Das soziale Gehirn
ANDREAS VON WESTPHALEN, 29. Januar 2020, 4 Kommentare, PDFSpiegelneuronen – Das biologische Geheimnis des Mitgefühls
"Ich prophezeie, dass die Spiegelneuronen eines Tages für die Psychologie sein werden, was die DNA für die Biologie ist." — Vilayanur Ramachandran (1)
Gähnen ist bekanntlich ansteckend. Lächeln ebenfalls. Auch Lachen, aber auch Trauer. Im Kino funktioniert das Mitgefühl der Zuschauer über ein vergleichbares Prinzip. Gebannt leidet man mit der Hauptperson mit und hofft sehnlichst auf ein Happy End. Dasselbe lässt sich über die Theaterästhetik sagen, die seit mehr als 2000 Jahren auf Aristoteles´ Prinzip der Katharsis basiert.
Wenn aber – diese Frage drängt sich förmlich auf – das menschliche Mitgefühl so zentral und selbstverständlich im Wesen des Menschen angelegt ist, wie es unsere tägliche Lebenserfahrung beweist und Kunst und Kultur seit Jahrtausenden belegen, wie kann man dann allen Ernstes davon ausgehen, der Mensch sei ein geborener egoistischer Einzelkämpfer?
1992 gelang einem Team von Neuroforschern um Giacomo Rizzolatti aus Parma eine bahnbrechende Entdeckung. Die Wissenschaftler untersuchten bei den Makaken-Affen die Gehirnregion, welche für Planung und Ausführung von Bewegungen eine entscheidende Rolle spielt. Es gelang ihnen, einzelne Nervenzellennetzwerke zu identifizieren, die jeweils für eine bestimmte Handlung zuständig waren, beispielsweise das Handlungsneuron, das feuerte, sobald der Affe nach einer Rosine griff. Die überraschende Entdeckung war: Genau dieses Neuron war auch aktiv, wenn der Makake nur beobachtete, wie jemand anderes nach der Rosine griff. Bis dahin hatte man angenommen, dass für die Reaktion auf das Verhalten anderer ein weiteres Hirnareal zuständig wäre. (2)
Im Laufe ihrer Beobachtungen machten die Forscher aber noch weitere Entdeckungen. Auch wenn der Affe nur einen Bruchteil einer Handlungssequenz sehen konnte, reichte diese Zeitspanne bereits aus: Die entsprechenden Neuronen feuerten, und zwar die, welche für die Ausführung der gesamten Handlung zuständig waren. (3) Sogar Geräusche, die typisch für eine bestimmte Handlung waren, aktivierten entsprechende Neuronen. (4)
Beim Menschen genügt es sogar, dass er in einem Gespräch nur von einer Handlung hört, damit die entsprechenden Nervenzellen feuern. (5) Beredt gibt hierüber die allgemein gebräuchliche Redensart Auskunft: „Mir läuft das Wasser im Munde zusammen“. Allein die Tatsache, von einem vielversprechenden Gericht zu hören, reicht schon aus, damit wir bereits den künftigen Geschmack im Mund verspüren können. Tatsächlich treten jedes Mal, wenn eine Handlung geplant oder durchgeführt wird, im Gehirn Nervenzellen in Aktion, die registrieren, wie sich ihre Realisierung körperlich anfühlen würde. (6) Diese Nervenzellen werden in der Fachsprache Spiegelneuronen genannt.
Spiegelneuronen stellen die biologische Erklärung dafür dar, warum Kino und Theater seit jeher über das Mitgefühl des Menschen funktionieren können. Entsprechend sagte der große Theaterregisseur Peter Brook, die Neurowissenschaften hätten mit der Entdeckung der Spiegelneuronen zu verstehen begonnen, was das Theater seit jeher gewusst hatte. (7)
Spiegelneuronen sind ein eindeutiger biologischer Hinweis darauf, dass der Mensch von Natur aus ein soziales Wesen ist, denn seine biologische Grundausstattung prädestiniert ihn zum Mitgefühl.
