Der OPCW-Skandal und das Schweigekartell
ULRICH TEUSCH, 22. Januar 2020, 5 Kommentare, PDFAm 7. April 2018 wurden in Syrien angeblich (und zum wiederholten Mal) Chemiewaffen eingesetzt, und zwar in Duma, nahe der Hauptstadt Damaskus. Verantwortlich gemacht wurde (ebenfalls zum wiederholten Mal) „das Assad-Regime“. Schon eine Woche später, am 14. April, übten die USA, Großbritannien und Frankreich Vergeltung, erteilten dem syrischen „Machthaber“ eine Lektion und führten zahlreiche „Luftschläge“ gegen sein Land.
Das war zweifellos eine riskante und obendrein völkerrechtswidrige Kriegshandlung, die getreu dem Motto erst schießen – dann fragen ins Werk gesetzt wurde. Keines der an den Bombardements beteiligten Länder hatte zuvor die weithin kolportierte „Assad hat’s getan“-Behauptung einem auch nur rudimentären Faktencheck unterzogen, keines hatte der interessierten Öffentlichkeit irgendwelche hieb- und stichfesten Beweise geliefert.
Das gleiche Bild boten die westlichen Qualitätsmedien. Sie walteten zuverlässig ihres Amtes und betätigten sich ohne nennenswerte Zweifel oder Gewissensbisse als bellizistische Cheerleader. Wie ziemlich genau ein Jahr zuvor, beim angeblichen Chemiewaffeneinsatz im syrischen Chan Schaichun, dachten sie nicht im Traum daran, zunächst einmal eine Aufklärung des Geschehens abzuwarten oder gar anzumahnen. Auch kam es ihnen nicht in den Sinn, solcherlei Aufklärung durch eigenständige Recherche oder wie auch immer geartete sachdienliche Hinweise zu befördern.
Die wenigen Ausnahmen von dieser Regel lassen sich an einer Hand abzählen: Unmittelbar nach den Ereignissen in Duma machten sich der ZDF-Mann Uli Gack und der Independent-Korrespondent Robert Fisk mit dissidenten Einschätzungen unbeliebt. Anders als ihre zahlreichen Kritiker hatten sich beide, Gack wie Fisk, allerdings vor Ort umgesehen und –gehört. Und am 13. Februar 2019 berichtete der BBC-Reporter Riam Dalati, dass er nach fast sechsmonatigen Recherchen eindeutig beweisen könne, dass es sich bei der am 7. April in einem Krankenhaus von Duma gefilmten und weltweit verbreiteten Horrorszene um eine Inszenierung gehandelt habe.
Doch solche Erkenntnisse drangen nicht zur breiten Öffentlichkeit durch, das heißt: über sie wurde so gut wie nicht berichtet. Nicht die Rechercheure und Investigativ-Journalisten hatten in jenen Tagen das Sagen. Das große Wort führten vielmehr die Chefkommentatoren und Leitartikler. Sie verkündeten ihre Urteile mit solch aufreizender Selbstsicherheit, dass man hätte vermuten können, sie seien eben erst aus Duma zurückgekehrt und allesamt Augenzeugen der dortigen Geschehnisse gewesen – wovon natürlich keine Rede sein konnte. Vergeblich suchte man im medialen Kriegsgeschrei nach Spurenelementen jener Tugend, die man in früheren Zeiten als „journalistische Sorgfalt“ kannte und schätzte.
Unmöglicher Auftrag?
Erst als der Sturm vorüber war – wir also die medienwirksame Inszenierung, die Anklagen, die Vergeltung hinter uns gebracht hatten –, erst da durfte die „Organisation für das Verbot chemischer Waffen“ (OPCW) auf den Plan treten. Ihr war die Mission aufgegeben, mit wissenschaftlicher Akribie und unbestechlicher Objektivität herauszufinden, was in Duma tatsächlich geschehen war.
