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„Er hat sich so klein angefühlt“

Was tut man, wenn man nichts tun kann? Die psychischen Folgen der Corona-Krise sind verheerend. Zwei Mütter, ein Teenager und eine Kinder- und Jugendpsychiaterin erzählen von ihrem Kampf.

LIZA ULITZKA, 1. März 2022, 3 Kommentare, PDF

Als Ursula Puffing am 23. Februar 2020 zu ihrem gewohnten Dienst als Pflege- und Hygieneassistentin in einem steirischen Pflegeheim antritt, überfällt sie Panik. Wir schreiben die ersten Wochen der Corona-Pandemie. „Du wirst ab heute auf der Corona-Station arbeiten“, lautet die Anweisung ihrer Vorgesetzten, die sich wie ein Urteil anfühlt. Ursula macht sich schweigend fertig für ihren Dienst. Mit Herzrasen und Handschweiß streift sie sich Handschuhe und Mundschutz über. Zittrig und mit Gedanken im Rennautomodus macht sich daran das Frühstück für die Patienten her zu richten. „Bloß nichts falsch machen“, befiehlt sie sich und „Wie mache ich das jetzt bloß?“ fragt sie sich. Sie will ihre Schützlinge so gut wie möglich versorgen, so wie sie das immer getan hat. Sie will wie immer ihr Bestes geben. An diesem Tag gibt es kein „wie immer“.

„Ich wollte am liebsten weglaufen!“, erzählt sie heute, auf ihrer Couch sitzend, in dem modern eingerichteten, fein säuberlich aufgeräumten Wohnzimmer. Ursula ist eine kleine, rundliche Frau. Sie wirkt stark aber sichtlich müde. Ihre Gedanken kreisen damals nur um einen. Ihren 12-jährigen Sohn Jakob, der wie immer zu Hause nach der Schule auf sie wartet. „Ich hatte solche Angst mich anzustecken. Ich dachte, ich bekomme auf jeden Fall das Virus, komme nach Hause und muss sterben.“ Sie fragt sich, wie sie ihn am besten schützen kann und fasst gemeinsam mit dem Vater von Jakob, von dem sie getrennt lebt, einen folgenschweren Entschluss. „Jakob du musst weg“, sagt sie, als sie von ihrem Dienst nach Hause kommt.

„Ich war schockiert“, erzählt Jakob. Er sitzt in grauer Jogginghose, grauem T-Shirt und mit gelben Pokemon-Socken neben Ursula auf dem großen Sofa. Er hat Kopfhörer auf und ist gerade dabei Tier-Sticker akribisch in ein Sammelalbum zu kleben. Den dicken Stapel Sticker hat er zuvor triumphierend und mit breitem Grinsen aus seiner Tasche gezogen. Jakob versteht bis heute nicht so recht, warum das alles notwendig war.

Ursula denkt an jenem Nachmittag nicht weiter nach und sagt nur, dass sie ihn nicht anstecken will. Sie packen schnell seine Tasche, der Vater steht schon vor der Tür. Bald darauf sind sie weg. In der Nacht bricht Ursula in Tränen aus. „Ich habe mich die ganze Nacht gefragt, was ich tun soll. Ich will mein Kind, ich will mein Kind, dachte ich nur. Schmeiß ich meinen Job hin und hol mein Kind zurück? Aber ich konnte es nicht über mich bringen, die Patienten einfach im Stich zu lassen“, erzählt sie traurig.

Sie liebt ihren Beruf. Sie kümmert sich um andere. Auch jetzt noch, obwohl sie ihren Beruf inzwischen nicht mehr ausüben kann. Mit Jakob macht sie aus, jeden Abend zu einer bestimmten Uhrzeit zu telefonieren. „Aber ich hatte das Gefühl ich erreiche ihn nicht mehr“, berichtet die 54-Jährige. Drei Monate bleibt Jakob bei seinem Vater. Der kümmert sich laut Ursula liebevoll um Jakob. „Zum Großteil war ich im selben Raum und habe da entweder gearbeitet oder war im online-Gespräch. Sonst hatte ich entweder gespielt oder bin runtergegangen zu den Kindern, die ich jetzt schon seit mehreren Jahren kenne“, berichtet Jakob in druckreifem Hochdeutsch von seinem Alltag in der Isolation. Durchgehend beim Vater zu sein, anstatt nur an den Wochenenden, dazu noch unabsehbar lange, das hat Jakob verstört. Er zeigt es nicht. Seit sechs Jahren singt er bei den Grazer Kapellknaben, einem Pendant zu den Wiener Sängerknaben. Mit Corona fällt diese zweite elementare Säule in Jakobs Leben auch weg.

