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„Es ist ein Kulturkampf“

„Ich erlebe viele Westdeutsche als naiver, als das im Osten der Fall ist“, so der Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz. Im Multipolar-Interview spricht er über Unterschiede zwischen Ost und West, eine „moralisierende Einengung“ des Denkens, den Verlust menschlicher Bezogenheit durch Digitalisierung und Künstliche Intelligenz sowie über Friedensfähigkeit und Kriegslust. Maaz plädiert für eine Beziehungskultur als Gegenpol zur fortschreitenden Kontrolle des Menschen.

RUMEN MILKOW, 14. Juli 2023, 9 Kommentare, PDF

Multipolar: Sehr geehrter Herr Maaz, Sie sind offiziell im Ruhestand, haben sich aber alles andere als zur Ruhe gesetzt. Wie sieht es aktuell in der Psychotherapie in Deutschland aus? Wie groß ist die Nachfrage? Wie lange die Wartezeit?

Maaz: Die Nachfrage nach Psychotherapie ist eher weiter gestiegen. Die Wartezeiten sind bis zu einem halben, dreiviertel Jahr. Es gibt zu wenig Behandlungsplätze, aber auch die Bedürftigkeit ist gestiegen. Das hat viel mit der gesellschaftlichen Situation zu tun: die Pandemie mit ihren Folgen, den Maßnahmen. Das hat die Menschen labilisiert, geängstigt, eingeschüchtert. Es sind sehr viele persönliche, aber auch familiäre Probleme hochgekocht. Dadurch, dass man zu Hause bleiben musste. Aber auch durch die allgemeine Ängstigung, die Panikmache, die immer wieder verbreitet wurde. Bei sehr vielen Menschen hat das individuelle Ängste und Unsicherheiten wieder aufgewühlt. Das hat viele psychische Symptome verursacht, auch Psychosomatik.

Jetzt kommt noch die Kriegssituation in der Ukraine hinzu. Sehr viele Menschen sind entsetzt und erschrocken, dass Deutschland sich nochmal an einem Krieg beteiligt durch Waffenlieferungen, statt auf Verhandlungen, auf Friedensgespräche zu orientieren. Was ja eigentlich nach dem Zweiten Weltkrieg ganz klar geregelt war: „Nie wieder Krieg!“, „Wehret den Anfängen!“ und „Keine Waffen in Krisengebiete!“ Dass diese Einstellungen verlassen wurden, macht mir persönlich große Sorge. Aber das betrifft viele Menschen.

Die Verunsicherung nach der Pandemie, durch den Krieg und damit vor der Zukunft hat dazu beigetragen, dass es eine starke, deutliche Zunahme an Psychosomatik und an psychischen Krankheiten gibt. Das betrifft vor allem auch Kinder und Jugendliche. Was den Kindern angetan wurde während der Pandemie, das Kontaktverbot, das Spielverbot, die Abgrenzung, das ständige Maske tragen, das hat schwerwiegende Folgen bei den Kindern. Das werden wir noch über Jahrzehnte erleben müssen, was da an Schädigung verursacht worden ist.

Multipolar: Mein Eindruck ist, dass Sie nicht nur, was das Geschehen in der Gesellschaft angeht, immer weniger optimistisch sind, sondern auch bezüglich der Wirkung von Psychotherapie. Ist mein Eindruck richtig? In dem Zusammenhang interessiert mich, wie viele Menschen Sie im Laufe Ihrer Tätigkeit kennengelernt haben.

Maaz: In den 28 Jahren in der Klinik waren es ungefähr 15.000 Patienten. Ich bin aber zuvor und auch danach psychotherapeutisch tätig gewesen. Ich denke, eine Zahl von 20.000 dürfte ungefähr hinkommen. Was die Wirkung von Psychotherapie angeht, da gibt es eine starke Tendenz, die tiefenpsychologische Behandlung, die psychoanalytische Behandlung, zurückzufahren. Das sind Therapieformen, die längere Zeit in Anspruch nehmen. Zwei oder drei Jahre können da durchaus eine Rolle spielen, in denen man wöchentlich ein bis zwei Stunden hat. Es ist eine Tendenz erkennbar, dass dies weniger gewünscht wird. Also Kurzzeittherapien in den Mittelpunkt gestellt werden, und auch Verhaltenstherapien.

Die Lehrstühle an den Universitäten haben fast nur noch Verhaltenstherapeuten inne. Das ist etwas ganz anderes als eine analytische oder tiefenpsychologische Therapie, wo man auf die entwicklungspsychologischen Ursachen zurückgreift. Das tut die Verhaltenstherapie praktisch gar nicht oder nur ganz wenig. Also da gibt es deutliche Veränderungen. Je kürzer eine Therapie ist, je weniger sie tiefenpsychologisch orientiert ist, desto geringer wird ein dauernder Erfolg sein. Einfach weil es nicht zu einer wirklich tieferen Erkenntnis und damit auch dem Bemühen einer Persönlichkeitsentwicklung kommen kann durch Kurzzeittherapie.

Multipolar: Ist diese Entwicklung einem Sparzwang bei den Krankenkassen geschuldet? Oder ist es eher ein gesellschaftliches Phänomen?

Maaz: Es ist eher ein gesellschaftliches Problem. Der Umgang mit den Krankenkassen ist eigentlich ganz gut. Wenn jemand eine Therapie haben will, dann muss der Therapeut einen Antrag an die Krankenkasse stellen. Der Therapeut schreibt einen anonymisierten Bericht an einen Psychotherapiegutachter. Das erfolgt anonym, da erfährt die Krankenkasse nicht, um wen es geht. Ich habe das selbst auch viele Jahre gemacht. Dann hat man einen anonymisierten Bericht über die Problematik eines Patienten und den Therapieplan und muss beurteilen, ob die Therapie indiziert ist, ob der Therapieplan gut konzipiert und die Qualität gesichert ist. Allerdings hat das nachgelassen, das Gutachterverfahren wird zurückgefahren. Es gibt jetzt auch eine Zulassung zur Therapie, ohne dass ein Gutachter das zuvor beurteilt hat. Dann liegt die Entscheidung in den Händen der Krankenkasse. Damit spart die Krankenkasse Kosten, mit der Gefahr der Qualitätsminderung. Die Krankenkassen gehen in der Regel mit dem mit, was der Therapeut beantragt und begründet.

Multipolar: Was die Wirksamkeit von Psychotherapie generell angeht, hat sich da Ihre Einschätzung mit den Jahren verändert?

Maaz: In der Psychotherapie gibt es natürlich auch keine Wunder. Und Veränderungen sind immer ein längerer Prozess, der über Jahre geht. Dann muss man zugeben, dass, sich immer wieder mit seinem eigenen Leben kritisch auseinanderzusetzen und Beratungs- und Therapiestunden in Anspruch zu nehmen, das wollen dann sehr viele Menschen nicht.