Doch war das nicht eine „mission impossible“? Zumindest ein ziemlich merkwürdiger Auftrag? Denn kam er nicht viel zu spät? Hätte die OPCW-Untersuchung nicht ganz am Anfang stehen, also der erste Schritt sein müssen? Wozu sollte ihre Arbeit jetzt noch gut sein, da doch das Urteil längst gesprochen war, das Strafmaß festgelegt, die Strafe exekutiert? War in diesem fortgeschrittenen Stadium eine unvoreingenommene, ergebnisoffene Untersuchung überhaupt noch vorstellbar? Überhaupt noch erwünscht? Oder auch nur erlaubt? Würden sich die USA, Frankreich, Großbritannien tatsächlich und ohne Not dem Risiko ausliefern, durch die OPCW eventuell widerlegt und nachträglich ins Unrecht gesetzt zu werden? Würden sie nicht vielmehr auf eine Bestätigung ihrer Duma-Deutung drängen und damit auch auf eine rückwirkende Legitimierung ihrer Kriegshandlungen? Anders gesagt: Würden sie nicht versuchen, die OPCW für ihre Zwecke zu instrumentalisieren?
Die Antwort lautet: Sie würden nicht nur – sie haben.
Zwei Berichte
Doch der Reihe nach. Zunächst muss man festhalten: Im Prinzip verhält es sich mit der OPCW wie mit den meisten anderen internationalen Organisationen auch. Einerseits verfügt sie über viele honorige und kompetente Mitarbeiter, die sich etwaigem politischem Druck keineswegs ohne Weiteres beugen und von denen man annehmen durfte, dass sie auch im Fall Duma die für eine seriöse Urteilsbildung relevanten Fakten ermitteln würden. Andererseits ist die OPCW immer auch ein Spiegel ihrer Mitgliedsstaaten; deren jeweilige Interessenlagen und die zwischen den Staaten bestehenden Kräfteverhältnisse können selbstverständlich auf die Arbeit der Organisation durchschlagen. Jedenfalls geriet die OPCW im Rahmen ihrer Duma-Mission in eine schwierige Lage. Man konnte auch von einem Dilemma sprechen. Wie würde sie damit umgehen? Wie ist sie damit umgegangen? Hat die „Fact Finding Mission“, die sie nach Syrien entsandte, frei arbeiten können?
Die OPCW legte zwei Duma-Berichte vor: am 6. Juli 2018 einen Zwischenbericht und am 1. März 2019 den Abschlussbericht. Die meisten Menschen werden diese Untersuchungen nicht im Original und in Gänze gelesen, sondern auf anderen Wegen von den Ergebnissen erfahren haben. Daher muss man streng unterscheiden zwischen den Aussagen der Berichte und den Berichten über die Aussagen. Für die Aussagen ist die OPCW zuständig, für die Berichte sind es die Medien.
Der OPCW-Zwischenbericht vom Juli 2018 ließ zunächst einmal aufhorchen: Er stellte fest, man habe in Duma „keine Rückstände von phosphororganischen Nervengiften oder deren Zerfallsprodukten“ gefunden. Ein Angriff mit Chemiewaffen (man hatte Sarin vermutet) wurde also definitiv ausgeschlossen. Wohl aber habe man „verschiedene chlorierte organische Chemikalien“ („various chlorinated organic chemicals“) nachweisen können. Diese eher vage und zurückhaltende Aussage wurde von einem großen Teil der westlichen Medien in einer Weise aufgeblasen, dass man ohne Weiteres von Irreführung oder auch Lüge sprechen konnte. Die OPCW, so wurde vielfach behauptet, sei zu dem Schluss gekommen, dass in Duma tatsächlich Chlor beziehungsweise Chlorgas verwendet wurde.