Nach drei Monaten legt sich Ursulas Angst vor Corona. „Aufgrund der Situationen, denen ich in meiner Arbeit ausgesetzt war, also wenn sich Patienten plötzlich übergeben oder wenn ich gespürt habe, dass sie einfach Nähe brauchen, habe ich die Handschuhe ausgezogen und sie gestreichelt. Da hätte ich mich schon längst anstecken müssen. Es ist aber nichts passiert,“ sagt sie. Deswegen holt sie Jakob wieder zu sich nach Hause. Rund zwei Wochen später beginnt Jakobs psychischer Ausnahmezustand.

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Es bläst ein Eiswind über die Anhöhe mit den Schwarzföhren in Hinterbrühl in Niederösterreich, aber Celia Dürr zieht nichts über wenn sie hinausgeht. Dazu fehlt ihr die Zeit. Genauso für regelmäßiges Essen und Trinken während ihrer langen Tage. Sie trägt eine ausgewaschene Jeans im Karottenschnitt, einen schwarzen weichen Blouson und weiße Sportschuhe, die bis zu den Knöcheln reichen und über denen sich dicke Socken in Falten zusammenschieben. Die blonden Haare sind zu einem kleinen Dutt zusammengebunden und über der großen, runden, goldbraunen Brille hängen dichte, kurze Stirnfransen. Rein äußerlich könnte sie eine von ihren Patienten sein. Weiße Arztkittel trägt hier niemand, schon gar nicht Celia Dürr, die nicht als „Frau Doktor“ angesprochen werden möchte und schon gar nicht als „Frau Oberärztin“, die sie bald sein wird. Auf Augenhöhe mit den Patienten zu sein ist ihr ein großes Anliegen. Mit ihrem jugendlichen Outfit steht die Fachärztin für Kinder-und Jugendpsychiatrie, die selbst Mutter von drei Kindern ist, mitten im Auge des Orkans. Ein ganz normaler Tag in der Psychiatrie für Celia Dürr:

8:00 Uhr: Dienstübergabe und Ankündigung zur Akutbegutachtung eines selbstmordgefährdeten Jugendlichen

9:30: Teambesprechung danach Begutachtung eines 17-Jährigen mit Abklärung der akuten Fremd-oder Selbstgefährdung

„Es gibt deutlich mehr Suizdversuche. Die Abklärung zur Suizidalität ist mein tägliches Brot in der Ambulanz geworden“, erklärt Celia Dürr. „Es gibt die verschiedensten Ursachen dafür, manchmal steckt ein Hilferuf dahinter. “

10:00 Uhr: Entlassungsgespräch auf Akutstation, danach Ankündigung einer stationären Patientin mit krisenhafter Zuspitzung zu Hause

15:00 Uhr: Gespräch mit akut stationärer Patientin zur Abklärung akuter Suizidalität und Entlassbarkeit

19:00 Uhr: Begutachtung einer Patientin mit depressiv ängstlichen Zuständen und Kollapsneigung

Krise auf der Akutgruppe: Akute Verschlechterung mit Stimmungseinbruch und Anspannung mit Schneidedruck eines Patienten auf der Akutgruppe

In der Akutgruppe, also dort wo diejenigen untergebracht sind, die 24 Stunden überwacht werden müssen, weil sie sich oder andere gefährden könnten, sind regelmäßig die Betten zu knapp. Gerüchten zufolge stapeln sich dort die Feldbetten auf den Gängen. „Ja, das kommt immer wieder vor. Wir haben einen chronischen Bettenmangel, aber wir stellen die Betten nicht auf die Gänge bitte,“ betont Celia Dürr leicht gereizt. Sie will kein Katastrophenszenario malen, sonst kommen noch weniger Fachärzte nach. Stattdessen werden andere Zimmer, die auch möglichst wenig Verletzungsgefahr bergen, mit Akutpatienten belegt oder es muss umgeschichtet werden. „Die Patienten der Akutgruppe werden dann durchgegangen und geschaut, wer am ehesten auf eine Normalstation verlegt werden kann“, erklärt Dürr. In der dramatischen Pandemiesprache wird das gerne Triage genannt.