Experimente belegen dies eindrücklich. Eine Untersuchung von William Hutchison zeigt, dass in den Gehirnen der Probanden, die zusahen, wie sich der Untersuchungsleiter selbst in die Fingerkuppe stach, dieselben Nervenzellen feuerten, die auch beim Erleben des eigenen Schmerzes feuern würden. (8) Vergleichbare Experimente am Max-Planck-Institut in Leipzig kamen zu demselben Ergebnis: Allein die Beobachtung Schmerzen anderer führt dazu, dass wir ebenfalls Schmerzen empfinden. (9) Dieses beschränkt sich jedoch nicht nur auf simplen körperlichen Schmerz. Der Neurowissenschaftler Christian Keysers führte ein Experiment durch, bei dem die Probanden eine Hand sahen, die sich ausstreckte, um jemanden zu streicheln und dann von einer anderen Hand plötzlich und unerwartet weggestoßen wurde. Im Gehirn der beobachtenden Testperson feuerten nun die Spiegelneuronen, als hätte der Proband selbst die Zurückweisung erfahren. Sie fühlten den Schmerz der Ausgrenzung unmittelbar mit. (10)
Menschen können tatsächlich gar nicht anders als sich emotional anstecken zu lassen. Diese überaus beeindruckende Erkenntnis gelang Ulf Dimberg von der Universität Uppsala in den 1990er Jahren. Probanden wurden für jeweils nur eine halbe Sekunde auf einem Bildschirm Portraits menschlicher Gesichter gezeigt, wobei die Testpersonen gebeten wurden, möglichst neutral zu bleiben. Bei Bildern von lächelnden oder verärgerten Menschen reagierten die Probanden in Sekundenbruchteilen, indem sie unwillkürlich die Mimik des Portraits nachahmten. (11) Ein solches Resonanzverhalten trat sogar dann auf, wenn den Probanden die Bilder nur so kurz gezeigt wurden, dass sie diese unmöglich bewusst wahrnehmen konnten.
Wie Joachim Bauer, Professor für Psychoneuroimmunologie an der Universität Freiburg, bemerkt, mogelt sich „offenbar die Bereitschaft, spontanen emotionalen Gesichtsausdruck eines anderen Menschen zu spiegeln, mit Vergnügen an unserer bewussten Kontrolle vorbei.“ (12) Besonders faszinierend ist das Wirken der Spiegelneuronen bei Menschen, die sich sympathisch finden. Sind nämlich Menschen aufeinander „eingestimmt“, übernehmen sie unbewusst die körperliche Aktionen ihres Gegenübers. (13) Dies bezeichnet man als „joint attention“. Durch die gegenseitige Spiegelung wird zwischen den beiden Menschen eine kontinuierliche Aufmerksamkeit erzeugt. (14) Dabei gelang Neurowissenschaftlern der Nachweis, dass die Gehirne zweier miteinander im Gespräch befindlicher Personen sehr ähnliche neuronale Konfigurationen annehmen; sie treten quasi miteinander in Beziehung.
Allein die Tatsache, dass ein Mensch einem anderen aufmerksam zuhört und mit ihm spricht, führt dazu, dass synchron in beiden Gehirnen die gleichen Hirnareale aktiviert werden. Daher spricht der Neurowissenschaftler Uri Hasson von „einem einzigen Akt, der durch zwei Gehirne ausgeführt wird“. (15) In unserer Alltagssprache würden wir zu diesem Phänomen sagen, zwei Menschen „liegen auf einer Wellenlänge“.
Hassons Team konnte sogar nachweisen, dass das menschliche Gehirn unter Umständen die Aktivität des anderen Gehirns bereits einige Sekunden im Voraus wahrnehmen kann. Das heißt, bei einem Gespräch, in dem eine positive empathische Resonanz besteht, entsteht eine emotionale Vorwegnahme dessen, was eine Person aussprechen möchte. (16)
Spiegelneuronen gehören praktisch zur neurobiologischen Grundausstattung des Menschen, die sich zum Zeitpunkt der Geburt noch in einer Rohform befindet. Sie befinden sich insbesondere in Gehirnregionen, die erst nach der Geburt ausgebildet und vergrößert werden. (17)
Schon wenige Stunden bis Tage nach der Geburt beginnen Säuglinge, bestimmte Gesichtsausdrücke, die sie sehen, spontan zu imitieren. (18) Der Neurowissenschaftler Marco Iacoboni beschreibt die Ausbildung von Spiegelneuronen wie folgt: „Baby lächelt, die Mutter lächelt als Antwort. Zwei Minuten später lächelt das Baby noch einmal und auch die Mutter lächelt wieder. Aufgrund des Imitationsverhaltens der Mutter kann das Gehirn des Babys den zum Lächeln notwendigen motorischen Ablauf und die Sicht eines lächelnden Gesichts miteinander assoziieren.“ (19)