Doch zu diesem Schluss war die OPCW keineswegs gelangt. Sie fand lediglich einige chemische Verbindungen, die als Hauptelemente Chlor, Kohlenstoff und Wasserstoff in verschiedenen Konfigurationen enthielten. Es existieren aber, so das Portal Moon of Alabama, das die allgemeine Berichterstattung über diese Erkenntnis massiv kritisierte, Hunderte, wenn nicht Tausende von solch „chlorierten organischen Chemikalien“. Daher verbiete es sich, aus ihrer Existenz oder ihrem Auffinden umstandslos auf den Einsatz von Chlorgas zu schließen.
In Ihrem Abschlussbericht vom März 2019 wurde die OPCW ein wenig deutlicher, blieb aber insgesamt vorsichtig und hielt sich Rückzugsmöglichkeiten offen. Sie schrieb dort, es gebe „gute Gründe“ für die Annahme, „dass der Einsatz einer toxischen Chemikalie als Waffe am 7. April 2018 stattgefunden hat“, dass „diese toxische Chemikalie reaktives Chlor enthielt“ und dass „die toxische Chemikalie wahrscheinlich molekulares Chlor war“. (Man beachte die Formulierungen: „gute Gründe“…, „wahrscheinlich“…)
Die vielen Leichen, die man auf den von den Weißhelmen verbreiteten Bildern hatte sehen können, waren von der OPCW nicht untersucht worden. Auf die Frage, wann, wo und woran sie gestorben waren, konnte sie demzufolge keine Antwort geben. Auch die beiden vieldiskutierten Druckbehälter (auch als Zylinder oder Kanister bezeichnet), die man in zerstörten Gebäuden gefunden hatte, blieben partiell rätselhaft. Ob sie Chlorgas enthielten, ließ sich nicht zweifelsfrei ermitteln. Hatte sich die OPCW in ihrem Zwischenbericht noch eher bedeckt gehalten, traf sie im Abschlussbericht immerhin die Feststellung, dass die Behälter aus der Luft abgeworfen worden waren – was als Hinweis auf die Verantwortung des syrischen Militärs zu verstehen war. Trotz vieler Unklarheiten und vager Befunde deuteten die meisten westlichen Medien den Abschlussbericht so, als sei die „Assad-hat’s-getan“-These durch die OPCW nunmehr bestätigt worden.
Whistleblower und Leaks
Das war der Stand der Dinge im März 2019. Und zunächst schien es, als wäre der Fall damit abgeschlossen. Doch dem war nicht so. Im Gegenteil, nach der Publikation des Abschlussberichts ging es erst richtig los. Die Mitarbeiter der in Duma tätigen Fact Finding Mission hatten im Laufe ihrer knapp einjährigen Tätigkeit nämlich feststellen müssen, dass das OPCW-Management unliebsame Untersuchungsergebnisse entweder abbügelte oder in eine politisch genehme Form umbog. Selbstverständlich versuchten die Mitarbeiter zunächst, die daraus resultierenden Konflikte und Unstimmigkeiten intern zu regeln. Als sie damit gescheitert waren und der aus ihrer Sicht fragwürdige Abschlussbericht vorlag, suchten einige von ihnen die Öffentlichkeit.
Es kam zu zahlreichen Enthüllungen, die im Mai 2019 begannen und bis zum Jahresende andauerten. Brisante Schlüsseldokumente, die eigentlich unter Verschluss hätten bleiben sollen oder deren Vernichtung sogar angeordnet worden war, wurden in die Öffentlichkeit gespielt, OPCW-interne Kommunikationsvorgänge und wichtige Emails wurden geleakt. Beteiligt an den Enthüllungen waren mindestens zwei Whistleblower aus den Reihen der OPCW, sodann die Organisationen „Working Group on Syria, Propaganda and Media“ und die „Courage Foundation“, des weiteren Peter Hitchens und Jonathan Steele, zwei renommierte britische Journalisten. Im November und Dezember 2019 stieß schließlich noch WikiLeaks mit vier Publikationsschüben hinzu; es steuerte weitere Erkenntnisse bei und untermauerte bereits Bekanntes durch neue Belege. An der Authentizität all dieser von verschiedenen Seiten veröffentlichten Dokumente und Aussagen gab es keinen vernünftigen Zweifel. Zudem passten sie zueinander, bestätigten sich also wechselseitig, ergaben ein Gesamtbild.