Die Selbstmordgefährdung unter Jugendlichen ist in der Pandemie explodiert. Laut dem Allgemeinen Krankenhaus in Wien haben sich die Suizidversuche im Vergleich zu 2020 verdoppelt. Seit Beginn der Corona-Pandemie gibt es keine Pause mehr für sie und die anderen Ärzte, Psychologen und Therapeuten, die auf der Kinder-und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (KJPP) in Hinterbrühl in Mödling täglich versuchen den durch die Corona-Pandemie verursachten psychischen Dammbruch der Kinder-und Jugendlichen mit Holzlatten zu kitten.

„Wir sind mit der doppelten Patientenzahl konfrontiert, Tendenz steigend. Akute Versorgung, Krisenintervention und Diagnostik sind unser Schwerpunkte im Moment. Das führt zu einer hohen Fluktuation, daher müssen wir mehr schaffen und können nicht mehr in die Tiefe gehen“, berichtet Celia Dürr nüchtern mit ihrer ruhigen, sonoren Stimme. Die Helfersysteme, Beratungsstellen, betreuten Wohneinrichtungen, speziellen Schulformen etc. und vor allem Psychotherapieplätze sowie die Kinder-und Jugendpsychiatrie selbst im ambulanten und tagesklinischen Bereich sind im ganzen Land ausgehungert bzw. nicht vorhanden. „Das erleben wir ja auch. Das ausgehungerte kinder-und jugendpsychiatrische Gesundheitswesen stürzt Corona-bedingt in eine noch tiefere Krise“, erklärt Dürr. Dadurch dass die wenigen vorhanden Stellen auch noch wegen Corona schließen müssen oder überfordert sind werden die Psychiatrien des Landes mit der Flut an Patienten konfrontiert. Das ganze System müsse ab sofort gestärkt werden, um auch auf die Nachfolgen der Corona-Pandemie adequat reagieren zu können meint Dürr.

Auf die Krise im System verweisen Experten seit Jahren. Es gebe in ganz Österreich zu wenig Fachärzte, bestätigt auch der Gesundheitsverbund der Stadt Wien anlässlich einer Selbstanzeige der Ärzte der Kinder-und Jugendpsychiatrie in Wien Hietzing. Man könne sich nicht mehr gut genug um die Patienten kümmern. Dadurch seien Gesundheit und Versorgung der Patienten gefährdet. Laut dem Gesundheitsministerium ist in den Jahren 2012 bis 2019 ein deutlicher Ausbau der Kapazitäten zur Akutversorgung in der Kinder-und Jugendpsychiatrie erfolgt:

Im selben Zeitraum sind die stationären Aufenthalte von Kindern und Jugendlichen mit Hauptdiagnose „Psychische und Verhaltensstörungen“ gesunken. Gleichzeitig haben die tagesambulanten Versorgungsleistungen hingegen kontinuierlich zugenommen. Dies bestätigt das Konzept einer vorrangig ambulanten Versorgung im Bereich der Kinder-und Jugendpsychiatrie.

Erklärt das Ministerium nach einer Anfrage per e-Mail. Das einmalige Maßnahmenpaket von 13 Millionen Euro, das jetzt von der Regierung geschnürt wurde, wird an der dramatischen Situation in der Kinder-und Jugendpsychiatrie nur wenig ändern, meint Dürr.

Auszeitraum und Gurtebett

Die Kinder-und Jugendpsychiatrie in Hinterbrühl ist im Vergleich zu anderen Psychiatrien sehr gut ausgestattet. Celia Dürr bewegt sich in ihren weißen Sportschuhen schnell und energisch über das weitläufige Gelände auf dem es neben der Ambulanz mehrere betreute Wohneinheiten, ein Schwimmbad, eine heilpädagogische Schule, Sportplätze und einen Reitstall gibt. Während Corona ist das alles halb so viel wert. Wegen der Personalausfälle müsse man täglich überlegen ob man mit Patienten überhaupt Spaziergänge auf dem Areal machen kann, berichtet Dürr.

Auf dem Weg zu dem Raum wo wir unser Interview führen werden begegnet uns Joni (Name von der Redaktion geändert). Ein groß gewachsener Teenager mit einem gelben Pokemon-Hut auf dem Kopf flankiert von rund sechs Polizisten und Polizistinnen. Celia Dürr grüßt den Jungen freundlich. Der grüßt schüchtern zurück. Auch er als langjähriger Bewohner hier gehört zu den psychischen Corona-Opfern. „Das ist ein Junge mit einer Bindungsstörung und jeder Wechsel seiner Betreuer führt zu einer akuten Verschlechterung seiner Symptome. Durch die Ausfälle wegen Corona und den dadurch notwendig gewordenen Dienstwechseln ist das aber leider unvermeidbar geworden“, erklärt Celia Dürr.