Obwohl sich das Neugeborene in den ersten Wochen noch nicht als eigene Person erlebt, erzeugt der frühe spiegelnde Austausch in ihm ein erstes intuitives Grundgefühl, dass es als Mensch erkannt wurde. Der britische Psychologe Donald W. Winnicott bringt diese Entdeckung auf den Punkt: „Wenn ich sehe und gesehen werde, bin ich.“ (20)
Diese frühen Spiegelungen sind ein emotionales und neurobiologisches Grundbedürfnis. (21) Kleinkinder bemühen sich bereits mit zwei Monaten aktiv um eine gefühlsmäßige Abstimmung mit den Eltern. (22) Das wechselseitige, spiegelnde Hin- und Zurückspielen von einfachsten Blicken, Gesichtsausdrücken, Lauten und Berührungen dürfte deshalb wohl das entscheidende „Geheimnis“ der frühen Mutter-Kind-Kommunikation sein. (23)
Zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr haben Kinder bei normaler Entwicklung dann die eigenständige Fähigkeit zur Empathie entwickelt. (24) Sie hängt in hohem Maße davon ab, ob die Spiegelsysteme, die ein solches Mitgefühl ermöglichen, durch zwischenmenschliche Erfahrungen zuvor ausreichend eingespielt und in Funktion gebracht worden sind. Denn eine allgemeine Grundregel unseres Gehirns lautet: „Use it or lose ist.“ Nervenzellsysteme, die nicht benutzt werden, gehen ebenso verloren, wie nicht mehr trainierte Muskeln. (25)
Die natürlichen Anlagen und Fähigkeiten des Kindes können aber auch schnell zerstört werden. Beeindruckend beweist dies die sogenannte „Still face procedure“: Wenn ein Erwachsener seine eigene emotionale Intuition unterdrückt und absichtlich das Kind völlig regungslos anschaut, wendet sich das Kind schnell ab. Wird diese Prozedur mehrere Male wiederholt, führt dies zu einem emotionalen Rückzug des Kindes. (26)
Versuche, Neugeborene und Kleinkinder emotionslos, nach rein „rationalen“ oder „vernünftigen“ Kriterien zu versorgen, haben daher verheerende Folgen, denn sie zerstören die natürliche Fähigkeit des Kindes mit anderen Menschen in emotionalen Kontakt zu kommen und sich mit ihnen intuitiv verbunden zu fühlen. (27)
Zusammenfassend lässt sich sagen: Spiegelneuronen, die zur biologischen Grundausstattung des Menschen gehören, geben dem Menschen von Natur aus die Möglichkeit, das Verhalten anderer Menschen und deren Gedanken so zu erfassen, als seien es ihre eigenen. (28) Spiegelneuronen ‚spiegeln‘ das Verhalten und die Gefühle unserer Mitmenschen dergestalt, dass diese in gewissem Sinne ein Teil von uns werden. (29) Keysers schreibt ganz in diesem Sinne: „Die Entdeckung der Spiegelneuronen machte mir klar, dass unsere Gehirne tatsächlich auf geradezu magische Weise miteinander verbunden sind.“ (30)
Belohnungszentrum – Motivator zur Menschlichkeit
"Das natürliche Ziel der Motivationssysteme sind soziale Gemeinschaft und gelingende Beziehungen mit anderen Individuen." — Joachim Bauer (31)
Jeder Mensch hat schon innige Bekanntschaft mit dem Belohnungszentrum seines Gehirns gemacht: Eine leckere Tafel Schokolade und schon läuft dem Menschen förmlich das Wasser im Munde zusammen. Ein alltägliches Beispiel für die Handlungsweise des Belohnungszentrums im menschlichen Gehirn. Der „Glücksbotenstoff“ Dopamin spielt hier eine Schlüsselrolle. Bemerkenswert: Bei Dopamin geht es „nicht um das Glückserlebnis der Belohnung. Es geht um das Streben nach Belohnung“, wie der Neurowissenschaftler Robert Sapolsky von der Universität Stanford erklärt. Dopamin „fördert das zielgerichtete Verhalten“. (32) Mit anderen Worten, das Belohnungszentrum reagiert positiv auf Situationen und Eigenschaften, die der Natur des Menschen entsprechen, und versucht mittels Dopaminausstoß sicherzustellen, dass die entsprechenden Handlungen auch tatsächlich durchgeführt werden.
Die Auslöser, die das Belohnungszentrums aktivieren, sagen daher sehr viel über die Natur des Menschen aus. Dass der Anblick von Schokolade, aber auch von Geld und attraktiver Sexualpartner dies vermögen, sollte Anhänger des kapitalistischen Menschenbilds wohl eher in ihrer Meinung bestärken. Es gibt aber auch eine ganze Reihe anderer Auslöser für die automatische Aktivierung des Belohnungszentrums, die dem kapitalistischen Menschenbild diametral widersprechen.