Psychotherapie ist letztlich eine Lebenseinstellung, die eben nicht nur ein paar Stunden, sondern ein ganzes Leben beansprucht, und zwar immer im Sinne der kritischen Selbstreflexion. Also sich zu fragen, wo komme ich her, wie bin ich herangewachsen, wie bin ich beeinflusst worden, wie haben die Eltern, die Schule mich beeinflusst, welche Werte gibt es in der Gesellschaft, die mir helfen oder die mich behindern, die mich manipulieren. Diese ewige Auseinandersetzung nehmen nicht zu viele Menschen in Anspruch, so dass es dann auch vorkommt, dass man nach einem Therapieerfolg, vielleicht nach ein paar Wochen, erstmal wieder aufhört, therapeutische Regeln zu beachten. Dann denkt man, man ist jetzt stabil und gesichert. Und dann kommen ein Jahr später neue Probleme wieder hinzu.

Aber ich bin da nicht pessimistisch oder resigniert, sondern ich weiß um den Anspruch, die Dauer einer notwenigen Therapie, die Intensität. Man kann relativ oberflächlich erstmal beratend versuchen zu verstehen und zu besprechen. Das kann natürlich situativ helfen, aber es hilft nicht für eine grundlegende Veränderung der Lebenseinstellung.

Diese Erfahrung habe ich sowohl in der DDR gemacht, als auch im vereinten Deutschland, dass es bestimmte therapeutische Ziele gibt. In der DDR war das eigenständiger, kritischer, autonomer, selbstbewusster zu werden. Das war ja für viele Menschen eine erhebliche Einengung. Und wenn das erfolgreich war, dann waren sie fast automatisch mit dem politischen System im Konflikt. Da sollte man nicht zu autonom sein, und nicht zu kritisch.

Im Westen hat sich nur die Symptomatik etwas verändert. In der westlichen Zivilisation sind die Menschen so manipuliert, dass sie sich immer größer machen, mehr Schein als Sein sind, was hermachen müssen. Sie müssen sich darstellen, verkaufen. Wenn sie daran krank geworden sind und feststellen, das will ich ändern, verlieren sie – wenn man so will – an Marktwert. Weil sie sich dann nicht mehr so wie bisher behaupten, durchsetzen und konkurrieren wollen, wie sie es brauchten, um im Wettbewerb – auch um Arbeitsplätze – erfolgreich zu sein.

Ein Therapieerfolg in dem Sinne, dass man sich besser versteht und zurechtfindet, auch in der Partnerschaft, dass man ehrlicher, klarer ist und besser weiß, was man braucht und was man nicht braucht, macht dann mitunter Probleme. Insbesondere in einer Gesellschaft, die solche Ehrlichkeit und Offenheit nicht wünscht. Individuelle Gesundheit, Gesundung, kann dann dazu führen, dass man gesellschaftliche Probleme bekommt.

Multipolar: Die Unterschiede zwischen Ost und West gibt es bis heute, man findet sie auch aktuell im Land wieder. Als jemand, der aus dem Osten kommt, beschäftigt mich die Frage, inwieweit das, was wir gerade erleben, eine verspätete Rache der Ostdeutschen ist?

Maaz: Also von Rache würde ich nicht sprechen. Es ist eher eine Enttäuschung. Enttäuschung heißt auch, dass eine Täuschung vorausgegangen ist. Das hat viele im Osten betroffen, die glaubten, im Westen ist alles besser. Vordergründig war das auch so. Es gab mehr Freiheiten, mehr zu kaufen, mehr Reisemöglichkeiten, so dass man tatsächlich von außen betrachtet glauben konnte, das ist wirklich das bessere Leben.

Mit der Vereinigung ist vielen erstmal bewusst geworden oder sie haben es am eigenen Leib gespürt, welche Veränderung das jetzt auf dem Arbeitsmarkt gibt, in der Selbstbehauptung, im Konkurrieren müssen. Da ist sehr viel Ungerechtigkeit geschehen. Enttäuschung, Ernüchterung sind für mich die Begriffe, mit denen sehr viele Menschen im Osten zu tun haben.

Heute ist es so, dass ich die Reaktionen im Osten als die ehrlicheren, die gesünderen erlebe als im Westen. Weil wir die Veränderung, die wir in der Politik erleben, nicht einfach hinnehmen. Damit meine ich zunehmende autoritäre Strukturen, dass Kritiker ausgeschlossen, beschimpft werden, nicht zu Wort kommen. Oder dass in den öffentlich/rechtlichen Medien fast nur noch eine Meinung, nämlich eine regierungsnahe, gilt, und die Kritiker dort auch nicht zu Wort kommen.

Das sind alles Dinge, die kennt man im Osten. Dort sieht man genauer, wo Heuchelei oder Lug und Trug in der Politik Fuß fassen. Das ist der Grund, warum im Osten der Protest größer ist. In Westdeutschland können sehr viele Menschen nicht glauben, dass die Regierung nicht nur das Gute im Sinn hat, sondern dass da auch sehr viel Problematisches, Falsches ist. Das hat auch damit zu tun, dass man über Jahrzehnte relativ gut gelebt hat. Und deshalb wollen die meisten nicht glauben, dass dieses gute Leben zu Ende ist.

Multipolar: Ich beobachte regelrechte Denkverbote. Wenn ich zurückdenke an die DDR, dann muss ich sagen, da durfte man alles denken. So dass ich zu dem Schluss kommen, dass die Schere heute früher ansetzen muss. Also dass man sich bereits verbietet, bestimmte Dinge zu denken.

Maaz: Die Schere im Kopf, das sehe ich auch so. Ich vergleiche es mal so: Zu DDR-Zeiten waren die Verhältnisse klar. Da gab es die Seite der Partei, der Stasi-Leute und Denunzianten. Und den großen Teil der Bevölkerung, der damit nichts zu tun haben wollte. Da waren die Grenzen klar. Man wusste auch genauer, was man sagen durfte und was nicht, wo man Schwierigkeiten bekam. Aber das Denken war frei oder freier als heute. Das erlebe ich auch so. Heute hat das Denken eine sehr starke moralisierende oder ideologisierende Einengung. Diese Thematik war zu DDR-Zeiten weniger, weil man hatte die Ideologie, und man war entweder dafür oder dagegen. Das ist heute anders, weil es so scheint, dass bestimmte politische Inhalte dann auch moralisch aufgeladen sind, beispielsweise was von den Grünen kommt für die Umwelt, gegen die Klimaveränderung, wie man sich auch beim Essen verhalten soll. Das scheint alles gut gemeint, und man kriegt nicht gleich mit, dass man dadurch erheblich manipuliert wird.

Multipolar: Dieser fast kindliche Glaube an das Gute, den ich verstärkt im Westen wahrnehme, erkläre ich mir so, dass viele Menschen sich nicht vorstellen können, dass die uns Regierenden so Böse sein können, wie auch unsere Eltern es gelegentlich waren.