Die Ausfälle bei den Betreuern entstehen nicht nur wegen des Virus, sondern auch wegen der eigenen psychischen Überlastung. Joni bekommt dann Wutanfälle und die Polizei muss ihn während der Pandemie sehr oft zum Auszeitraum begleiten. Bei Wutanfällen und Aggressionsschüben können sich die Betroffenen in dem Raum mit den gepolsterten Wänden austoben und zur Ruhe kommen. „Das ist unbedingt notwendig. Ich habe auch Psychiatrien erlebt, wo es keinen Auszeitraum gegeben hat. Und das habe ich als sehr schwierig erlebt, weil in der akuten Krise das doch eine Möglichkeit ist, sanft zu deeskalieren. Da ist noch kein Festhalten, keine Fixierung notwendig, sondern da hilft der abgesonderte Raum. Da bietet der Raum den Schutz, den der Betroffene in dem Moment braucht beziehungsweise, die die beteiligt sind, sind geschützt vor einem Gewaltexzess. Wenn zum Beispiel keine Gesprächsbereitschaft und eine Fremdgefährdung besteht, können wir den Raum verlassen und die Türe zu machen. Man nähert sich dann immer wieder neu an, in mehreren Versuchen.“

Die allerletzte Maßnahme ist das Gurtebett, das Celia Dürr „in all seiner notwendigen Schrecklichkeit und Härte“ präsentiert. Es steht in einem Winkel hinter der Tür des Aufnahmezimmers, sehr gut nicht sichtbar. Mehrere weiße Gurte liegen über der einfachen Liegefläche und provozieren düstere Filmszenen beim Betrachter. Celia Dürr mag den Ausdruck „Gurtebett“ nicht. Bei späteren Gesprächen über die Häufigkeit des Einsatzes des Gurtebetts zieht sie es vor es als „deeskalierende Maßnahme über Fixierung“ zu bezeichnen. Auszeitraum und Gurtebett sind hoch frequentierte Orte während der Pandemie, bis jetzt.

„Hallo, bin ich richtig hier?“ fragt eine groß gewachsene Frau in ihren fünfzigern, mit silberner Brille und graubraunem Haar. Es ist Friederike Jekat, die Musiktherapeutin. „Ich habe euch drei Maronitaschen von der leckeren Konditorei mitgebracht“, sagt sie lächelnd in deutschem Akzent und streckt Celia Dürr ein kleines, weißes Papiersackerl entegegen. „Ah, wie immer bist du meine Rettung“, lächelt Celia Dürr zurück. Seit dreißig Jahren arbeitet Jekat in Hinterbrühl. Sie und Celia Dürr sind Teil eines Teams, das auch in der Corona-Krise eisern zusammenhält. Einmal allerdings wurde dieser Zusammenhalt auf eine sehr harte Probe gestellt. Der Tag an dem Leon (Name von der Redaktion geändert) in Hinterbrühl aufgenommen wurde, war der Beginn der größten Herausforderung für Celia Dürr in der gesamten Corona-Zeit.

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Jakob beginnt sich nach seinem Aufenthalt bei seinem Vater in seinem Zimmer zu verstecken. Er lässt die Rollos herunter und lässt Tag und Nacht das Licht an. „Es gab Tage, da wollte er überhaupt nicht mehr hinaus“, berichtet seine Mutter. Mit Decken auf einem Wäscheständer baut er sich einen zusätzlichen Schutzraum im Zimmer. „Weil ich nicht wusste, was alles um mich herum passiert“, erklärt Jakob sein Verhalten heute. Mit dem Essen geht es ebenfalls bergab. Er ist sehr heikel und der Speiseplan reduziert sich von fünf akzeptierten Gerichten auf drei und schlussendlich nur mehr auf zwei. Wurstsemmel und Kartoffeln mit Salz ist derzeit das einzige was er isst. Jakob hat eine milde Form von Autismus, die ihn bis Corona aber kaum beeinträchtigt hat. Er ist ein sehr guter Schüler, liest sehr viel, spielt Klavier und betreibt Bogen schießen. Er hat einen Schulassistenten, der ihm hilft seinen Schulalltag zu organisieren. Jede unerwartete Änderung in seinem gewohnten Lebensrhythmus bringt ihn aus der Fassung. „Bei autistischen Kindern ist es so, dass sie gerne eine genaue Erklärung für alles haben. Sie brauchen eine gewisse Sicherheit“, erklärt Ursula. Für Corona gibt es keine Erklärung. Das ist für ihn der Super-Gau. Gurgeltests, Abstriche, Masken tragen sind für Jakob unmöglich. Er lässt nichts an seine Haut oder in seinen Mund, das er nicht kennt.

