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Der Kampf um Eurasien

Als „Eurasien“ bezeichnet man in der Geostrategie die riesige zusammenhängende Landmasse der beiden Kontinente Europa und Asien mit mehr als vier Milliarden Einwohnern. Die USA mit ihren nur 330 Millionen Einwohnern sind durch Atlantik und Pazifik von Eurasien getrennt. Seit die ersten US-Soldaten während des Ersten Weltkriegs an den Küsten Eurasiens landeten, hat das US-Imperium wiederholt mit Kriegen in Eurasien interveniert. Aber die mächtigen eurasischen Staaten China und Russland widersetzen sich der US-Vorherrschaft.

DANIELE GANSER, 19. Juli 2020, 0 Kommentare

Vorbemerkung der Redaktion: Der folgende Text ist mit freundlicher Erlaubnis des Autors dem Schlusskapitel seines aktuellen Buches "Imperium USA" entnommen.

Die Demütigung von China im Opiumkrieg 1839

Nicht Russland, sondern China ist der größte Herausforderer des US-Imperiums im 21. Jahrhundert. Mit 1,4 Milliarden Menschen ist China das Land mit der weltweit größten Bevölkerung. In seiner mehr als 4.000 Jahre alten Geschichte war China stets eine Landmacht und keine Seefahrernation gewesen. Zwar waren im 15. Jahrhundert Chinesen unter Admiral Zheng He mit der sogenannten Schatzflotte nach Vietnam, Indien, Sri Lanka und entlang der Ostküste Afrikas bis nach Mosambik gefahren und hatten Giraffen nach China gebracht. Aber der chinesische Kaiser trachtete nicht wie die Europäer danach, mit Schiffen über die Weltmeere zu fahren, um fremde Länder zu erobern.

Denn die Chinesen glaubten, dass ihre Kultur und Wirtschaft allen anderen überlegen sei, was eine Zeitlang auch zutraf. „China war in der späten Kaiserzeit, das heißt etwa ab dem 11. bis 12. Jahrhundert, dem Rest der Welt weit überlegen“, so der Sinologe Kai Vogelsang von der Universität Hamburg. „China hatte Millionenstädte in einer Zeit, als in Europa die größten Städte 20.000 bis 30.000 Einwohner hatten. China kannte den Buchdruck Jahrhunderte vor Europa, hatte Papiergeld, als in Europa noch lange nicht davon die Rede war. China kannte den Kompass, hatte das Schießpulver.“ (1)

Überzeugt von der eigenen Überlegenheit schottete sich China gegen die „Barbaren“ ab und versank hinter der mehr als 7.000 Kilometer langen berühmten großen Mauer in selbstgewählter Isolation. Die Schatzflotte wurde zerstört, der chinesische Kaiser verbot jede weitere Expedition. „China war niemals besonders am Erobern, Besetzen und Kolonialisieren fremder Staaten interessiert“, erklärt der Sinologe Roderich Ptak von der Universität München. Es kam China nicht in den Sinn, Südamerika, Nordamerika oder Afrika zu erobern, weshalb die europäischen Kolonialmächte dort auf ihren Eroberungszügen auch nicht auf Chinesen trafen. (2)

Der Kaiser von China wollte auch keinen Handel mit dem Westen. Die „Barbaren“ und ihre „minderwertigen Produkte“ interessierten ihn nicht. Nur über den Hafen Kanton in der Nähe von Hongkong erlaubte China beschränkten Handel mit den Briten, die vor allem chinesischen Tee und chinesische Seide nach Großbritannien exportierten. Umgekehrt hatten die Briten aber wenig Ware, die sie in China absetzen konnten, außer Opium, das die Briten aus Indien nach China importierten.