Nicht in dieses Bild passt es etwa, dass das Belohnungszentrum auch bei allen mitmenschlichen Gefühlen und Handlungen eines Menschen aktiviert wird. So meldet es sich nämlich nicht nur, wenn jemand Geld erhält, sondern auch, wenn jemand Geld spendet. Allein die Vorstellung, Geld zu spenden, reicht schon für eine Aktivierung aus. Einige Bereiche des Belohnungszentrums werden in einem solchen Fall sogar stärker aktiviert als beim simplen Gewinn des Geldes. (33) Das Belohnungszentrum wird zudem nicht nur aktiv, wenn der Mensch selber Geld spendet, sondern auch, wenn er bloß einen anderen Menschen hierbei beobachtet. (34)
Mehrere Experimente belegen außerdem, dass das Belohnungszentrum bei menschlicher Kooperation aktiv wird, nicht aber in einer Konkurrenzsituation. Dabei reagiert es nicht nur, wenn wir kooperieren, sondern auch dann, wenn andere mit uns kooperieren. (35) Auch faire Angebote aktivieren unser Belohnungszentrum. (36) Und nicht zuletzt löst Mitgefühl für eine traurige Person das Belohnungszentrum der mitfühlenden Person aus. (37)
Mit anderen Worten, das Belohnungszentrum reagiert positiv auf Situationen und Eigenschaften, die der Natur des Menschen entsprechen – Kooperation (nicht Konkurrenz), Fairness (nicht Unfairness) und Mitgefühl (nicht Gleichgültigkeit) –, und versucht mittels Dopaminausstoß sicherzustellen, dass diese Handlungen auch tatsächlich durchgeführt werden.
Oxytocin – Das Kuschel- und Vertrauenshormon
Ein weiterer Hinweis, dass der Mensch von Natur aus nicht als egoistischer Einzelkämpfer angelegt ist, stellt der Botenstoff Oxytocin dar. Oxytocin eilt nicht nur der Ruf voraus, ein Kuschel- und Liebeshormon zu sein, sondern es funktioniert auch als Vertrauens- und Empathiehormon und hat damit einen positiven Einfluss auf das menschliche Zusammenleben insgesamt.
Oxytocin fördert die Großzügigkeit und die Bereitschaft, anderen Menschen zu vertrauen. (38) Oxytocin erhöht die Bereitschaft sich zu versöhnen. (39) Außerdem ist es mitverantwortlich, dass unser Gehirn nach Zuwendung und Kooperation strebt. (40) Oxytocin verbessert auch die Fähigkeit des Menschen, den Gefühlszustand seines Mitmenschen zu erkennen und erhöht das Mitgefühl. (41)
Die Fähigkeit eines Menschen, den Botenstoff zu produzieren, wird bereits früh im familiären Umkreis ausgebildet. Je enger und liebevoller die familiäre Einbindung, desto höher auch die Konzentration. (42) Im späteren Leben aktivieren insbesondere Liebeserfahrungen die Produktion dieser körpereigenen „Wohlfühl- und Gesundheitsdroge“. (43) Die Bildung von Oxytocin wird aber auch angeregt, wenn sich Menschen kooperativ und altruistisch verhalten – ebenso durch alle Formen freundlicher Interaktion. (44)
Bleiben hingegen während der Kindheit und Jugend gute Beziehungserfahrungen aus, und vermittelt die Beziehung zu den Eltern keine Erfahrung von Nähe und Vertrauen, ist die Oxytocin-Konzentration gering. Das konnte etwa bei Menschen nachgewiesen werden, die ihr erstes Lebensjahr in einem Kinderheim verbrachten. (45)
Im Hinblick auf die Rolle von Oxytocin auf das mitmenschliche Verhalten zeigen sich daher zwei Regelkreisläufe, die von existentieller Bedeutung sind. Der Teufelskreis offenbart sich, wenn man die Gründe für das Schwinden der Oxytocin-Konzentration betrachtet. Menschen, die wenig Bindungserlebnisse erfahren haben, weisen, wie bereits angedeutet, eine geringere Konzentration auf und sind daher auch weniger zu Mitgefühl, Bindung und Vertrauen fähig. Sie reagieren auf Misstrauen mit einer Senkung der Oxytocin-Konzentration und sind deshalb auch weniger geneigt, anderen Vertrauen und Mitgefühl entgegen zubringen.
