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Die Geopolitik der Energie (2)

Im ersten Teil wurden die weltweite Produktion und der Verbrauch von Energie sowie der Zusammenhang zwischen Ölpreis und Fracking näher erläutert. Im zweiten Teil wird dargestellt, wie der gesteigerte Bedarf in Asien und das Fracking in den USA den globalen Handel mit Erdöl und Erdgas verändert haben und wie der Stand der nachgewiesenen Reserven ist.

KARSTEN MONTAG, 24. Juni 2022, 0 Kommentare, PDF

Teil 1 des Beitrags: Die Geopolitik der Energie (1)

Aufgrund des steigenden weltweiten Energiebedarfs werden fossile Energieträger trotz politisch forciertem Ausbau der Erneuerbaren in den nächsten Jahren noch eine bedeutende Rolle spielen – so das Ergebnis der Analyse in Teil 1. Die hohen Öl- und Gaspreise in den letzten zwei Jahrzehnten haben dazu geführt, dass nunmehr unkonventionelle Vorkommen gewinnbringend ausgebeutet werden können. Davon haben insbesondere die US-amerikanischen Schieferöl- und Schiefergasproduzenten (Fracking) profitiert. Sie fördern seit Ende der 2010er Jahre mehr Öl und Gas, als auf dem heimischen Markt verbraucht wird.

Zugleich hat sich seit Anfang des 21. Jahrhunderts der Erdölverbrauch im asiatisch-pazifischen Raum annähernd verdoppelt. War diese Weltregion im Jahr 2000 noch für 28 Prozent des weltweiten Konsums von Erdöl verantwortlich, so waren es 2020 knapp 40 Prozent, Tendenz weiter steigend. Nach den USA sind China und Indien auf Platz zwei und drei der weltweit größten Erdölverbraucher aufgestiegen.

Abbildung 1: Anteil der 10 größten Ölverbraucher am globalen Verbrauch 2020 | Eigene Darstellung, Datenquelle: BP Statistical Review of World Energy July 2021

Da die Produktion von Erdöl in der Region Asien-Pazifik im gleichen Zeitraum um sieben Prozent zurückgegangen ist, hat der Import des Rohstoffes aus anderen Teilen der Erde deutlich zugenommen. Die Öllieferungen nach China haben sich zwischen 2001 und 2020 beispielsweise versiebenfacht. Größter Lieferant Asiens sind die Öl fördernden Länder des Nahen Ostens. Doch auch die Länder der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), insbesondere Russland, sowie afrikanische und zentral- wie südamerikanische Staaten und neuerdings auch die USA sind zu bedeutenden Lieferanten dieser Weltregion aufgerückt. Ähnlich haben auch die europäischen Staaten ihre Erdöleinfuhren diversifizieren können. Abbildung 2 zeigt in der Animation die Veränderungen der größten Exportbewegungen zwischen 2001 und 2020.

Abbildung 2: Überregionale Ölexporte ab 50 Mio. Tonnen jährlich | Eigene Darstellung, Datenquelle: BP Statistical Review of World Energy July 2021, Karte: Simplymaps freigegeben unter Creative Commons Public License

Das Ende Mai 2022 von der EU beschlossene Ölembargo gegen Russland wird große Veränderungen der internationalen Exportbewegungen hervorrufen. 2021 haben die EU-Staaten laut Eurostat etwas mehr als 170 Millionen Tonnen Erdöl und verwandte Produkte aus Russland importiert. Sollte tatsächlich in naher Zukunft auf einen Großteil dieser Lieferungen verzichtet werden, hat derzeit nur das außerordentliche Wachstum der US-amerikanischen Schieferölproduktion das Potenzial, die Ausfälle zu kompensieren.

Russland wird hingegen wegen der stetig steigenden Nachfrage in Asien keine allzu großen Schwierigkeiten haben, seine Überproduktion anderweitig zu verkaufen. Aufgrund der politischen Entscheidung des Verzichts auf Erdöl aus Russland ist davon auszugehen, dass Ölimporteure in Europa langfristige Lieferverträge mit den Ölproduzenten in den USA eingehen, die vom täglich gehandelten Ölpreis entkoppelt sind. Denn ein niedriger Ölpreis könnte die US-Schieferölproduktion unrentabel machen und zu Lieferausfällen führen.

Im Gegensatz dazu können Länder wie China und Indien, die bisher keinerlei Ambitionen gezeigt haben, sich an den Sanktionen zu beteiligen, davon profitieren, dass Russland sein Erdöl auch unterhalb des global gehandelten Ölpreises verkauft, um neue Abnehmer zu finden. Damit hätten die asiatischen Staaten im Verhältnis zur EU einen bedeutenden Wettbewerbsvorteil.