Das Opium breitete sich rasch in der chinesischen Gesellschaft aus und schwächte das Land, was durchaus im Sinne der Briten war. „Das war ein ganz abgefeimtes Verbrechen“, sagt der Sinologe Kai Vogelsang. „Das war Drogenhandel.“ Hilflos versuchte der chinesische Kaiser den Opiumhandel einzudämmen, ließ Opium beschlagnahmen und öffentlich verbrennen. Daraufhin kritisierten die Briten die Zerstörung ihrer Handelsware und 1839 brach der von den Briten angezettelte Opiumkrieg aus. (3)

Nun wurde deutlich, dass im militärischen Bereich China keineswegs die führende Nation der Welt war. Im Opiumkrieg zerschlugen die Briten die schwache chinesische Marine und überschwemmten das Land mit noch mehr Opium. „Wo, bitte, ist Euer Gewissen?“, fragte Lin Zexu, der Sonderbeauftragte des Kaisers von China im Kampf gegen den Opiumschmuggel. „Angenommen, es kämen Ausländer nach England, um Opium zu verkaufen und die Menschen zum Konsum zu verführen: das würdet Ihr, ehrenhafte Königin, sicher tief verabscheuen“, so Lin Zexu in einem Brief an die britische Königin Victoria. Die Chinesen verlangten den sofortigen Stopp des Drogenimports. „Wenn Ihr solchen Schaden in Eurem Land nicht zulasst, solltet Ihr ihn doch wohl nicht auf andere Länder übertragen, schon gar nicht auf China!“ Aber es half nichts. Die Briten schickten noch mehr Opium nach China und zwangen die Chinesen, alle Häfen zu öffnen. Hongkong wurde von Großbritannien erobert, von China abgespalten und im Vertrag von Nanking 1842 als Kolonie an London abgetreten. (4)

Die Niederlage im Opiumkrieg und der Verlust von Hongkong waren für China ein Schock. China, das sich lange als fortschrittlichste Nation der Welt betrachtet hatte, war gedemütigt. Die Chinesen erkannten, dass ihr Militär mit den Briten nicht mithalten konnte. Die Kanonen der Briten hatten eine deutlich größere Reichweite. „Sie können uns treffen, wenn wir es nicht können“, räumte Lin Zexu ein, der im Auftrag des Kaisers erfolglos den Drogenhandel bekämpft hatte. Die Feuerkraft der Briten war der der Chinesen überlegen. Jeder britische Soldat schieße durchgehend. „Wenn wir einen Schuss abfeuern, brauchen unsere Soldaten viel Zeit zum Herumeilen, bevor sie erneut feuern. Dies ist das Ergebnis unserer mangelnden Vertrautheit mit diesen Künsten“, bedauerte Lin Zexu. Es gäbe zwar viele chinesische Offiziere und Soldaten mit militärischer Erfahrung, aber diese beschränke sich auf den Nahkampf. Die meisten hatten noch nie ein Gefecht erlebt, „bei dem man kämpfen muss, ohne das Gesicht des Feindes zu sehen“, kommentierte Lin Zexu verwundert. (5)

China hat die größte Armee der Welt

Seit dem Opiumkrieg sind mehr als 180 Jahre vergangen. In Europa und den USA ist dieser Krieg kein Thema mehr. Aber in China wurde diese Demütigung nie vergessen. Peking rüstet auf und ist dabei, eine eigene Hochseemarine aufzubauen. China verfügt aber erst über zwei Flugzeugträger, während die USA mit elf Flugzeugträgern weiterhin die führende Macht auf den Weltmeeren sind. Der chinesische Flugzeugträger Liaoning mit einer Sprungschanze am Bug nahm 2012 den Betrieb auf. Im Jahre 2018 folgte der zweite chinesische Flugzeugträger Shandong, der Kampfflugzeuge und Hubschrauber tragen kann. Nie wieder will China sich den USA, den Briten oder anderen Kolonialmächten beugen. Mit zwei Millionen Soldaten verfügt China über die größte Armee der Welt. „Wir nähern uns mit immer mehr Selbstbewusstsein und Kraft dem Ziel des großen Wiederaufstiegs der chinesischen Nation“, erklärte zuversichtlich der chinesische Präsident Xi Jinping, der das Land seit 2013 anführt. (6)

Während das US-Imperium fast die ganze Welt mit Militärstützpunkten überzogen hat, verfügt China bisher nur über einen einzigen Militärstützpunkt in einem fremden Land, im afrikanischen Dschibuti. Aber China ist hinter den USA das Land mit den höchsten Rüstungsausgaben. Im Jahr 2018 waren es 250 Milliarden Dollar, verglichen mit knapp 650 Milliarden im selben Jahr in den USA. Die hohen Rüstungsausgaben von China werden in den USA sehr kritisch beobachtet. „China baut eine robuste und tödliche Armee auf“, warnte US-General Robert Ashley, der Direktor der US Defense Intelligence Agency (DIA) 2019 in einem Bericht. US-Präsidenten werden sich in Zukunft „einem China gegenübersehen, das darauf besteht, bei globalen Interaktionen eine stärkere Stimme zu haben, was zuweilen im Gegensatz zu den Interessen der USA stehen kann.“ (7)