Narrativ-Kollaps
Für jene, die das alles zur Kenntnis genommen hatten, war spätestens am Jahresende 2019 klar: Das Duma-Narrativ war kollabiert, die Glaubwürdigkeit der OPCW war dahin. Es hatten sich zu viele Manipulationen, Irreführungen, Lügen angehäuft, die sich nicht länger in Abrede stellen ließen. Daraus folgte: Die ohnehin schon recht vagen und zurückhaltenden Berichte der OPCW hätten noch viel zurückhaltender ausfallen und wohl auch einen ganz anderen Tenor aufweisen müssen, wenn sie nicht von den OPCW-Oberen aus politischen Gründen manipuliert, frisiert, zensiert worden wären.
Der erste Schlag gegen die Glaubwürdigkeit der OPCW wurde im Mai 2019 geführt. Damals brachte die „Working Group on Syria, Propaganda and Media“ eine technische Expertise zu den beiden in Duma aufgefundenen Behältern an die Öffentlichkeit. Ihr Autor, der langjährige OPCW-Mitarbeiter Ian Henderson, hatte zu seiner Verwunderung feststellen müssen, dass seine Ausarbeitung keinerlei Niederschlag im Anfang März veröffentlichten Abschlussbericht der OPCW gefunden hatte. Woran das lag, war allerdings nicht schwer zu erklären. Henderson hatte die Vermutung, die beiden Behälter seien von einem Flugzeug oder Hubschrauber abgeworfen worden, für wenig wahrscheinlich erklärt. Das Ergebnis seiner Untersuchungen lautete vielmehr, dass die Behälter mit größerer Wahrscheinlichkeit von jemandem manuell dort deponiert worden waren, wo sie später gefunden wurden. Ian Henderson hat übrigens seine kritischen Einlassungen erst jüngst, am 20. Januar, wiederholt, und zwar in einer Videobotschaft an den UN-Sicherheitsrat.
Mitte Oktober 2019 trat dann auf einer Fachtagung der Courage Foundation ein weiterer OPCW-Whistleblower auf, der sich – aus Gründen des Selbstschutzes – „Alex“ nannte. Er sagte unter anderem, die meisten Mitglieder des Duma-Teams hätten Probleme mit den OPCW-Berichten, hielten sie für wissenschaftlich schwach, vorschriftswidrig und möglicherweise betrügerisch. Beide Whistleblower sprachen davon, dass einzelne Aussagen der Berichte „höchst irreführend und nicht durch Fakten gestützt“ seien; oder sie zeigten sich „entsetzt, wie sehr die Fakten falsch dargestellt wurden“.
So hieß es zum Beispiel in dem von der Fact Finding Mission erarbeiteten Entwurf des Zwischenberichts zu den beiden Druckbehältern: „Obwohl die Zylinder die Quelle der vermuteten chemischen Freisetzung gewesen sein könnten, gibt es nicht genügend Beweise, um dies zu bestätigen.“ Daraus wurde im redigierten und dann veröffentlichten Bericht das glatte Gegenteil: „Das Team hat zu diesem Zeitpunkt genügend Beweise, um festzustellen, dass wahrscheinlich Chlor oder eine andere reaktive chlorhaltige Chemikalie aus den Flaschen freigesetzt wurde.“
Weitere Probleme: Die bei den angeblichen Opfern beobachteten Symptome (z.B. Schaumbildung am Mund) passten nicht zu einer Vergiftung mit Chlor. Zudem hatte die OPCW den Austritt von Chlorgas eher suggeriert als belegt und – vor allem – präzise und damit aussagekräftige Angaben über die Konzentration von Chlor oder Chloriden vermieden. Der Whistleblower „Alex“ machte dagegen geltend, dass die vor Ort gefundenen Gehalte an chlorierten organischen Chemikalien „nicht höher [gewesen seien], als man in jeder Haushaltsumgebung erwarten würde“, tatsächlich sogar „viel niedriger als das, was man in Umweltproben erwarten würde“, vergleichbar mit oder sogar niedriger als die von der Weltgesundheitsorganisation empfohlenen Chlorgehalte für Trinkwasser. Diese äußerst wichtige Tatsache habe die OPCW in ihren öffentlichen Verlautbarungen mit Absicht verschwiegen. Höchst irritierend empfand man zudem, dass viele Mitglieder der Fact Finding Mission in Duma an der Erstellung des Abschlussberichts nicht beteiligt wurden; dieser wurde vielmehr vom sogenannten „core team“ der OPCW abgefasst.