Maaz: Genauso ist es. Es gibt einen großen Unterschied zwischen Sozialisation Ost und West, wie Kinder im Westen erzogen wurden sind. Viele waren hier äußerlich erfolgreich, haben die Erfahrung gemacht, wenn man sich angepasst hat, Leistung gebracht hat, tüchtig war, sich unterordnet hat, auch in der Arbeitswelt, der Geschäftswelt, dann konnte man erfolgreich sein. Damit ist eine Entfremdung verbunden, dass die Kinder nicht um ihrer selbst Willen verstanden, anerkannt, bestätigt werden, sondern so, wie die Eltern es wollen. Das Kind hat nicht gut erfahren, wie es sein kann, sondern immer nur, wie es sein soll. Und mit Anpassung an das falsche Leben einer Konkurrenzgesellschaft kann man Karriere machen, Geld verdienen und denkt, dass doch alles in Ordnung sei.

Das ist einer der Hintergründe, warum Menschen plötzlich krank werden und gar nicht wissen, warum. Wir haben doch gut gelebt. Ich bin doch reich geworden, war erfolgreich. Sie haben gar nicht mitgekriegt, dass das aber eigentlich ein falsches Leben, ein ungesundes, ein stressreiches Leben gewesen ist. Aufgrund dieser Sozialisation im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen möglichen Auswirkungen und Folgen glauben viele Westdeutsche noch naiv, es ist alles gut. Sie doch in einen guten Demokratie leben würden und es irgendwie weiter geht. Es gibt halt jetzt nur ein paar Schwierigkeiten. Ich erlebe viele Westdeutsche, zumindest das, was bei mir ankommt, auch über die Medien, als viel, viel naiver, als das im Osten der Fall ist.

Multipolar: Ein aktuelles Thema sind die „Klimakleber“. Dass junge Menschen sich sorgen um die Zukunft, ist nicht neu. Das hatten wir bereits in den Achtzigern mit „No Future“. Auch Umweltthemen gab es, beispielsweise den „Sauren Regen“ und das „Ozonloch“. Wie ist Ihr Blick auf die „Letzte Generation“ und inwieweit spielt die Beziehungsproblematik eine Rolle?

Maaz: Ich halte die Aktionen für ziemlich verstört. Sie sind unangemessen, es kriegen die Autofahrer, Durchschnittsmenschen etwas ab. Überhaupt der Begriff „Letzte Generation“ ist schon ein Begriff, der eine Panik transportiert. Es wird etwas auf den klimabedingten Weltuntergang projiziert, was auf keinen Fall real so stimmt. Es wird etwas übertrieben. So viel, wie ich gehört oder Informationen habe, sind das nicht nur einige junge Menschen, die klimabewegt sind, sondern das sind organisierte Proteste, die von ganz anderen Quellen unterstützt werden. Das ist ein viel tiefer liegendes politisches Problem. Da werden die jungen Menschen auch nur benutzt oder missbraucht. Dass es genug Menschen gibt, die sich für solche absurden Aktionen hingeben, ist eine Frage, was sie dafür kriegen, wie sie bezahlt werden, aber eben auch, dass sie tatsächlich auch ideologisch vergiftet sind.

Ich kann mir das sehr gut vorstellen, dass sie viele Beziehungsprobleme haben und Zukunftsängste. Dass sie nicht wissen, wie sie in ihrem Leben zurechtkommen werden – ganz individuell. Und dann natürlich auch, was aus dieser Gesellschaft wird. Diese Verunsicherung hat immer auch mit Beziehungen zu tun. Mit zwischenmenschlichen Beziehungsfragen, an erster Stelle mit den Eltern, aber auch mit den Lehrern, mit den Werten, mit denen man aufgewachsen ist, waren die echt und ehrlich. Das alles sind Themen, die mit den Aktionen abgewehrt werden, und jetzt auf eine Klimapanik projiziert werden. Ich bin ziemlich sicher, dass bei all diesen Aktivisten erhebliche persönliche Beziehungsprobleme in ihrer Entwicklung eine Rolle gespielt haben. Sonst würde man sich nicht so verhalten können.

Multipolar: Ein anderes aktuelles Thema ist KI, Künstliche Intelligenz. Ich verbinde mit ihr die Abschaffung der Altersweisheit. Eine Entwicklung, die mit Corona begann, als man alte Menschen vor allem als Problem sah, als „vulnerabel". Wie sehen Sie die Künstliche Intelligenz und fühlen Sie sich, was die Abschaffung der Altersweisheit angeht, vielleicht sogar als Betroffener?

Maaz: (lacht) Nein. Ich erfahre genug Kritik wegen meiner kritischen Position. Aber in Zukunft wird das schon so sein, dass man persönliche Meinungen und Positionen gar nicht mehr wertschätzt. Ich sehe eine Tendenz überhaupt gegen Menschen, gegen Menschheit, und vor allem gegen menschliche Beziehungen. Bei praktisch allem, was politisch angedacht ist oder schon geschieht mit dem so genannten Great Reset, geht es um Globalisierung, Digitalisierung, Roboterisierung, größere Kontrolle, totalitaristische Kontrolle. Das sind alles Dinge, die sind gegen menschliche Grundbedürfnisse gerichtet, vor allem gegen menschliche Beziehungen. Es ist im Grunde genommen die Fortsetzung des falschen Lebens bis zum Exzess.

Das, was das menschliche Leben ausmacht, Beziehung, friedliche Kommunikation, überhaupt Kommunikation, offen und ehrlich, also nicht kämpferisch, nicht siegen wollen mit irgendwelchen Positionen. Das alles ist in Gefahr und wird verändert – auch durch Künstliche Intelligenz. Die KI wird immer schlauer sein als wir Menschen, aber nicht in der Beziehungsfähigkeit. Es geht ja nicht nur darum, dass man etwas weiß, sondern welches Wissen wie und unter welchen Umständen angewendet wird. Da geht immer mehr menschliche Bezogenheit verloren.

Multipolar: Würden Sie eher dazu raten, einen alten weisen Menschen zu fragen als die KI?

Maaz: Ich würde keine Alternative aufmachen. Mit der Maschinenstürmerei war es auch so. Technologische Veränderungen haben natürlich nicht nur Vorteile gebracht, sondern immer auch erhebliche Störungen, Zerstörungen und Nachteile. Schauen Sie, was mit dem Fernseher, mit dem Handy, mit dem Computer alles geschehen ist. Da gibt es natürlich wesentliche Erweiterungen an Information und Kommunikation, aber eben auch einen erheblichen Verlust. Dass man sich oft nicht mehr persönlich trifft und austauscht. Die menschliche Begegnung geht verloren und so wird es auch mit der Künstlichen Intelligenz sein.

Man wird manche Dinge viel schneller und besser auf der Wissensseite, auf der informativen Seite haben. Aber immer zunehmend unter Verlust der menschlichen Bezogenheit, der Gefühle, des Austausches, der Begegnung, des Vergnügens mit anderen Menschen in Kontakt zu sein. Oder auch um sich gemeinsam um ein Thema zu bemühen. Das schafft ja auch emotionale Beziehung.