Veränderungen der überregionalen Lieferbeziehungen

Anders als beim Erdöl, das im globalen Handel schon immer größtenteils per Schiff transportiert wurde, erfolgte der überregionale Export von Erdgas zunächst hauptsächlich per Pipeline. Die Beförderung per Schiff ist aufwendig, da das Gas stark abgekühlt werden muss, um es zu LNG (Liquefied Natural Gas – Flp) zu verflüssigen und somit sein Volumen zu verringern. Die Energie, die für die Verflüssigung benötigt wird, entspricht 10 bis 25 Prozent des Energieinhaltes des zu transportierenden Gases. Damit ist der Export von Erdgas per Pipeline auf Dauer günstiger. Insbesondere zwischen Russland und Europa ist seit den 1960er Jahren ein dichtes Netz an überregionalen Erdgas-Pipelines entstanden, das hinsichtlich seines Volumens weltweit einzigartig ist.

Obwohl die LNG-Importe in Europa in 2020 im Vergleich zu 2000 um das 3,5-fache höher liegen, erfolgt die hauptsächliche Gasversorgung noch immer per Pipeline, davon knapp 80 Prozent allein aus Russland.

Abbildung 3: Gasimporte in Europa in Mrd. Kubikmetern | Eigene Darstellung, Datenquelle: BP Statistical Review of World Energy July 2021

Abbildung 4 zeigt die Veränderungen des Gasimports per Pipeline in Europa und Asien zwischen 2001 und 2020.

Abbildung 4: Überregionale Gasexporte per Pipeline | Eigene Darstellung, Datenquelle: BP Statistical Review of World Energy July 2021, Karte: Simplymaps freigegeben unter Creative Commons Public License

Im Gegensatz zu Europa erfolgten Gasimporte in Asien deutlich später. Erst Mitte der 2000er Jahre begann China Erdgas in flüssiger Form zu importieren. Die Einfuhrmengen stiegen rasant an. Erst später kamen Pipeline-Lieferungen, insbesondere aus den GUS-Ländern, hinzu, sodass 2020 das Volumen der LNG-Importe mehr als doppelt so groß ist, wie das per Pipeline importierte.

Abbildung 5: Gasimporte in China in Mrd. Kubikmetern | Eigene Darstellung, Datenquelle: BP Statistical Review of World Energy July 2021

Aufgrund des hohen Bedarfs in Asien wurde 2020 das erste Mal weltweit mehr Gas per LNG importiert als per Pipeline.

Abbildung 6: Gasimporte weltweit in Mrd. Kubikmetern | Eigene Darstellung, Datenquelle: BP Statistical Review of World Energy July 2021

Abbildung 7 zeigt, wie rapide die Flüssiggaslieferung nach Asien in den letzten 20 Jahren zugenommen haben und wie die USA seit Ende der 2010er Jahre per Flüssiggaslieferungen auf den internationalen Gasmarkt drängen.

Abbildung 7: Überregionale LNG-Exporte ab 5 Mrd. Kubikmetern jährlich | Eigene Darstellung, Datenquelle: BP Statistical Review of World Energy July 2021, Karte: Simplymaps freigegeben unter Creative Commons Public License

Nachgewiesene Erdöl- und Erdgasreserven

Anfang des 21. Jahrhunderts, als mittels Fracking noch keine nennenswerten Öl- und Gasmengen gefördert wurden, ging man noch davon aus, dass das Ölfördermaximum konventioneller Vorkommen erreicht sei und damit die Produktion von Erdöl deutlich zurückgehen werde. Doch durch den steigenden Ölpreis wurde die Förderung von bislang nichtkonventionellen Vorkommen wie Tiefseevorkommen, Ölsande und Schieferöl rentabel. Dies hatte zur Folge, dass die weltweit nachgewiesenen Ölreserven in den letzten 20 Jahren trotz zwischenzeitlich gestiegener Fördermengen um circa ein Drittel angewachsen sind – hauptsächlich wegen der höheren Bewertung der Reserven an schwerem Erdölsand in Venezuela und an Schieferöl in den USA.

Abbildung 8: Nachgewiesene Ölreserven | Eigene Darstellung, Datenquelle: BP Statistical Review of World Energy July 2021, Karte: Simplymaps freigegeben unter Creative Commons Public License

Ähnlich sieht es hinsichtlich der nachgewiesenen Erdgasreserven aus, deren Volumen in den letzten 20 Jahren ebenfalls um ein Drittel gewachsen ist. Gründe dafür sind die höhere Bewertung des US-amerikanischen Schiefergases und die Entdeckung großer konventioneller Vorkommen in der Region des Kaspischen Meers und im Persischen Golf. Letztere führte zu einer deutlich höheren Bewertung der Erdgasreserven im Iran und insbesondere in Katar. Die weltweit größten Erdgasreserven werden jedoch noch immer Russland zugeschrieben.