Bolton und Bustani
Man konnte also im Fall Duma eine politische Instrumentalisierung der OPCW durch westliche Kräfte beobachten. Dass es zu dieser Instrumentalisierung kommen würde, war nicht wirklich überraschend, wie ein Blick in die Geschichte der OPCW lehrt. Schon der erste Generaldirektor der Organisation, der brasilianische Diplomat José Bustani, hatte sich politischem Druck beugen müssen: Anfang 2002 forderte die US-Regierung George W. Bushs den Rücktritt Bustanis, weil dieser Sand ins Getriebe der auf Hochtouren laufenden Kriegsvorbereitungen gegen den Irak gestreut, die Arbeit der UN-Waffeninspektoren engagiert unterstützt und die Aufnahme des Irak in die OPCW betrieben hatte. Daran wiederum hatten die USA keinerlei Interesse, weil es die große Lüge von den irakischen Massenvernichtungswaffen – und damit den angeblichen Kriegsgrund – zu entlarven drohte.
Nachdem John Bolton, damals im US-Außenministerium für Rüstungskontrolle und internationale Sicherheitsfragen zuständig, bereits telefonisch Druck auf Bustani entfaltet hatte, tauchte er einige Wochen später persönlich im Hauptquartier der OPCW auf, um ihn einzuschüchtern. „Cheney [damals US-Vizepräsident, UT] will, dass Sie Ihren Hut nehmen“, sagte er, „wir können Ihre Art der Amtsführung nicht akzeptieren.“ Und dann: „Sie haben 24 Stunden Zeit, sich dieser Entscheidung Washingtons zu fügen. Falls nicht, finden wir Mittel und Wege, um zurückzuschlagen.“ Nach einer Pause fügte Bolton hinzu: „Wir wissen, wo Ihre Kinder leben. Sie haben zwei Söhne in New York.“
Zudem drohten die USA, ihre finanziellen Zuwendungen an die OPCW einzustellen (sie kamen für fast ein Viertel des Budgets auf). Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten: Am 21. April 2002 wurde Bustani aus seinem Amt entfernt. Seine Nachfolge übernahm der von Bolton favorisierte argentinische Diplomat Rogelio Pfirter. Unter seiner Leitung entwickelte sich die OPCW zu einem gefügigen Werkzeug der US-amerikanischen Außenpolitik. Und immer schwebte über ihr das Damoklesschwert, dass die USA der Organisation bei Widersetzlichkeit die Finanzierung streichen könnten. Im Jahr 2010 schließlich wurde der türkische Karrierediplomat Ahmet Üzümcü OPCW-Chef; zuvor hatte er unter anderem das Amt des türkischen NATO-Botschafters inne. Robert Fairweather, ein britischer Diplomat, fungierte als Üzümcüs Kabinettschef. Damit war Fairweather die zentrale Figur der OPCW; er verrichtete die eigentliche Arbeit, alles Wichtige lief über seinen Schreibtisch.