Es wird wie immer sein: Es hat Vorteile und erhebliche Nachteile. So wie unsere Zeit sich entwickelt, werden die Vorteile überbewertet und der Verlust an Menschlichkeit und Bezogenheit wird klein geredet. Der wird aber erheblich sein, das ist wirklich zu befürchten.

Multipolar: Nach der Wende 1989 kam es im Osten anders als von vielen gedacht oder erhofft. Diese Erfahrung hat etwas hemmendes. Gleichzeitig höre ich, dass wir in einer spannenden Zeit leben. Das sind die Gegenpole, zwischen denen ich mich sehe. Sehen Sie das ähnlich und was empfehlen Sie?

Maaz: Es ist für mich ein Kulturkampf, bei dem es viel stärker jetzt um Kontrolle des Menschen geht, um Beeinflussung, Manipulation. Der Gegenpol dazu wäre das, was ich Beziehungskultur nenne. Dass Menschen zusammenkommen können, sich austauschen können, ehrlich machen können, empfangen werden auch, vor allem auch emotionaler Austausch. So sehe ich praktisch die Kampffront. Auf der einen Seite mehr Kontrolle, Macht über die Menschen, sie zu manipulieren. Auf der anderen Seite das Bedürfnis der Menschen, wieder gut zusammensein zu können, eine Gemeinschaft zu haben.

Das halte ich auch in der momentanen Zeit für die wichtigste Aufgabe, dass wir uns um Beziehungen bemühen, als Gegenkraft zu dem, was offiziell läuft oder gefordert wird. Dass man sich in kleinen Gruppen mit wenigen Menschen trifft. Dass man dort anders kommuniziert. Dass man sich mitteilt. Nicht nur streitet, sondern das praktiziert, was wir unter „Zwiegesprächen“ verstehen. (1) Das heißt, dass man sich mitteilen kann, ohne belehrt zu werden, ohne kritisiert zu werden, sondern mit dem Bedürfnis: Ich will verstanden werden und verstehen, ich will empfangen sein. Wenn das im Austausch geschieht, hat das eine hohe befriedigende Potenz. Eine viel größere als wenn man in einem Disput nur streitet, um Recht haben zu wollen.

Das sehe ich im Moment als das wichtigste an. Dass wir uns bemühen mit einigen wenigen Freunden, Partnern, kleine Gemeinschaften gegen diese Tendenz der ideologischen Dominanz, der moralisierenden Dominanz globalen Denkens tatsächlich wieder lokal und beziehungskulturell zusammen zu sein.

Multipolar: Sie betonen auch immer wieder, dass man wegkommt von der Sachebene hin zur Gefühlsebene.

Maaz: Ja, genau. Dass man beim Diskutieren aufhört über Pro und Contra auf einer Sachebene zu streiten, sondern anfängt, von sich zu sprechen: „Ich denke so, ich bin der Meinung, weil …“ Und mit dem „weil“ wird man herausgefordert, es ist eine persönliche Stellungnahme. „Ich denke so, weil ich die und die Erfahrungen oder Bedürfnisse oder Gefühle habe.“ Es gibt dann am Ende keine dominante Meinung, sondern eine individuell-subjektive. Wenn man anfängt zu sagen, dass ist meine Meinung „weil“, muss der andere nicht damit übereinstimmen. Aber ich habe die Chance zu verstehen, weshalb jemand so denkt, und ich kann mich verständlich machen, warum ich so oder anders denke.

Multipolar: Das ist etwas, was ich bei mir im Taxi gelernt habe. Den Leuten zuzuhören, und das Gesagte nicht sogleich zu bewerten, zu beurteilen oder gar zu verurteilen. Im Nachhinein muss ich sagen, es hört sich leicht an, aber es ist ziemlich schwer. Es hat Jahre gedauert, es auch wirklich dann zu praktizieren. Einfach weil wir so gepolt sind, alles gleich bewerten zu müssen.

Maaz: Das ist ein hoher Wert, glauben Sie mir. Es ist ein hoher Wert, wenn man bereit ist, nur zuzuhören, um zu verstehen. Ich will dich verstehen. Ich höre dir zu. Und nicht etwa, dass ich nur das höre, was ich hören will. Sondern ich will hören, um dich zu verstehen. Das ist erstens für den Empfänger hilfreich, dass man einem Menschen auf diese Weise sich innerlich nähert. Und für den, der empfangen wird, dem man zuhört, der das Gefühl hat, da gibt es Menschen, die bemühen sich, mich so zu verstehen, wie ich bin und denke. Das ist ein hoher Wert. Das kann man nicht hoch genug schätzen.

Dass es uns nicht leicht fällt, liegt daran, dass wir es nicht gelernt haben. Wir haben gelernt zu streiten und Recht zu behalten, uns durchzusetzen. Wir haben doch nie vermittelt bekommen, wie das geht, wenn ein anderer Mensch spricht. Wie ich mein Verständnis verbessern kann, dass ich genauer verstehe, was er meint. Es gibt dazu auch einfache Untersuchungen: Nehmen Sie zehn Menschen und es passiert zur gleichen Zeit etwas. Alle zehn sind dabei. Dann erlebt das jeder von den zehn anders und interpretiert es anders oder reagiert anders darauf. Es gibt keine objektive Wahrheit in solchen Zusammenhängen.

Multipolar: Eine objektive Wahrheit ist: Sie arbeiten an einem neuen Buch. Worum geht es darin?

Maaz: Das Manuskript habe ich gestern dem Verlag geschickt, das Buch soll im September erscheinen. Es wird wieder „Frank & Timme“ sein, der auch die „Angstgesellschaft“ gemacht hat. Die Themen sind Friedensfähigkeit und Kriegslust. Der Hintergrund ist, ich bin erschrocken darüber, dass in Deutschland schon wieder so eine Kriegsunterstützung möglich ist. Dass das „Nie wieder!“ keine wirkliche Gültigkeit mehr hat und dass man mit den Waffenlieferungen einen Krieg anheizt. Das hat mich erschreckt, und dann habe ich versucht, es genauer zu ergründen und die Psychodynamik zu erfassen. Was braucht es, dass Menschen friedensfähig sein können. Und was ist der Grund, weshalb es passiert wie jetzt, dass Menschen wieder kriegslüstern werden, sich für Krieg begeistern. Und das habe ich in dem Buch vor allem auf die entwicklungspsychologischen Bedingungen bezogen, um es verständlich zu machen, um es erklären zu können.

Multipolar: Können Sie ein Beispiel geben?