Abbildung 9: Nachgewiesene Gasreserven | Eigene Darstellung, Datenquelle: BP Statistical Review of World Energy July 2021, Karte: Simplymaps freigegeben unter Creative Commons Public License

Zu einer höheren Bewertung der Erdöl- beziehungsweise Erdgasreserven eines Landes kommt es nicht nur aufgrund der Entdeckung neuer Vorkommen. Bereits bekannte unkonventionelle Vorkommen, die sich in der Vergangenheit wegen eines hohen Aufwands nicht rentabel fördern ließen und daher als „Ressource“ eingeordnet wurden, können infolge neuer technischer Errungenschaften und/oder eines höheren Preises als Reserve gewertet werden.

Die Ölsandvorkommen im Orinoco-Gürtel in Venezuela wurden beispielsweise in den 2000er Jahren aufgrund eines steigenden Ölpreises immer höher bewertet, so dass das Land mittlerweile offiziell über die größten Erdölreserven der Welt verfügt. Die Förderung dieser Vorkommen bedarf jedoch eines Ölpreises über 80 Dollar pro Barrel. Neben US-Sanktionen aus politischen Gründen gegen das Land ist die kostenintensive Förderung eine der Ursachen, warum Venezuela trotz seiner Erdölreserven seit Jahrzehnten mit dem Staatsbankrott kämpft.

Fazit

Die enorme Steigerung der Schieferöl- und Schiefergasproduktion in den USA hat das Verhältnis von Angebot und Nachfrage sowie die weltweiten Lieferbeziehungen stark verändert. Wie bereits im ersten Teil gezeigt, ist trotz der steigenden Nachfrage nach Öl und Gas in Asien aufgrund der US-amerikanischen Produktion dieser fossilen Energieträger zumindest bis 2030 nicht mit einem Mangel zu rechnen. Auch die im zweiten Teil dargestellten wachsenden Reserven an Öl und Gas lassen vermuten, dass in nächster Zukunft kein Engpass bei der Versorgung mit fossilen Rohstoffen zu befürchten ist. Die eigentlich daraus resultierende Entspannung bei den Preisen bringt jedoch wiederum die US-amerikanische Produktion in Gefahr, da diese nur bei hohen Öl- und Gaspreisen profitabel fördern kann.

In den letzten zwei Jahrzehnten haben Konflikte in und um Öl- und Gas-fördernde Länder, an denen die Vereinigten Staaten maßgeblich beteiligt waren, zu hohen Preisen geführt, die sich günstig auf die Entwicklung der US-amerikanischen Schieferöl- und Schiefergasproduktion ausgewirkt haben. Die im Rahmen der Nato-Osterweiterung von der US-Außenpolitik provozierte militärische Auseinandersetzung zwischen Russland und der Ukraine ist nicht nur ein weiterer Konflikt, der die Öl- und Gaspreise in die Höhe treibt. Der politisch motivierte Verzicht der EU-Staaten auf den Import fossiler Energieträger aus Russland führt höchstwahrscheinlich dazu, dass die USA Russland als wichtigsten Energielieferanten Europas innerhalb weniger Jahre ablösen werden – und dass, obwohl die russischen Lieferungen aufgrund geringerer Förderkosten und einer bereits hervorragend ausgebauten Infrastruktur deutlich günstiger sind als diejenigen aus den USA.

Die größten Verlierer in der geopolitischen Auseinandersetzung zwischen den Vereinigten Staaten und der russischen Föderation, die mit wirtschaftlichen und neuerdings auch wieder mit militärischen Mitteln ausgetragen wird, sind die europäischen Staaten, die sich an den Sanktionen gegen Russland beteiligen. Ihr Verzicht auf günstigere Öl- und Gaslieferungen aus dem Osten dürfte zu dauerhaft hohen Energiepreisen für die Endverbraucher in Europa führen, was die heimische Wirtschaftsleistung und den Wohlstand nachhaltig schwächt.

Über den Autor: Karsten Montag, Jahrgang 1968, hat Maschinenbau an der RWTH Aachen, Philosophie, Geschichte und Physik an der Universität in Köln sowie Bildungswissenschaften in Hagen studiert. Er war viele Jahre Mitarbeiter einer gewerkschaftsnahen Unternehmensberatung, zuletzt Abteilungs- und Projektleiter in einer Softwarefirma, die ein Energiedatenmanagement- und Abrechnungssystem für den Energiehandel hergestellt und vertrieben hat. Er ist regelmäßiger Autor für Multipolar. Seine im Oktober 2021 bei Multipolar veröffentlichten Recherchen zu den Abrechnungsdaten der Krankenkassen mit Blick auf COVID-19 wurden von verschiedenen Medien aufgegriffen – und erschienen im März 2022 auch im International Journal of Epidemiology.

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