mit sich selbst in Frieden leben kann.
Über den Interviewpartner: Hans-Joachim Maaz, Jahrgang 1943, ist Psychiater, Psychoanalytiker und Psychotherapeut. Von 1980 bis 2008 leitete er die psychotherapeutische Klinik im Krankenhaus des Diakoniewerks in Halle/Saale geleitet. Er ist Autor unter anderem der Bücher „Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der DDR“ (1990), „Die narzisstische Gesellschaft“ (2012), „Das falsche Leben. Ursachen und Folgen unserer normopathischen Gesellschaft“ (2017), „Das gespaltene Land“ (2020) und zuletzt „Angstgesellschaft“ (2022).
Über den Interviewer: Rumen Milkow, Jahrgang 1966, wuchs als Sohn eines Bulgaren und einer Berlinerin in Ostdeutschland auf. Er ist examinierter Krankenpfleger, ehemaliger Berliner Taxifahrer und „Eselflüsterer“. Als freier Autor und Journalist lebt er in Berlin und Bulgarien.
Anmerkung
(1) siehe auch Michael Lukas Moeller und Hans-Joachim Maaz: „Die Einheit beginnt zu zweit: Ein deutsch-deutsches Zwiegespräch“, Rowohlt 1991
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