Maaz: Ich gehe dabei von den negativen und positiven elterlichen Beziehungen aus, die ich durchdekliniert habe: Mutterbedrohung, Mutterbesetzung, Muttermangel, Muttervergiftung, Vaterterror, Vatererpressung, Vaterflucht, Vatermissbrauch. Wenn ein Mensch nun in der frühen Entwicklung zum Beispiel Mutterbedrohung erlebt hat in dem Sinne, dass die Mutter das Kind nicht wirklich wollte: „Du gefällst mir nicht“ oder „Ich wollte dich gar nicht haben“, so ist das ein ganz schlimmes Schicksal. Es geht um frühe Kränkungen, Traumatisierungen und Beziehungsdefizite, die einen Gefühlsstau begründen, weil man sich nicht richtig wehren darf. Dann hat ein solcher Mensch viel berechtigte Empörung und Einschüchterung. Er fühlt sich bedroht. Das Leben ist bedroht.

Jetzt wird ihm wieder eine Bedrohungslage vermittelt. Damit ist ein solcher Mensch sehr viel anfälliger, in den Krieg ziehen zu wollen. Stellvertretend natürlich. Dann wird man kriegslüstern: Jetzt kann ich endlich den Gefühlsstau aus früher Traumatisierung an einem Feindbild abreagieren.

Und die andere Seite, wenn ein Kind eine Mutterliebe erfährt: Ich bin okay, ich bin richtig so, ich kann zufrieden sein. Ein solcher Mensch wird nie in den Krieg ziehen wollen. Denn er ist zufrieden mit sich und seinem Leben. Das ist eine wesentliche Grundlage, um überhaupt friedensfähig zu sein. Das setzt voraus, dass man mit sich selbst in Frieden leben kann.

Über den Interviewpartner: Hans-Joachim Maaz, Jahrgang 1943, ist Psychiater, Psychoanalytiker und Psychotherapeut. Von 1980 bis 2008 leitete er die psychotherapeutische Klinik im Krankenhaus des Diakoniewerks in Halle/Saale geleitet. Er ist Autor unter anderem der Bücher „Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der DDR“ (1990), „Die narzisstische Gesellschaft“ (2012), „Das falsche Leben. Ursachen und Folgen unserer normopathischen Gesellschaft“ (2017), „Das gespaltene Land“ (2020) und zuletzt „Angstgesellschaft“ (2022).

Über den Interviewer: Rumen Milkow, Jahrgang 1966, wuchs als Sohn eines Bulgaren und einer Berlinerin in Ostdeutschland auf. Er ist examinierter Krankenpfleger, ehemaliger Berliner Taxifahrer und „Eselflüsterer“. Als freier Autor und Journalist lebt er in Berlin und Bulgarien.

Anmerkung

(1) siehe auch Michael Lukas Moeller und Hans-Joachim Maaz: „Die Einheit beginnt zu zweit: Ein deutsch-deutsches Zwiegespräch“, Rowohlt 1991

SOPHIA, 23. Juli 2023, 15:50 UHR

Vielen Dank für die vielen interessanten Aspekte!

HELENE BELLIS, 25. Juli 2023, 18:20 UHR

Irgendwie ist mir das zu platt. Obwohl ich weder von Herrn Maaz noch von Herrn Milkow bislang eine schlechte Meinung hatte, sträuben sich mir hier alle Nackenhaare. Ich nehme allerdings mal an, wenn die beiden Westdeutsche gewesen wären, die hier Klischees über Ostdeutsche verbreiteten, wäre das Ostdeutschen genauso aufgestoßen wie dieses Interview mir.

Aber wie definiert man im Jahr 2023 überhaupt »Ostdeutsche« und »Westdeutsche«? Was ist mit den ganzen ehemaligen Ostdeutschen, die seit vielen Jahren im Westen leben? 4 Millionen sollen bis dato von Ost nach West gezogen sein; als was werden die bezeichnet? Und wie die ebenfalls zahlreichen, wenngleich wenigeren einstigen Westdeutschen (2,7 Millionen), die jetzt östlich der Elbe ihr Zuhause haben? Deren jeweilige Sozialisation ist ja bis 1989 auch die ihres Herkunftslandteiles gewesen. Von wem genau redet man hier also?

Davon abgesehen: bei aller berechtigter Kritik, die es sicherlich zu äußern gibt, und die ich als Westdeutsche auch gerne bereit bin, anzunehmen, haben viele der hier geäußerten Thesen m. E. weder Hand noch Fuß. Das fängt bereits mit einer beliebten aber sehr falschen Gleichsetzung an, nämlich der »DDR vs. heutiges Deutschland«:

Maaz: »Zu DDR-Zeiten waren die Verhältnisse klar. […] Da waren die Grenzen klar. Man wusste auch genauer, was man sagen durfte und was nicht, wo man Schwierigkeiten bekam. Aber das Denken war frei oder freier als heute. Das erlebe ich auch so. Heute hat das Denken eine sehr starke moralisierende oder ideologisierende Einengung.«

Multipolar: »Ich beobachte regelrechte Denkverbote. Wenn ich zurückdenke an die DDR, dann muss ich sagen, da durfte man alles denken. So dass ich zu dem Schluss kommen, dass die Schere heute früher ansetzen muss. Also dass man sich bereits verbietet, bestimmte Dinge zu denken.«

Da die DDR seit fast 35 Jahren Geschichte ist, kann man sie auch nur mit einem ebenso alten Westdeutschland vergleichen. Denn die DDR, so es sie heute noch gäbe, hätte sich sicherlich gewaltig verändert, wie sich auch (West-)Deutschland verändert hat. Selbst ohne die Wiedervereinigung wäre es nicht mehr das Westdeutschland von 1989, und man sollte auch nicht vergessen, daß ein großer Teil der tatsächlich stattgefundenen Änderungen explizit durch die Wiedervereinigung entstanden sind. Das gesagt, vergleichen wir also fairerweise doch mal die DDR mit der Bonner Republik der 80er Jahre:

In den 80er Jahren war Westdeutschland ein ziemlich lebenswerter Ort, und die Menschen waren durchaus und in vielerlei Hinsicht kritisch, man denke bspw. nur an den Volkszählungsboykott.

Maaz: »Es gibt einen großen Unterschied zwischen Sozialisation Ost und West, wie Kinder im Westen erzogen wurden sind. Viele waren hier äußerlich erfolgreich, haben die Erfahrung gemacht, wenn man sich angepasst hat, Leistung gebracht hat, tüchtig war, sich unterordnet hat, auch in der Arbeitswelt, der Geschäftswelt, dann konnte man erfolgreich sein. Damit ist eine Entfremdung verbunden, dass die Kinder nicht um ihrer selbst Willen verstanden, anerkannt, bestätigt werden, sondern so, wie die Eltern es wollen. Das Kind hat nicht gut erfahren, wie es sein kann, sondern immer nur, wie es sein soll. Und mit Anpassung an das falsche Leben einer Konkurrenzgesellschaft kann man Karriere machen, Geld verdienen und denkt, dass doch alles in Ordnung sei.«

Daß »das Kind« in der DDR nie indoktriniert worden sei, glaube ich nicht nur deswegen nicht, weil ich mal Kinderbücher aus der DDR in die Hände bekommen habe, die nur so strotzten von politischer Indoktrination, und verglichen mit bspw. dem, was damals Beltz & Gelberg so herausbrachte (und womit ich aufgewachsen bin), sehe ich alleine schon das kindliche Bücher-Unglück im Osten dann doch als das größere an. Mögen die DDR-Krippen noch politisch neutral gewesen sein, die Kindergärten waren es wohl nicht mehr. Und die dort betreuten Kinder wurden also um ihrer selbst willen verstanden, anerkannt und bestätigt? Wer's glaubt...