OPCW im Syrienkrieg
Die Amtszeit von Üzümcü und Fairweather war vor allem vom Syrienkrieg geprägt, der seit 2011 im Gange war. Als es 2013 zu einem Chemiewaffeneinsatz in Ghuta gekommen war, sah US-Präsident Obama eine von ihm gezeichnete „rote Linie“ überschritten und schickte sich an, massiv in den Krieg einzugreifen. Doch seine eigenen Geheimdienste hegten Zweifel an der Urheberschaft des syrischen Militärs. Obama ruderte zurück, und es war ausgerechnet die russische Diplomatie, die ihm eine Brücke baute. So konnte er ohne allzu großen Gesichtsverlust die Krise beilegen. Die Moskauer Intervention bewirkte, dass Syriens Arsenal an Chemiewaffen unter Aufsicht der OPCW vernichtet wurde. Im September 2014 war das geschafft, und schon im Oktober 2013 war der OPCW für ihre Abrüstungsarbeit der Friedensnobelpreis zuerkannt worden.
Doch auch nach dieser fundamentalen Zäsur blieb das Thema Chemiewaffen in Syrien akut und aktuell. Jetzt stand immer wieder der Einsatz von Chlor (eine Substanz, die nicht unter die syrische Verpflichtung zur Abschaffung chemischer Waffen fällt) zur Debatte. 2014 reagierte die OPCW durch die Entsendung einer Fact Finding Mission, die allerdings – so der frühere UN-Waffeninspekteur Scott Ritter – einen Hang zu Einseitigkeit und Voreingenommenheit erkennen ließ, zumal sie sich auf eine enge, wahrscheinlich allzu enge Arbeitsbeziehung zu fragwürdigen Organisationen wie den White Helmets oder der „Syrian American Medical Society“ (SAMS) einließ.
Was die Duma-Untersuchung seit April 2018 anging, so war Robert Fairweather in keiner beneidenswerten Lage. Er und seine Organisation sollten etwas beweisen, was sich offenkundig nicht beweisen ließ. Kurz vor Veröffentlichung des Zwischenberichts bekamen Fairweather und Mitglieder der Fact Finding Mission zudem Besuch aus den USA. Vertreter einer US-Regierungsbehörde (Genaueres ist nicht bekannt) entwickelten erheblichen Druck und verlangten nach einer „smoking gun“. Die Amerikaner erklärten mit Nachdruck, dass das syrische Regime einen Gasangriff durchgeführt habe und dass sich in den beiden Behältern 170 Kilogramm Chlor befunden hätten. (Man beachte in diesem Zusammenhang, dass der schon erwähnte John Bolton parallel zur Duma-Mission der OPCW, nämlich von April 2018 bis September 2019, in der US-Regierung als Nationaler Sicherheitsberater tätig war…).
Da Fairweather und sein Chef Üzümcü noch im selben Monat, also im Juli 2018, aus der OPCW ausschieden, vererbten sie das haarige Problem ihren Nachfolgern, dem neuen OPCW-Generaldirektor Fernando Arias und dessen Kabinettschef Sébastien Braha. Und Braha lieferte – nämlich einen Abschlussbericht, der seinen Einflüsterern wie auch den Medien genehm war und genügte. Er ging allerdings auf Kosten der Wahrheit und der Glaubwürdigkeit der OPCW.
Über die Folgen schreibt Scott Ritter, der frühere UNO-Waffeninspekteur:
„Die Auswirkungen dieser Wende gehen weit über die einfache Widerlegung der Vorwürfe bezüglich der Ereignisse vom April 2018 hinaus. Die Glaubwürdigkeit der OPCW selbst und jeder Bericht und jede Schlussfolgerung, die sie bezüglich der Behauptungen über den Einsatz chemischer Waffen durch die syrische Regierung veröffentlicht hat, sind nun suspekt.“
Und, so muss man hinzufügen: Auch andere Aktivitäten der OPCW, etwa im Fall Skripal, bleiben von diesem Glaubwürdigkeitsverlust nicht verschont.