„Setzt ihm doch die Maske auf, damit er es nicht so schwer hat“

Seine Mutter Ursula setzt eine Maskenbefreiung für Jakob durch. Im ersten Schuljahr in der Pandemie geht es halbwegs gut. Zu Beginn des aktuellen Schuljahres beginnt jedoch ein Martyrium für beide. Zwei Monate lang streitet Ursula mit der Bildungsdirektion Steiermark wegen Masken und Tests. Während dieser Zeit darf Jakob nicht in die Schule gehen. „Wir haben drei Ärzte und drei Rechtsanwälte gebraucht, damit er wieder in die Schule gehen darf. Und am Ende sagt man mir, ich solle mir überlegen, ob das die richtige Schule für ihn ist. Nachdem ich ihn schon aus seinem Alltag rausgerissen habe mit all diesen Folgen, kann ich ihn nicht schon wieder wo herausreißen, das geht nicht“, beklagt sich Ursula.

Ihre Familie macht ihr Vorwürfe, weil sie so widerspenstig ist. Wenn sie sich nicht gegen alles auflehnen würde, dann wäre es auch für Jakob einfacher, sagen sie. Ihr Verhalten würde ihn beeinflussen in seinem Denken und Handeln meint laut Ursula der Vater von Jakob. „Gott sei Dank“, schreibt Ursula ein paar Tage später auf Whatsapp. „Ich möchte ja, dass er Dinge hinterfragt und nicht einfach tut was andere sagen.“ Auch von der Schule wird Ursula unter Druck gesetzt. Wenn sie Jakob endlich impfen lassen würde, dann könne man den anderen Eltern endlich sagen, dass alles gut sei. Ursula gibt dem Druck nicht nach. Sie kämpft weiter für Jakob, aber es kommt noch schlimmer.

Nach Beilegung des Streits mit der Bildungsdirektion darf er kurz vor Weihnachten in die Schule gehen. Was dann passiert, kommt Jakob schwer über die Lippen. „Das was die Mama schon erzählt hat,“ sagt er nach längerem Schweigen. Sein bester Freund hat ihn mit ein paar anderen verprügelt und gestoßen, weil er keine Maske trägt. Seitdem ist er ständig krank, er kommt mit dem Lernen schwer nach. Die Lehrer erlassen ihm Hausaufgaben. Das bringt die anderen Schüler noch zusätzlich gegen ihn auf. Der Schulassistent ist jetzt zum Bodyguard geworden. Er muss immer bei Jakob sein, damit er nicht wieder geschlagen wird.

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Leon hat eine dramatische und komplexe Familiengeschichte, auf die hier wegen des Schutzes seiner Identität nicht näher eingegangen wird. Er ist ähnlich wie Jakob ein sehr sensibler Junge, fast im selben Alter. Genauso wie Jakob liebt er Musik und das Lesen, er ist sehr intelligent aber er hat laut seiner Mutter Schwierigkeiten mit anderen Kindern zurecht zu kommen. Er wird seit dem Kindergarten psychologisch therapiert. Nach den Schwierigkeiten in der Familie verweigert er die Schule. Seine Mutter ist derzeit in Quarantäne und erzählt am Telefon von dem Tag an dem er in die KJPP Hinterbrühl eingewiesen wird.

„Er wollte absolut nicht von zu Hause weg. Mit Corona war das alles doppelt schwierig. Ich konnte sein Zimmer nicht sehen. Noch bei uns zu Hause hat er den Kasten vor die Tür gerückt und ich konnte sein Sachen nicht packen. Ich habe dann das Jugendamt gerufen und fast wäre noch die Rettung notwendig gewesen. Mit Müh und Not konnte ich ihn dann doch noch dazu bewegen herunter zu kommen.“

Celia Dürr kann sich noch genau an den Tag erinnern, als Leon in Hinterbrühl ankam. „Sein Papa hat ihn gebracht, weil er die autoritärere Rolle in der Familie hat. Leon war an diesem Tag wie erstarrt und hat kaum ein Wort von sich gegeben“, berichtet Dürr. Auch Leon ernährt sich nur von wenigen Lebensmitteln, Masken und Tests sind genauso ein Horror für ihn. Für den Aufenthalt in Hinterbrühl ist das unerlässlich. Die Tests müssen zwei Tage vor der Aufnahme direkt in der KJPP Hinterbrühl gemacht werden, was ein zusätzlicher Kraftakt ist. „Die Nasenabstriche haben Krisen bei ihm ausgelöst. Eine musste auch im Auszeitraum ausgestanden werden,“ erinnert sich Celia Dürr. Er hat wunde Hände vom häufigen Desinfizieren bekommen.