Nach der Gründung der kommunistischen Volksrepublik China 1949 durch Mao Zedong ist China am 7. Oktober 1950 in Tibet einmarschiert. „Zum Zeitpunkt der gewaltsamen Einverleibung in den chinesischen Staatsverband war Tibet ein eigenständiger Staat“, erklärt der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages. Daher war die Invasion von Tibet illegal und ein Verstoß gegen das UNO-Gewaltverbot. Ein Volksaufstand der Tibeter wurde am 21. März 1959 durch China brutal niedergeschlagen. Der Dalai Lama, das Oberhaupt der tibetischen Regierung, floh im selben Jahr ins Exil nach Indien. Der Dalai Lama ist zusammen mit Mahatma Gandhi für mich ein Vorbild und eine große Inspiration für die Friedensbewegung. „Was mich angeht, so betone ich stets den Wert dessen, was ich innere Abrüstung nenne“, erklärte der buddhistische Mönch weise. „Sie geschieht durch den Abbau von Hass und die Förderung des Mitgefühls.“ (8)

China erhebt auch Anspruch auf Taiwan. Im Chinesischen Bürgerkrieg hatten die USA verdeckt in China interveniert und Chiang Kai-shek unterstützt, der dann aber gegen Mao verlor und sich mit seinen Anhängern auf die Insel Taiwan vor der Küste Chinas zurückziehen musste und dort die „Republik China“ ausrief. Bis heute unterstützen die USA die nur 225 Kilometer vor der Küste Chinas liegende Insel Taiwan diplomatisch und militärisch und treiben dadurch gemäß dem Prinzip „Teile und herrsche“ einen Keil in die chinesische Gesellschaft.

Mit Hilfe der USA erhielt Taiwan den ständigen Sitz im UNO-Sicherheitsrat in New York und musste diesen erst 1971 an die Volksrepublik China abgeben. Die Chinesen betrachten Taiwan als abtrünnige Provinz und möchten die Insel unbedingt wieder mit dem Festland vereinen, notfalls mit militärischer Gewalt. Die USA, mehr als 10.000 Kilometer von der Insel entfernt, haben die taiwanesische Luftwaffe und Marine mit den neusten Militärprodukten aus den USA aufgerüstet. Ob China Taiwan militärisch angreifen wird, ist unklar. Gemäß Alex Neill, China-Experte beim Londoner Strategieinstitut IISS, ist es unwahrscheinlich, dass die USA eine chinesische Invasion in Taiwan erfolgreich verhindern könnten. (9)

China beansprucht auch nahezu das gesamte Südchinesische Meer und die dort vorhandenen Rohstoffe. Um diesen Anspruch zu unterstreichen, hat China auf Riffen und Atollen Inseln aufgeschüttet. Doch auch Malaysia, Taiwan, Vietnam und die Philippinen machen im Südchinesischen Meer ihre Gebietsansprüche geltend, unterstützt durch die US-Marine. Peking bezeichnet die Inseln im Südchinesischen Meer als einen „unveräußerlichen Teil“ des chinesischen Territoriums. „Die chinesische Nation hat immer den Frieden geliebt“, heißt es in offiziellen Studien des chinesischen Militärs. China werde „nicht angreifen, außer wenn wir angegriffen werden. Aber wir werden sicher zurückschlagen, wenn wir angegriffen werden“, so die chinesische Verteidigungsdoktrin. (10)

China hat längst erkannt, dass in Hollywoodfilmen das US-Militär stets die Rolle der Guten einnimmt. Daher produzieren die Chinesen nun ihre eigenen Actionfilme und geben darin den Chinesen die Rolle der Guten. Weil Millionen von Chinesen sich diese Filme anschauen, hat dies einen großen Einfluss auf ihre Psyche. Im Actionfilm „Wolf Warrior 2“ erleben chinesische Helden Kampfszenen, Explosionen und Verfolgungsjagden durch exotische Landschaften und verhelfen der Gerechtigkeit zum Sieg.