Das Schweigekartell
Was sich im Zuge der Duma-Mission der OPCW abspielte und im Laufe des Jahres 2019 ruchbar wurde, ist ein handfester Skandal, dem ein zweiter, nicht weniger handfester Skandal auf dem Fuß folgte. Denn eigentlich hätte das OPCW-Desaster seit Wochen die Schlagzeilen der internationalen Presse beherrschen müssen. Das tat es aber nicht, und das tut es nach wie vor nicht – nicht einmal ansatzweise. Unabhängige Medien haben die Vorgänge natürlich immer wieder aufgegriffen, in Deutschland allen voran das Online-Magazin Telepolis und sein Chefredakteur Florian Rötzer. Doch kaum ein bekannter Mainstream-Journalist hat sich auf das Thema eingelassen. Und wenn es doch einer tat, wie der Guardian-Kolumnist George Monbiot, dann nur, um den Skandal nach Kräften herunterzuspielen oder gar zu leugnen. Nun hätten natürlich die Assad-Apologeten Oberwasser, höhnte Monbiot, doch das ändere an der Beurteilung des Syrienkriegs kein Jota. Die Schuld Assads sei so oft bewiesen worden, dass ein Fall mehr oder weniger (also Duma) in der Gesamtbilanz gar keine Rolle spiele.
Ist Monbiot schwer von Begriff – oder tut er nur so? Erkennt er nicht, dass er am Thema vorbei redet – oder lenkt er bewusst vom Thema ab? Es geht hier mitnichten um Assad oder seine Apologeten. Es geht um etwas ganz Anderes und viel Wichtigeres: um die Zerstörung der Glaubwürdigkeit einer bedeutenden internationalen Organisation, der OPCW. Und nicht Assad hat diese Glaubwürdigkeit ruiniert, sondern westliche Länder – die USA, Frankreich, Großbritannien. Und warum haben sie das eigentlich getan, wenn doch, wie Monbiot meint, ohnehin klar ist, wer in Syrien der Schuldige ist? Offenbar haben sie es getan, weil sie jegliches Risiko in Sachen Duma ausschließen wollten. Keinerlei Gefährdung des Narrativs! – so lautete die Parole.
Und nun, da den Manipulatoren die Narrativ-Kontrolle entglitten ist und sie vor einem Scherbenhaufen stehen – was tun sie? Monbiots Landsmann, der frühere britische Botschafter Craig Murray, beobachtet ein überaus dreistes Verfahren der Schadensbegrenzung, das, wie er meint, vor wenigen Jahren noch unvorstellbar gewesen wäre: Man breitet einfach den Mantel des Vergessens über dem Desaster aus. Man berichtet nicht. Man schweigt die Sache tot, unisono. Und wenn einer aus der Reihe tanzt und doch zu reden versucht, verhindert man es nach Kräften – wie im Fall jenes Newsweek-Redakteurs, der die Story in sein Magazin bringen wollte, von seinen Chefs aber zurückgepfiffen wurde und dann aus Protest die Brocken hingeschmissen hat.
Wir erleben das Schweigen der Wölfe. In ihrem verzweifelten Versuch der Narrativ-Kontrolle tun die Leit- und Qualitätsmedien der westlichen Welt einfach so, als wäre nichts gewesen. Etwas Besseres fällt ihnen nicht ein. Und, wie es scheint, kommen sie damit sogar durch, denn die unabhängigen Medien sind nach wie vor nicht stark genug, um das Schweigekartell zu durchbrechen. In der weitgehenden Nicht-Berichterstattung über einen so zentralen Themenkomplex wie Duma/OPCW fallen Lücken- und Lügenpresse in eins. Ein Satz des Schriftstellers Yevgeny Yevtushenko kommt in den Sinn: „Wenn die Wahrheit durch Schweigen ersetzt wird, dann ist das Schweigen eine Lüge.“
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