Sieben Monate lang lebt Leon in der KJPP Hinterbrühl. In dieser Zeit muss er zwei Mal in Quarantäne, weil er K1-Person ist. Er fährt dafür jedes Mal nach Hause. „Psychisch war das sehr schwierig für ihn, dieses eingesperrt sein. Er dachte, er ist gefährlich für die Umwelt, er muss ausgegrenzt werden, wie ein Leprakranker. Er hat sich so klein angefühlt. Einmal hat er sich auf dem Weg zur Apotheke nur an der Wand entlang gedrückt. Das hat mir sehr weh getan“, berichtet seine Mutter traurig.

Die Therapie in Hinterbrühl wird durch die Quarantäne zur Sisyphus-Arbeit. Celia Dürr ist die Fallführung für Leon. Das heißt, sie koordiniert seine Therapien und bestimmt seine Medikation. „Durch jede Quarantäne fiel Leon auf kindlichere Entwicklungsstufen zurück. Jeder Therapieabbruch ist auch ein Beziehungsabbruch. Das heißt zwei Schritte vor und mindestens einen zurück. Das ist hoch anstrengend. Das Vertrauen muss (nach jeder Quarantäne, Anm. der Redaktion) teils von vorne aufgebaut werden. Das Personal musste auch immer wieder in Quarantäne und die Wohngruppen wurden durcheinander gewürfelt. Sowohl für Leon als auch die anderen Kinder ist das jedes Mal ein Kraftakt sich neu einstellen zu müssen,“ beschreibt Celia Dürr.

Durch Corona kann Celia Dürr Leon nicht mehr in der Außenwelt einbetten. Ein Problem, das sie auch bei anderen Patienten hat. Leon hat im Chor gesungen und Trompete gespielt. Aktivitäten, die wegen Corona alle beendet werden. Für die Jugendlichen ist das fatal. Es ist ein wesentlicher Grund, warum die psychische Situation der Kinder und Jugendlichen während Corona so dramatisch schlecht ist. „Es ist ein extrem frustrierendes Arbeiten“, erzählt eine Kollegin von Celia Dürr, die klinische Psychologin Michaela Haslinger. „Ein paar Monate sind die Jugendlichen hier zur Stabilisierung dann wird die Schule wieder geschlossen oder AMS-Kurse werden abgesagt. Die einfachsten Dinge, die unsere Werkzeuge sind, werden uns durch die jetzigen Umstände genommen.“

Leon ist ein sehr komplexer Fall. Für seine Behandlung braucht es ein Team aus Pädagogen, Pflegekräften, Physio-und Ergotherapeuten sowie Logopäden. Einige Therapeuten haben Schwierigkeiten mit ihm. Celia Dürr muss dafür kämpfen, dass Leon weiter betreut wird. Ihm ein stabiles Umfeld zu geben ist für Celia Dürr zu der Zeit das Wichtigste. Denn nur so gibt es eine Chance auf Heilung für ihn. Doch Corona lässt das nicht zu.

Nach seinem Aufenthalt in Hinterbrühl kommt er auf eine neue Schule. Unter normalen Umständen würde er für die Eingewöhnung noch einmal stationär in Hinterbrühl aufgenommen, würde die externe Schule besuchen und eine intensive Nachmittagsbetreuung bekommen, um die neue Schule verdauen zu können. Die knappe Personalsituation lässt das nicht zu und es kommt wie es kommen musste. Leon verweigert wieder die Schule und muss in ein Krisenzentrum. „Corona hat unser Arbeiten ordentlich erschwert, besonders in Bezug auf Leon. Ich denke ohne Corona hätte er sich deutlich schneller stabilisiert“, resümiert Celia Dürr.