Der Film schaffte es 2017 sogar zum erfolgreichsten chinesischen Film aller Zeiten. Die Handlung ist wie bei Hollywoodfilmen einfach und im Kern identisch mit Actionfilmen aus den USA, mit dem einzigen, aber entscheidenden Unterschied, dass nun Chinesen und nicht US-Amerikaner die Guten sind: Der chinesische Held landet in Afrika, um den Mord an seiner geliebten Frau zu rächen, sieht sich dann aber schnell in der Pflicht, eine Gruppe chinesischer Landsleute vor einem mörderischen Trupp weißer Söldner zu retten. Die letzte Szene des Films zeigt das Bild eines chinesischen Reisepasses, auf den die Worte projiziert werden: „Bürger der Volksrepublik China! Wenn Ihr im Ausland in Gefahr geratet, verzagt nicht! Hinter Euch steht ein starkes Vaterland.“ (11)

China hat die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt

Die Chinesen sind stolz auf ihr Land, weil es eine bedeutende globale Wirtschaftsmacht ist und viele Chinesen aus der Armut befreit hat. Die USA und Europa sind es nicht gewohnt, dass mit China erstmals seit 500 Jahren eine Macht globalen Anspruch erhebt, die nicht aus dem Westen kommt. Noch vor hundert Jahren war China ein armes Land, in dem einfache Bauern die Wirtschaft prägten. Nach der Gründung der kommunistischen Volksrepublik China 1949 durch Mao Zedong herrschte überall materieller Mangel. „Auf den Straßen waren kaum Fahrräder zu sehen, geschweige denn Autos“, erinnert sich der Chinese Geng Wenbing, der später China als Botschafter in der Schweiz vertrat. Es mangelte an allem. Getreide, Stoff, Speiseöl und Fleisch waren rationiert und nur gegen Marken zu bekommen, die von der kommunistischen Regierung zugeteilt wurden. „Zu jener Zeit gab es nur geringfügige Unterschiede zwischen Arm und Reich, denn alle waren gleich arm“, so Wenbing. (12)

Erst nach dem Tod von Mao Zedong 1976 führte Deng Xiaoping tiefgreifende Reformen durch und öffnete die chinesische Wirtschaft für Investoren aus dem Westen. Das Einkommen der Chinesen erhöhte sich danach ständig, das Lebensmittelangebot wurde vielfältiger. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) wuchs Jahr für Jahr um zehn Prozent, wodurch China gemessen am BIP von der sechstgrößten zur heute zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt aufstieg, hinter den USA, aber vor Japan und Deutschland. China ist Mitglied der Welthandelsorganisation WTO und die chinesische Währung Yuan, auch als Renminbi bekannt, zählt neben dem US-Dollar, dem Euro, dem japanischen Yen und dem britischen Pfund offiziell als fünfte Weltwährung.

Gemäß dem deutschen Fondsmanager Dirk Müller sind die offiziellen Wirtschaftsdaten aus China und auch die Bilanzdaten chinesischer Unternehmen manipuliert und „oft völlig überzogen“. Der Aufstieg Chinas in den letzten 25 Jahren sei zwar ohne Zweifel „das größte Wirtschaftswunder, das je stattgefunden hat“, so Müller. Aber wenn die US-Notenbank FED die Zinsen anhebe, werde Chinas Wirtschaft einbrechen, weil dann die Investoren ihr Geld abziehen werden. Die USA haben „den Finger am Abzug und entscheiden ganz alleine, zu welchem Zeitpunkt sie abdrücken“, glaubt Müller. (13)

Nach den USA zählt das kommunistische China zu den Ländern mit den meisten Milliardären der Welt. Im Jahr 2017 gab es 250 Milliardäre in China, unter ihnen Jack Ma, der Gründer des Onlinehändlers Alibaba, der mehr Umsatz und Gewinn macht als Amazon und eBay zusammen. Einige Milliardäre liegen mit der Regierung von China im Streit.