Es existiert aber auch ein positiver Regelkreislauf, eine Feedback-Schleife: Menschen verhalten sich aufgrund einer hohen Oxytocin-Konzentration vertrauensvoller, mitfühlender und großzügiger und lösen durch ihr Verhalten den Anstieg von Oxytocin bei ihren Mitmenschen aus, die wiederum auf diesem Weg Vertrauen, Mitgefühl und Großzügigkeit erfahren und damit auch selber jetzt eher bereit sind, ihrerseits Vertrauen zu schenken, mitzufühlen und großzügig zu sein. (46) Mit anderen Worten: Oxytocin ist sowohl Ursache als auch Wirkung von Bindungserfahrungen. (47)
Social Brain – Das Tor zum Mitmenschen
"Jede Psyche ist für eine andere Psyche unerforschlich, so dass es keinen gemeinsamen Nenner für Gefühle geben kann." — W. S. Jevon (48)
Die Gedanken und Gefühle des Mitmenschen erscheinen uns wie ein Buch mit sieben Siegeln. Ein unenthüllbares Geheimnis, denn der Graben zum Inneren eines anderen Menschen wirkt unüberbrückbar. Der spanische Philosoph Ortega y Gasset sieht nur eine mögliche Konsequenz: „Menschliches Leben im Sinne der radikalen Wirklichkeit ist nur das Leben des Einzelnen, ist nur mein Leben. (…) (Es ist) wesentlich Einsamkeit, radikale Einsamkeit“. (49) Georg Büchner drückt dies in Dantons Tod mit seiner unvergleichlichen Sprachgewalt so aus: „Einander kennen? Wir müssten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren.“
Ein genauerer Blick auf das menschliche Gehirn in den letzten Kapiteln hat Erstaunliches enthüllt. Spiegelneuronen, Belohnungszentrum und Oxytocin weisen darauf hin, dass der Mensch von Natur aus ein zutiefst soziales Wesen ist. Folgerichtig sprechen die Neurowissenschaftler Thomas Insel und Russell Fernald auch vom „social brain“ des Menschen. Marco Iacobini erklärt daher: „Menschen sind auf Empathie programmiert“. (50)
Faszinierenderweise ist der Pessimismus in den zu Beginn des Kapitels zitierten Beispielen fehl am Platze. So naheliegend es zwar zu sein scheint, dass Menschen dauerhaft dazu verdammt sind, voneinander getrennt zu sein, so sehr bietet tatsächlich gerade das menschliche Gehirn die Möglichkeit, den emotionalen Zustand eines Mitmenschen instinktiv zu erfassen. (51) Der japanische Physiologe Kiyoshi Nakahara spricht poetisch von einem „einmaligen Prinzip im Gehirn, um das Selbst mit einem Fremden zu verbinden“. (52)
Dies ist auch der Grund, warum bereits kleine Kindern mühelos erfassen können, was im Geist – und damit im Gehirn – der Menschen ihres Umfelds vor sich geht, obwohl das menschliche Hirn vermutlich das komplexeste Organ im bekannten Universum ist.
Die wunderbare Grundausstattung unseres sozialen Gehirns führt aber leider keineswegs zwangsläufig zu Empathie und sozialem Verhalten, wie jeder Leser aus seinem Alltag wissen dürfte. Ebenso wie im Falle des Oxytocin. Die konkreten Lebenserfahrungen im menschlichen Miteinander können die faszinierende Anlage des sozialen Gehirns zur Mitmenschlichkeit erweitern oder aber auch verkümmern lassen. Daher stellt sich an dieser Stelle zwingend die Frage, ob die von Gesellschaft und Wirtschaft gestalteten Rahmenbedingungen unseres Lebens zu einer Steigerung von Oxytocin und Spiegelneuronen und damit zu einem menschlicheren Miteinander führen oder ob die Weichen so gestellt sind, dass die menschliche Grundfähigkeit zur Empathie verkümmert.
Über den Autor: Andreas von Westphalen, Jahrgang 1972, studierte Vergleichende Literaturwissenschaft, Neuere Germanistik und Philosophie in Bonn, Oxford und Fribourg. Er ist als Theater- und Hörspielregisseur und Journalist tätig. Gemeinsam mit Jochen Langner realisierte er das russisch-deutsche Dialogprojekt zum Zweiten Weltkrieg "Horchposten 1941". Der vorliegende Text ist ein Auszug aus seinem Buch "Die Wiederentdeckung des Menschen" (Westend 2019).