Glück ist, wenn die Katastrophe eine Pause macht

Jakob und seine Mutter warten monatelang auf einen Therapieplatz. Im April wird er wahrscheinlich einen Platz bei einer Psychiaterin bekommen. Ursula Puffing ist im Moment zu Hause, weil sie aus gesundheitlichen Gründen nicht arbeiten kann. Sie ist froh darüber, weil sie sich voll auf Jakob konzentrieren kann. Die beiden erholen sich langsam von der Pandemie. Jakob zieht die Rollos jetzt nur noch manchmal hinunter.

Ursula Puffing stellt sich weiter auf die Hinterbeine. Sie hat eine politische Partei gegründet und kämpft für die Aufhebung der Corona-Maßnahmen an den Schulen und gegen die Impfpflicht für Pflegekräfte. In einem Video über eine von Ursula Puffing organisierte Demonstration der Pflegekräfte hält sie eine Rede. „Ich bin früher in den Dienst gekommen, ich bin später nach Hause gegangen“ ruft sie mit Tränen erstickter Stimme ins krachende Mikrofon während sie in dickem Mantel und mit Pudelmütze auf dem Deserteurs-Denkmal vor dem Bundeskanzleramt steht. „Wir haben dokumentiert, stundenlang, wir haben Tränen getrocknet während ihr in Büros gesessen seid und Entschlüsse gefasst habt, die uns jetzt das Leben schwer machen!“ Ihre Stimme überschlägt sich und wird vom Beifall verschluckt.

„Glück ist, wenn die Katastrophe eine Pause macht“ steht auf Jakobs Zimmertür. Er ist stolz auf seine Mama.

Anmerkung der Autorin: Dieser Text hätte in dem österreichischen Monatsmagazin „Datum“ erscheinen sollen. Der Teil mit Jakob und seiner Mutter sollte komplett gestrichen werden, weil Jakobs Mutter „so viele Fragen für den Leser aufwirft“. Nach vielen Diskussionen hat sich die Redaktionsleiterin am Ende dafür entschieden den Text auch nicht gekürzt zu veröffentlichen.

Über die Autorin: Liza Ulitzka, Jahrgang 1981, hat 13 Jahre lang als Reporterin und Chefin vom Dienst in der Nachrichtenredaktion des österreichischen privaten TV-Senders PULS4 (Pro7Sat1 Österreich) gearbeitet. Rund drei Jahre lang war sie als freie Journalistin in Ägypten/Kairo tätig, wo sie für deutsche und österreichische Medien von den Umbrüchen nach dem arabischen Frühling berichtet hat. Seit 2020 ist Liza Ulitzka freie Journalistin und lebt in Wien.

BERNHARD MÜNSTERMANN, 1. März 2022, 13:20 UHR

Hier muss ich doch einmal eine Lanze für Lektoren in Verlagen und die Redakteure brechen, die angebotene Artikel für Presseprodukte und Verlage traditionell redigieren. Das ist nicht a priori schlecht und kann am Ende die Lesbarkeit und Wirkung in Abstimmung mit dem Autor befördern. Natürlich setzt ein Verlag das auch ein, um möglichst erfolgreiche Produkte in profitabler Auflage zu veröffentlichen.

Es muss also nicht mit Unterdrückung von Meinung und Fakten in jedem Falle zusammenfallen. Allerdings kann auch vorauseilender Gehorsam, ein Wink aus Politik, Behörden oder ein Anruf von potenten Werbekunden Anlass sein, einen Beitrag gegen den Willen des Autors sinnentstellend zu kürzen, ihm einen anderen Spin zu geben oder den angebotenen Beitrag ganz abzulehnen.

Der Artikel von Frau Ulitzka ist recht lang und beschreibt wohl verständlicherweise anonymisierte Menschen in Details ihres Aussehens, die für die Missstände in der Jugendpsychatrie im Kontext der willkürlich uns aufoktroyierten Corona Maßnahmen zu kennen man für entbehrlich halten kann. Über eine engagierte Ärztin ohne Standesdünkel etwa: „Sie trägt eine ausgewaschene Jeans im Karottenschnitt, einen schwarzen weichen Blouson und weiße Sportschuhe, die bis zu den Knöcheln reichen und über denen sich dicke Socken in Falten zusammenschieben. Die blonden Haare sind zu einem kleinen Dutt zusammengebunden und über der großen, runden, goldbraunen Brille hängen dichte, kurze Stirnfransen.“
Das ist eine Frage des Stils, in dem man ein Thema anfasst. Das publizistische Profil des Magazins „Datum“ aus Österreich kenne ich allerdings nicht. Mein Kriterium wäre demnach bei Beurteilung der Ablehnung des Artikels, ob der Verlag sich für die Thematik generell interessierte und eine andere Fassung favorisiert hat, oder ob er generell über die Thematik aus der Perspektive einer Familie mit den geschilderten Problemen nicht veröffentlichen will, weil Behörden und Schulen, weil Pflegeeinrichtungen dabei, überlastet wegen der Folgen der Corona-Maßnahmen, exemplarisch dargestellt keinen ihrem Auftrag gemäß fürsorglichen Dienst für ein Kind mit speziellen Entwicklungsstörungen leisten können, die Probleme vielmehr noch massiv vergrößern.