In New York lebt der chinesische Milliardär Guo Wengui in seinem 70 Millionen-Dollar-Appartement mit Blick über den Central Park. Der Immobilienhändler hatte in Peking 1999 für 15 Dollar pro Quadratmeter Land gekauft. Als China 2001 den Zuschlag für die Olympischen Spiele bekam, habe sich der Landpreis vertausendfacht. So wurde er reich. Die chinesischen Politiker wurden neidisch und der Vizebürgermeister verlangte einen Teil des Geldes. Als Wengui sich weigerte, kam er ins Gefängnis. „Jeden Tag haben die mich gefoltert“, berichtet der Milliardär auf Arte. „Sie wollten mich umbringen.“ Daher sei er über Hongkong und London nach New York geflohen und verlangt über die sozialen Medien den Sturz der chinesischen Regierung. „Die bringen die Leute ohne weiteres um und lassen sie verschwinden“, kritisiert Wengui. China verlangt seine Auslieferung, aber die USA lehnen ab. Washington mag es, wenn die Verbrechen Chinas an die Öffentlichkeit kommen. Umgekehrt schätzen es die USA aber nicht, wenn Journalisten wie Julian Assange die Verbrechen der USA öffentlich dokumentieren. (14)

In China regiert die Kommunistische Partei mit eiserner Hand. Der Nationale Volkskongress, mit rund 3.000 Mitgliedern das größte Parlament der Welt, tagt jedes Jahr für zehn Tage im März. Der amtierende Präsident Xi Jinping hat vom Parlament umfassende Vollmachten erhalten. Im März 2018 entschied der Volkskongress die in der chinesischen Verfassung festgeschriebene Amtszeitbeschränkung für den Präsidenten aufzuheben. Zuvor durfte ein Präsident maximal zwei Mal fünf Jahre sein Amt ausüben. Die Entscheidung fiel mit 2.958 gegen nur zwei Gegenstimmen und drei Enthaltungen sehr deutlich aus. „Xi Jinping kann damit bis an sein Lebensende Präsident bleiben“, erklärte die Süddeutsche Zeitung. (15)

Als Parteichef und Oberbefehlshaber der Volksbefreiungsarmee ist Präsident Xi der mächtigste Mann in China. Aber die Vorstellung, dass wirtschaftliche Öffnung und wachsender Wohlstand automatisch eine politische Liberalisierung Chinas und ein System mit mehreren Parteien mit sich bringen würden, hat sich bisher nicht bewahrheitet. Die Pressefreiheit in China ist stark eingeschränkt, Kritik an Präsident Xi oder der Kommunistischen Partei sind nicht erwünscht. China hat sich dem Kapitalismus geöffnet, ohne aber das Land ausländischen Firmen zu unterwerfen. Die Kommunistische Partei Chinas hat den Zusammenbruch der Sowjetunion genau studiert und tut alles, um ein ähnliches Schicksal zu vermeiden.

Der wirtschaftliche Aufstieg von China verlief rasant. Noch unter der Herrschaft Mao Zedongs mussten die Chinesen „eine Existenz im Steinzeitalter fristen“, erklärt der Schweizer China-Kenner Urs Schoettli. Doch dann folgte ein Wirtschaftswachstum, das auch durch US-Investitionen angetrieben wurde. „Heute beeindruckt das Reich der Mitte nicht nur mit glitzernden Skylines, riesigen Shopping-Malls und gigantischen Industrieparks, sondern auch mit einer Infrastruktur von Weltniveau“, so Schoettli. China ist auf Exportmärkte angewiesen, da die chinesische Binnennachfrage noch zu schwach ist, um alle in China produzierten Güter und Dienstleistungen aufzunehmen.

Die USA wissen das und haben unter US-Präsident Donald Trump einen Handelskrieg gegen China vom Zaun gebrochen. Trump stört sich daran, dass die USA weit mehr aus China importieren als dorthin verkaufen, und versucht China durch Strafzölle zu schwächen. Die Rivalität zwischen den USA und China gehört zu den großen Geschichten des 21. Jahrunderts. Niemand weiß heute, wie sich diese Rivalität bis ins Jahr 2050 entwickeln wird. Sicher ist nur, dass China derzeit der größte Herausforderer für das US-Imperium ist. (16)

Die neue Seidenstraße 2013

Die chinesischen Geostrategen wissen, dass das US-Imperium die Weltmeere beherrscht. Daher verstärken sie die chinesische Flotte und investieren massiv in die Infrastruktur auf der Landmasse von Eurasien.