Ebenfalls konnte man damals in Westdeutschland durchaus was werden, wenn man sich nicht unterordnete. Und man konnte auch Karriere machen, ohne sich verbiegen zu müssen. Einen Button mit »Stoppt Strauß« zu tragen, hat 1980 in der BRD lediglich an einer Schule in Bayern einen Eklat ausgelöst. In der DDR hätte man mit »Stoppt Honecker« sicherlich deutlich größere Probleme bekommen. Statt lediglich von der Schule zu fliegen (was später qua Gerichtsurteil quasi rückgängig gemacht werden mußte) wäre die Schülerin »drüben« wohl eher im Erziehungs- oder Arbeitslager gelandet, von einer ruinierten Zukunft ganz zu schweigen. (Halte ich als entsprechend indoktrinierte Westfrau zumindest für sehr wahrscheinlich.) Wohl kaum aber wäre ein solches Ereignis in der DDR landesweit offen diskutiert worden — und zwar auf allen Kanälen. Und wohl kaum wäre die Schülerin dann nach dem Abitur an einer anderen Schule noch Anwältin geworden. Noch weniger wäre eine oppositionelle Kampagne mit dem Namen "Stoppt Honecker" überhaupt möglich gewesen. Und wer ist jetzt nochmal freier bzw. angepaßter aufgewachsen? "Wir" im Westen oder "Ihr" im Osten?

Maaz: »Aufgrund dieser Sozialisation im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen möglichen Auswirkungen und Folgen glauben viele Westdeutsche noch naiv, es ist alles gut. Sie doch in einen guten Demokratie leben würden und es irgendwie weiter geht. Es gibt halt jetzt nur ein paar Schwierigkeiten. Ich erlebe viele Westdeutsche, zumindest das, was bei mir ankommt, auch über die Medien, als viel, viel naiver, als das im Osten der Fall ist.«

Ich konnte noch nie und werde nie glauben, daß Ostdeutsche die besseren Demokraten wären [das sagt Maaz jetzt nicht in diesen Worten, aber das liest man zu diesem Thema immer wieder], weil sie ja wüßten, wie es ist, unterdrückt zu werden. Immerhin hat das Gros sich ja damals auch mit der DDR und den Restriktionen arrangiert. Die Leute waren dann eben im besten Sinne unpolitisch, und das hat sich nach der Wende auch gezeigt: genauso wie man früher einfach geschaut hat, was kommt, war es wieder so. Nur – nix selber machen, aber kritisieren (das durfte man ja nach der Wende), das ist ein bißchen zu einfach. Weswegen man auch behaupten könnte: »Die Ostdeutschen« sind gar nicht wirklich nachdenklicher und besser, sie sind einfach nur seit Jahren einfach gegen alles, was die Regierenden machen und haben dann halt derzeit Glück damit, weil das jetzt zufällig die "richtige Antwort" ist.

Maaz: »Das sind alles Dinge, die kennt man im Osten. Dort sieht man genauer, wo Heuchelei oder Lug und Trug in der Politik Fuß fassen. Das ist der Grund, warum im Osten der Protest größer ist. In Westdeutschland können sehr viele Menschen nicht glauben, dass die Regierung nicht nur das Gute im Sinn hat, sondern dass da auch sehr viel Problematisches, Falsches ist.«

Dazu kann ich nur sagen: in meinem Freundeskreis (von zehn Leuten) gibt es zwei Ostdeutsche. Von den fünf Freunden, wo ich es weiß, sind zwei gar nicht und drei mehrfach geimpft, und davon beide aus dem Osten. Beide haben bei Corona mitgemacht, die eine mehr, die andere leicht weniger. Kritisch war – von allen zehnen! – (und neben mir) nur eine Westdeutsche. Mit ihr konnte ich zumindest an allem, was in diesen drei Jahren passiert ist, zusammen Kritik üben. Das ist mein persönliches Fazit zu Ost, West und Corona. Meine Kernherkunftsfamilie ist ebenfalls nicht geimpft, die Familien der beiden Freundinnen aus Ostdeutschland komplett. Die im Artikel hochgelobte Kritik von Ostdeutschen an Regierung und Gesellschaft konnte ich da, leider, kaum einmal finden.

Maaz: »Heute ist es so, dass ich die Reaktionen im Osten als die ehrlicheren, die gesünderen erlebe als im Westen. Weil wir die Veränderung, die wir in der Politik erleben, nicht einfach hinnehmen.«

Sehe ich nicht unbedingt so. Vielleicht kommt es auch auf den Blickpunkt drauf an? Um das mal zu verdeutlichen, habe ich die folgende Liste erstellt (die keinen Anspruch auf Vollständigkeit hat):

Wolfgang Wodarg, Beate Bahner, Christian Dettmer, Stefan Hockertz, Michael Ballweg, Heinrich Habig, Wolfgang Urmetzer, Ronald Weikl, Claus Köhnlein, Friedrich Pürner, Harald Walach, Ulrike Kämmerer, Stefan Homburg, Ulrike Guérot, Dietrich Murswiek, Matthias Burchardt, Arne Burkhardt, Walter Lang, Christian Schubert, Steffen Rabe, Martin Hirte, Bodo Schiffmann, Stephan Kohn, Ken Jebsen, Christian Kreis, Michael Esfeld, Christoph Lütge, Gunter Frank, Matthias Schrappe, Karl Hilz, Markus Schlöffel, ...

Ja, das könnte man für ein Who-is-Who der bekanntesten deutschen Coronakritiker halten. Mit einer Besonderheit: alle diese Menschen sind in Westdeutschland geboren, aufgewachsen und sozialisiert worden. Sie alle haben sich während der Corona-Zeit, ganz im Sinne des Grundgesetzes, öffentlich für die Freiheit eingesetzt und gegen den Staat gestellt, so wie zu tun wir es in der Bonner Republik sogar noch in der Schule gelernt haben! Und sie haben zum Teil teuer dafür bezahlt. Wenn es eine gleichwertige Liste DDR-stämmiger Coronakritiker gibt, nur her damit. Aber ich glaube, hier läßt sich ganz deutlich sagen, daß dieser freiheitliche Geist des Grundgesetzes in »den Westdeutschen« durchaus verankert ist. Hier standen und stehen Menschen, die genau wissen, was auf dem Spiel steht und die – für sich und andere! – darum kämpfen, daß uns diese Freiheit erhalten bleibt.