HELENE BELLIS, 1. März 2022, 15:35 UHR

Sehr geehrter Herr Münstermann,

Ihr Zuspruch für Lektoren in allen Ehren, aber es steht doch ganz klar im Kastentext:

Der Teil mit Jakob und seiner Mutter sollte komplett gestrichen werden, weil Jakobs Mutter „so viele Fragen für den Leser aufwirft“.

Für mich hört sich das ganz eindeutig nach dem neuerdings so beliebten »betreuten Denken« an. Vielleicht hatte man auch Sorge, Ursula Puffing könne als »Corona-Leugnerin« identifiziert werden, und über sowas schreibt man heutzutage ja nicht. Schon gar nicht, wenn man für sie auch noch Sympathien entwickelt, das könnte die Leute ja glatt auf Ideen bringen.

Das einzige, was mir ein bisschen aufgestoßen ist, war die sehr häufige Verwendung des Begriffes »Corona« bzw. zeitweilig auch »Corona-Pandemie« als Grund für die dargelegten Konflikte. Mag ersteres noch als Überbegriff für die Gesamtsituation der letzten zwei Jahre gelten, so war doch eine wie auch immer geartete Pandemie definitiv nicht der Auslöser für all die im Artikel erwähnten Probleme. Selbst wenn es eine Pandemie tatsächlich gegeben haben sollte (was ich nicht erkennen kann), hat kein Virus die Schulen geschlossen und sind die erwähnten Kinder und Jugendlichen nicht aus Kummer um an Covid-19 gestorbene Verwandte, Lehrer oder Mitschüler seelisch verwundet worden. Grund für alles, was hier beschrieben wird, waren und sind weiterhin nur eins: die aus politischen Gründen ergriffenen Maßnahmen. Möglicherweise auch dies ein Grund für die letztendlich komplette Ablehnung des Artikels? Wer weiß.

Was mir sehr gut gefallen hat, und wovon mancher sich bei autistischen Personen anscheinend eine Scheibe abschneiden kann (obwohl ich Bill Gates auch zu den Autisten rechne), ist das hier:

Gurgeltests, Abstriche, Masken tragen sind für Jakob unmöglich. Er lässt nichts an seine Haut oder in seinen Mund, das er nicht kennt.

Eine solch klare Verweigerung unerträglicher Übergriffe hätte man sich in den letzten zwei Jahren von viel mehr Menschen gewünscht.

BERNHARD MÜNSTERMANN, 1. März 2022, 17:00 UHR

Frau Bellis, Sie haben die Begründung aus dem Kasten unter dem Artikel bei Multipolar übernommen und liegen richtig, wenn das der einzige Grund war, den Artikel abzulehnen. Ich habe mal auf die Internetseite des mir bis dato unbekannten Magazins DATUM aus Österreich geschaut. Man rechtfertigt die Impfpflicht da mit absurder Begründung. Ganz oben finde ich bereits die Sparte „Klimajournalismus“ als Thema des DATUM-Newsletters. Da läuten auch bei mir die Alarmglocken, weil es vermutlich um das Post-Corona-Narrativ gehen dürfte, mit dem der Great Reset massenwirksam propagiert wird.
Als älteres Semester erinnere ich noch die Zeit vor der Textverarbeitungssoftware mit integrierter Korrekturfunktion. Mancher inhaltlich wichtige Autor lieferte Manuskripte und getippte Texte, in denen es zuweilen bei den Kommata und in orthographischen Angelegenheiten Dinge zu bereinigen galt, bevor etwas in die Setzerei gegeben wurde. Aber auch sonst war das Lektorieren noch die Regel. Heute geben die Verlage den Autoren oft nur IT-Textformate und Seitenzahl/Zeilenzahl vor und sparen sich nicht selten weiteren Aufwand.

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