Chinas Präsident Xi Jinping verkündete 2013 das Megaprojekt „Neue Seidenstraße“, auch als Belt and Road Initiative (BRI) bekannt. Damit hat China endgültig die lange Zeit der selbstgewählten Isolation hinter sich gelassen. Im Rahmen der neuen Seidenstraße entsteht derzeit in Eurasien ein Netzwerk aus Eisenbahnstrecken, Autobahnen, Tiefseehäfen und Flughäfen, das immer stabilere und schnellere Handelsverbindungen ermöglicht. China versucht damit die internationale Ordnung in Eurasien nach den Vorgaben von Peking zu gestalten und den Einfluss der USA zurückzudrängen. Auch für Europa können daraus viele Vorteile entstehen. Aber das Misstrauen ist groß. Die neue Seidenstraße stehe „für den Versuch, ein umfassendes System zur Prägung der Welt im chinesischen Interesse zu etablieren“, kritisierte der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel 2018 auf der Münchner Sicherheitskonferenz. (17)

Um Zugang zum Indischen Ozean zu erhalten und die von der US-Marine kontrollierte Seestraße von Malakka zu umgehen, baut China im Rahmen der neuen Seidenstraße in Myanmar in der Stadt Kyaukpyu einen Tiefseehafen, der über Erdöl- und Erdgaspipelines und Eisenbahnlinien mit China verbunden wird. Die USA haben daran wenig Freude. Im Jahr 2017 brachen in Myanmar zwischen der muslimischen Rohingya-Minderheit, darunter viele Einwanderer aus Bangladesch, und der buddhistischen Bevölkerungsmehrheit von Myanmar Unruhen aus. Die USA protestierten sofort gegen die Unterdrückung der Rohingya und Myanmar wurde auch in den europäischen Medien kritisiert. „Es war kaum irgendwo zu lesen, dass es bestialische Morde an buddhistischen Mönchen durch Rohingya-Terroristen gab oder dass diese muslimische Minderheit mit Gewalt eine Abspaltung des von ihnen bewohnten Territoriums von Myanmar und somit einen eigenen islamischen Staat zu erzwingen versuchte“, berichtet der Fondsmanager Dirk Müller. Das eng mit den USA verbündete Saudi-Arabien habe den Terrorarm der Rohingya ausgebildet und finanziert, um den Bau der Seidenstraße zu behindern. Die USA wissen, dass sie mit Unruhen oder sogar Krieg den Bau der Seidenstrasse empfindlich stören können. (18)

Die neue Seidenstraße erinnert an die Bagdadbahn, die Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg bauen wollte. Deutschland wusste damals, dass es als Kontinentalmacht das britische Imperium zur See nicht herausfordern konnte. Daher suchten die Deutschen den Landweg zu den Erdölquellen und planten den Bau einer Eisenbahn von Berlin bis nach Bagdad im Irak. Die Deutschen sprengten Tunnels in den Fels, errichteten Brücken und bauten Ende des 19. Jahrhunderts erfolgreich eine Eisenbahnstrecke von Berlin bis Istanbul und von dort weiter bis nach Konya im Zentrum der Türkei. Die Briten beobachteten diese Entwicklung mit großer Sorge. Robert Laffan, der damalige britische Militärberater in Serbien, glaubte, die Bagdadbahn gefährde das britische Imperium. „Würde Berlin-Bagdad fertiggestellt“, so Laffan, „wäre ein riesiges Gebiet, in dem jeder erdenkliche wirtschaftliche Reichtum hergestellt werden könnte, das aber für eine Seemacht unangreifbar wäre, unter deutscher Kontrolle.“ Das Projekt müsse daher unbedingt verhindert werden. Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, bedeutete dies das Ende für die Bagdadbahn. (19)