Ich möchte nicht behaupten, daß ich mit all meinen hier proklamierten Thesen recht habe, im Grunde handelt es sich um nichts anderes als um meine sehr subjektive Meinung. Aber dieses Westbashing hat mich wirklich dazu getrieben, mal ein paar mindestens ebenso glaubwürdige Gegenthesen zu den im Interview dargelegten in den Raum zu stellen, um zu zeigen, daß die einen so wahr sein könnten wie die anderen. Schuldzuweisungen (und so klingt vieles in diesem Interview für mich) sind ganz sicherlich nichts, mit dem Ost- und Westdeutsche – ob nun original oder eingewandert – sich gegenseitig bewerfen sollten. Dann doch lieber gemeinsam die bestehenden Probleme angehen. Das allerdings bedarf meines Erachtens deutlich mehr individuellen Eintauchens in die Problematik.

A.F., 6. August 2023, 13:15 UHR

Sehr gute korrigierende Ergänzung. Vielen Dank.

BEN, 9. August 2023, 09:40 UHR

Ich denke, dass die Aussagen von Herrn Maaz durchaus mit der klugen Anmerkung von Frau Bellis kompatibel sind. Überall dort, wo eine statistische Erfassung der Überzeugungen "Ostdeutscher" stattfindet, sind die Ergebnisse Ausdruck einer tendenziell skeptischen Bevölkerung. Beispielhaft sei an die geringeren Impfquoten und das allgemeine Wahlverhalten erinnert. Zugleich ist die Abwesenheit von namhaften Persönlichkeiten im "Widerstand" Ausdruck eines schwierigen Verhältnis des Individuums zur Partizipation. Partizipation wird vom Ostdeutschen eher als ein letztlich sinnloses Martyrium empfunden. Die Erfahrungen in der DDR wie auch der jüngeren Geschichte der BRD scheinen Ihnen da Recht zu geben.

STEFAN KORINTH, 9. August 2023, 17:35 UHR

Falls es tatsächlich überproportional mehr namhafte Corona-Maßnahmenkritiker mit westdeutscher Herkunft gegeben haben sollte (ich habe nicht nachgezählt), könnte das auch daran liegen, dass Ostdeutsche auf den entsprechenden Führungsposten an Universitäten, Gerichten etc. einfach völlig unterrepräsentiert sind. Und das auch im Osten selbst.

„Dieser personelle Umbruch im ostdeutschen Elitengefüge war außerordentlich tief und wirkt ohne jede zeitliche Begrenzung bis heute fort. (…) In den neuen Bundesländern bestehen für die Generation der DDR-Sozialisierten bis heute strukturelle Zugangsblockaden. (…) In den Regierungsinstitutionen der ostdeutschen Länder und des Bundes sind bereits ab der Ebene der Abteilungsleiter Ostdeutsche so gut wie nicht mehr vertreten.“ usw. (Jürgen Angelow: Entsorgt und ausgeblendet. Elitenwechsel und Meinungsführerschaft in Ostdeutschland (2017); S. 69 und 81 f.)

JAN, 11. August 2023, 18:10 UHR

Vielen Dank für Artikel und Beiträge! Ein interessanter Hinweis von Frau Bellis, dass die aufgeführten Coronakritiker alle in Westdeutschland geboren worden sind. Für mich ein wichtiger Punkt und gedanklich ein notwendiges Gegengewicht zu den vielen politischen und medialen Köpfen, die sich in den vergangenen Jahren konträr zu diesen "Alltagshelden" verhielten. Der Film "Können 100 Ärzte lügen?" soll den Hinweis auf Arne Burkhardt bis hin zu Wolfgang Wodarg nicht relativieren, gleichwohl verdeutlichen, dass es zum Glück immer noch Menschen aufrechten Ganges gibt - wie in Österreich, der Schweiz so auch in Deutschland mit Ost und West und Nord und Süd. Sie helfen mir, mich zu orientieren. Dafür empfinde ich Verbundenheit und Dankbarkeit.

HELENE BELLIS, 12. August 2023, 09:55 UHR

Sehr geehrter Herr Korinth,

die von Ihnen erwähnte Unterrepräsentation möchte ich keinesfalls leugnen. Allerdings hatte ich nie das Gefühl, daß es sich bei den Coronakritikern, die sich öffentlich zu Wort gemeldet haben, in erster Linie um Menschen in Führungspositionen handelte. Wenn in meiner obigen Liste einige Profs (die längst nicht alle in Deutschland lehren) auftauchen, so liegt das vor allem daran, daß deren Lebensläufe ad hoc schneller zu recherchieren waren. Ich hatte eine etwas längere Liste, konnte aber bei weitem nicht zu allen Personen entsprechende private Daten finden. Amtsrichter, Ex-Polizisten, Bundespolizisten, Biologen, Unternehmer, einfache Anwälte, Ärzte – vielleicht auch Amtsärzte – und Kinderärzte sowie Journalisten gibt es ganz gewiß auch mit DDR-Hintergrund.

Tatsache ist aber auch, daß die Leopoldina zwar neben ostdeutschen sehr wahrscheinlich mehr westdeutsche Mitglieder hat, mir dennoch nur drei bekannt sind, die sich öffentlich als Leopoldina-Miglied gegen den Corona-Wahnsinn stellten, und diese drei (Luckhaus, Esfeld und Aigner) sind nun mal – Westdeutsche. Wenn es aber stimmt, wie Herr Maaz sagt, daß Ostdeutsche skeptischer wären, dann müßten gerade unter den weniger Ostdeutschen auch in der Wissenschaft ja prozentual mehr sich öffentlich kritisch äußern. Dem scheint aber nicht so zu sein. Wenn es also nicht an der Skepsis liegt, dann ist es wohl die fehlende öffentliche Kritik.

Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, es geht hier nicht um Schuldzuweisungen, sondern um Erklärungsversuche. Möglicherweise hat es die Antwort von Ben mit dem »Mysterium Partizipation« da ja tatsächlich getroffen, auch 40 Jahre DDR haben nun mal Spuren hinterlassen. Die mögen »positiv« sein, wie eine erhöhte Anzahl von Skeptikern, oder eben »negativ«, daß man lieber privat skeptisch ist als öffentlich. Obwohl ich mit Bewertungen lieber zurückhaltend sein möchte, denn ich wollte eigentlich eben gerade nicht, daß das hier in einen Kampf zwischen Ost und West ausartet. Aber wenn man Ostdeutsche überhaupt nicht kritisieren darf, dann wird das eines Tages so enden, wie es jetzt mit dem Antisemitismus ist. Ob das dann für die Betroffenen hilfreich (gewesen) sein wird, ist dann allerdings die Frage.

STEFAN KORINTH, 15. August 2023, 15:40 UHR

Sehr geehrte Frau Bellis,

ich teile Ihre grundsätzliche Haltung, keinen künstlichen Konflikt zwischen Ost- und Westdeutschen zu befeuern. Der Aspekt ist im Interview mit Hans-Joachim Maaz ja auch nur einer von mehreren Punkten. Die Kritikpunkte, die Sie in ihren Kommentaren aufgezählt haben, sind in meinen Augen nachvollziehbar und bedenkenswert.

Zu Ihrer Antwort auf meinen Kommentar: Namhafter Maßnahmenkritiker konnte man ja nur sein, wenn man entweder einen institutionellen Posten bekleidet hat, auf dem man etwas zu sagen, also schon einen gewissen Namen hatte (Professor, Richter, Amtsarzt etc.) oder wenn man sich über YouTube oder andere eigene Online-Kanäle eine ausreichend große Öffentlichkeit verschaffen konnte.

Erstere habe ich zusammenfassend als Menschen mit Führungspositionen bezeichnet. Der Sammelbegriff ist nicht immer passend, man könnte dazu auch auf den soziologischen Begriff der „Funktionseliten“ zurückgreifen. Der Punkt ist: Hier sind Ostdeutsche klar unterrepräsentiert. Dass die Ostdeutschen, die es trotzdem auf solche Posten geschafft haben, sich deutlich stärker als ihre westdeutschen Pendants hätten kritisch zu den Maßnahmen äußern müssen, wie Sie schreiben, halte ich für einen Trugschluss.

Gerade wenn man als Ossi auf solche Posten gelangen möchte, die einem eigentlich durch eine Art gläserne Decke verschlossen sind, muss man sich doch besonders opportunistisch verhalten. Ein Blick auf die bekannten Ostdeutschen in der Politik genügt (Merkel, Gauck, Göring-Eckardt etc.), um zu verdeutlichen, was ich meine. Natürlich gibt es auch Ausnahmen von dieser Regel wie Sahra Wagenknecht in der Politik oder Michael Meyen unter den Professoren. Dementsprechend heftig werden sie von anderen Etablierten bekämpft.

Die zweite Gruppe der namhaften Maßnahmenkritiker sind Menschen, die über ihre Auftritte in oppositionellen Medien, bei öffentlichen Protesten oder auf eigenen Social-Media-Kanälen deutschlandweit bekannt geworden sind. Sie nannten Menschen wie Bodo Schiffmann, Michael Ballweg oder Ken Jebsen. Ob und – wenn ja – warum Ostdeutsche hier unterrepräsentiert sind, weiß ich nicht. Dazu kann man sicherlich verschiedene Thesen aufstellen. Etwa: Sich selbst ins Rampenlicht zu stellen, ist mit DDR-Sozialisation nicht gut vereinbar. Oder: Die Menschen im Osten sind stärker desillusioniert und sehen deshalb keinen Grund sich individuell noch groß zu empören. Man arrangiert sich seinen Alltag so weit wie möglich um die Maßnahmen herum (stiller Protest) oder geht in der Masse auf die Straße. Diese und andere Thesen haben sicherlich einen wahren Kern aber auch ihre Grenzen und Ausnahmen. (Uwe Steimle) Ich möchte dahingehend auch nicht spekulieren. Fakt ist nur: Die Beteiligung an den Demos Anfang 2022, über die auch Multipolar damals regelmäßig berichtete, war auf die Bevölkerung je Bundesland umgerechnet im Osten höher als im Westen.

KATRIN SCHENK, 14. August 2023, 13:10 UHR

Dankbar bin ich für diese Diskussion. Ich sehe zum einen die kollektive Dimension der Sozialisation in Ost und West. Und ich sehe die individuellen biografischen Erfahrungen. In der DDR groß geworden, wurde ich indoktriniert in Kinderheim und Schule. Im familiären Umfeld habe ich die für mich enttäuschende Erfahrung gemacht, dass das Narrativ der „Corona-Pandemie“ ungefragt übernommen wurde, trotz meiner Kritik. Können wir wirklich sicher wissen, warum Menschen in Ost und West zu dieser Agenda der ökonomischen Eliten „Nein“ sagen und warum sie das Gefühl haben, dass ihnen hier etwas oktroyiert wird, was nicht ihr Eigenes ist?

Obwohl meine Verwandtschaft im Osten doch ähnlich wie ich sozialisiert wurde, teilweise die gleiche Kinderheimerfahrung gemacht hat, konnte sie diese Agenda nicht sehen oder wollte oder durfte es nicht – vielleicht auch aufgrund existentieller Angst. Ich war entsetzt, als ich als Corona-Leugner hingestellt wurde, ich war fassungslos, als ein Teil der Familie meinte, es sollte eine allgemeine Impflicht geben. Und ich darf lernen, zu verstehen und zu akzeptieren und dabei selbstbestimmt meinen eigenen Weg zu gehen. Ein Weg, der sich aus meinen Erfahrungen, meinen Verletzungen, meinen aktuellen Gefühlen, meinem Wissen und meiner Erkenntnis speist. Ich meine, Resilienz hat viele Schichten. Sie kann ihre Wurzel in einer intakten Familie haben, die die Natürlichkeit und Intuition des heranwachsenden Kindes gestärkt hat. Sie kann auch ihre Wurzel im überwundenen Leid haben. Das kindliche Leiden hat mich in diesem Fall sensibilisiert und vielleicht auch "widerborstig" gemacht.

Ob es Stärke ist, weiß ich nicht. Sie wäre mit allen Unsicherheiten behaftet, weil sie nicht geerdet sein kann. Und doch gibt es da eine Erklärungslücke für Resilienz, für Charakter und innere Stärke: Was bewegt den einen in die Therapie zu gehen und den anderen, weiter zu leiden und sich darin zu verfangen? Was bewegt den einen dazu, die Dinge zu ergründen und den anderen dazu, wegzuschauen? Karl Jaspers, der Zeit seines Lebens gesundheitlich eingeschränkt war, meinte Folgendes:

„Seelisches kann nicht zureichend verstanden werden im Rahmen einer naturwissenschaftlich orientierten Psychologie.“

Ich habe diesen Satz bei Rüdiger Safranski „Einzeln Sein“ gefunden. Ein Buch das mich in meiner Verletzlichkeit in dieser Zeit außerordentlich gestärkt hat. Vielleicht gibt es doch eine Art spirituellen Anker, in der unsere humanitäre Ader, in der die Aufklärung und die Naturrechtslehre als gemeinsamen Nenner eines Gewissens eingeschmolzen sind. Ralf Bonelli streitet gegen Erich Fromm, der genau hier einen Ansatz sieht. Könnte es sein, dass das Phänomen Spiritualität in Form eines geklärten Bewusstseins über das Menschsein an sich in der Wissenschaft viel zu wenig in den Ansatz einer Erklärung gebracht wird? Und könnte es nicht die Erklärung dafür sein, warum es in Ost und West Menschen gibt, die ihr ganzes Wissen und ihre ganze Expertise in den Dienst der Menschheit stellen, weil sie tief im Innersten ein grundlegendes Bedürfnis haben: Mensch zu sein und weil sie fühlen, dass wir Schöpfung und Schöpfer in einem sind. Dieses Menschsein hat sich aus dem kollektiven Bewusstsein herausgenommen, ohne sich von ihm zu entfremden. Wir finden es in Ost und in West gleichermaßen.

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