Die Chinesen möchten nicht ein ähnliches Schicksal wie Deutschland erleiden und planen daher sehr sorgfältig. Die neue Seidenstraße ist ein gigantisches internationales Infrastrukturprojekt, an dem sich auch viele Länder Europas beteiligen, darunter Griechenland, Polen, Ungarn und Italien. „Asien und die Seidenstraßen sind im Aufstieg begriffen, und dieser Aufstieg geschieht schnell – nicht isoliert vom Westen, nicht einmal im Wettbewerb mit ihm“, glaubt der britische Historiker Peter Frankopan, der an der Universität Oxford lehrt. Der Westen müsse erkennen, dass der Erfolg von Asien nicht auf Kosten von Europa gehe, sondern dass ganz Eurasien davon profitieren könne. Entlang der Seidenstraße gehe der Trend „in Richtung Abbau von Spannungen und Aufbau von Allianzen“, und man diskutiere über Lösungen zum wechselseitigen Vorteil. „Die Zeiten, da der Westen die Welt noch nach seinem eigenen Bild formen konnte, sind lange vorbei“, glaubt Frankopan. (20)

Über den Autor: Dr. Daniele Ganser, Jahrgang 1972, ist Historiker und Buchautor. Seine Dissertation erschien unter dem Titel "NATO's Secret Armies: Operation GLADIO and Terrorism in Western Europe" 2005 als Buch und wurde in zehn Sprachen übersetzt. Der SPIEGEL lobte es seinerzeit als "erste umfassende Studie über die sogenannte Operation Gladio" und schrieb: "Was der Historiker in vierjähriger Forschungsarbeit herausgefunden hat, offenbart die dunkle Seite des Westens: eine klandestine Parallelwelt, deren Bewohner überall kommunistische Umtriebe witterten, zu deren Abwehr ihnen nahezu jedes Mittel recht schien." Sein aktuelles Buch "Imperium USA", dem der vorliegende Text entnommen ist, steht seit Erscheinen auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Weitere Informationen zum Autor finden sich auf seiner Webseite.

Anmerkungen:

(1) Stefan Brauburger: Supermächte – Angst vor China? ZDF, 16. August 2019.
(2) Andreas Lorenz: Unter roten Seidensegeln. Der Spiegel, 29. August 2005.
(3) Stefan Brauburger: Supermächte – Angst vor China? ZDF, 16. August 2019.
(4) Berthold Seewald: So stieg England zum weltgrößten Drogendealer auf. Die Welt, 20. Januar 2018.
(5) Mao Haijian: The Qing Empire and the Opium War – The Fall of the Heavenly Dynasty (Cambridge University Press 2016), S. 491.
(6) Stefan Brauburger: Supermächte – Angst vor China? ZDF, 16. August 2019.
(7) China: Military Power. Modernizing a Force to Fight and Win. Defense Intelligence Agency 2019.
(8) Dalai Lama: In die Herzen ein Feuer (Barth Verlag 1996), S. 44. Sowie: Deutscher Bundestag Berlin. Wissenschaftlicher Dienst, 12. August 1987.
(9) Fredy Gsteiger: Bei einer Invasion in Taiwan wären die USA machtlos. SRF, 31. Mai 2019.
(10) Patrick Zoll: Die USA gefährden den Weltfrieden – sagt China. Neue Zürcher Zeitung, 25. Juli 2019.
(11) Kai Strittmatter: Die Neuerfindung der Diktatur. Wie China den digitalen Überwachungsstaat aufbaut und uns damit herausfordert (Piper 2019), S. 57.
(12) Geng Wenbing: Mein Vaterland und ich. Weltwoche, 18. September 2019.
(13) Dirk Müller: Machtbeben. Die Welt vor der größten Wirtschaftskrise aller Zeiten (Heyne 2018), S. 184 und 203.
(14) Sebastien Le Belzic: China: Milliardäre verschwinden einfach. Arte, 20. September 2019.
(15) Xi Jinping, Präsident auf Lebenszeit. Süddeutsche Zeitung, 11. März 2018.
(16) Urs Schoettli: Geopolitik als Treiber der Weltwirtschaft. Notenstein Privatbank Fokus Asien, Juni 2015.
(17) Dirk Müller: Machtbeben (Heyne 2018), S. 221.
(18) Dirk Müller: Machtbeben (Heyne 2018), S. 217.
(19) Robert Laffan: The Serbs. The Guardians of the Gate (Dorset Press 1989), S. 163.
(20) Peter Frankopan: Die neuen Seidenstraßen. Gegenwart und Zukunft unserer Welt (Rowohlt 2019), S. 52, 60 und 289.

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