Anmerkungen
(1) Zitiert nach: Christian Keysers: Unser empathisches Gehirn, S. 17.
(2) Christian Keysers: Unser empathisches Gehirn, S. 18.
(3) Joachim Bauer: Warum ich fühle, was du fühlst, S. 31.
(4) Christian Keysers: Unser empathisches Gehirn, S. 48, 51f.; Joachim Bauer: Warum ich fühle, was du fühlst, S. 24.
(5) Joachim Bauer: Warum ich fühle, was du fühlst, S. 24.
(6) Joachim Bauer: Warum ich fühle, was du fühlst, S. 40f.
(7) Giacomo Rizzolatti: Empathie und Spiegelneuronen, S. 11.
(8) Joachim Bauer: Warum ich fühle, was du fühlst, S. 47.
(9) Joachim Bauer: Warum ich fühle, was du fühlst, S. 47.
(10) Jeremy Rifkin: Die emphatische Zivilisation, S. 72.
(11) Joachim Bauer: Warum ich fühle, was du fühlst, S. 9f.; Werner Bartens: Empathie, S. 77.
(12) Joachim Bauer: Warum ich fühle, was du fühlst, S. 10.
(13) Joachim Bauer: Warum ich fühle, was du fühlst, S. 92, 98.
(14) Joachim Bauer: Warum ich fühle, was du fühlst, S. 12.
(15) Matthieu Ricard: Allumfassende Nächstenliebe, S. 78f.
(16) Matthieu Ricard: Allumfassende Nächstenliebe, S. 79.
(17) Joachim Bauer: Warum ich fühle, was du fühlst, S. 119.
(18) Joachim Bauer: Warum ich fühle, was du fühlst, S. 57f.
(19) Zitiert nach: Fritz Breithaupt: Kulturen der Empathie, S. 44.
(20) Zitiert nach: Joachim Bauer: Warum ich fühle, was du fühlst, S. 119.
(21) Joachim Bauer: Warum ich fühle, was du fühlst, S. 61.
(22) Joachim Bauer: Warum ich fühle, was du fühlst, S. 63.
(23) Joachim Bauer: Das Gedächtnis des Körpers, S. 65.
(24) Joachim Bauer: Warum ich fühle, was du fühlst, S. 70f.
(25) Joachim Bauer: Warum ich fühle, was du fühlst, S. 70, 57.
(26) Joachim Bauer: Warum ich fühle, was du fühlst, S. 62.
(27) Joachim Bauer: Warum ich fühle, was du fühlst, S. 62. Auf ein weiteres Problem ist aufmerksam zu machen: Die technische Entwicklung und gerade die immer längere Fixierung auf unserere Smartphone, Laptops und Flatscreens, birgt die Gefahr, dass die Funktion der Spiegelneuronen verkümmert. Christian Keysers warnt daher eindringlich: „Jede vor dem Fernseher verbrachte Stunde (ist) eine Stunde weniger in Gegenwart eines reagierenden Menschen. So erlebt das Kind seltener, dass beobachtete Gesichts- und Körperbewegungen den eigenen Zuständen entsprechen.“ Christian Keysers: Unser empathisches Gehirn, S. 216.
(28) Jeremy Rifkin: Die emphatische Zivilisation, S. 70.
(29) Christian Keysers: Unser empathisches Gehirn, S. 15, 14.
(30) Christian Keysers: Unser empathisches Gehirn, S. 77.
(31) Joachim Bauer: Prinzip Menschlichkeit, S. 36.
(32) Robert Sapolsky: Gewalt und Mitgefühl, S. 251.
(33) Moll et al., "Human Fronto-Mesolimbic Networks Guide Decisions about Charitable Donation"
(34) Harbaugh et al., "Neural Responses to Taxation and Voluntary Giving Reveal Motives for Charitable Donations"
(35) Rilling et al., "A Neural Basis for Social Cooperation", https://www.cell.com/neuron/fulltext/S0896-6273(02)00755-9?_returnURL=https%3A%2F%2Flinkinghub.elsevier.com%2Fretrieve%2Fpii%2FS0896627302007559%3Fshowall%3Dtrue; Singer et al., "Brain Responses to the Acquired Moral Status of Faces", https://www.cell.com/neuron/fulltext/S0896-6273(04)00014-5?_returnURL=https%3A%2F%2Flinkinghub.elsevier.com%2Fretrieve%2Fpii%2FS0896627304000145%3Fshowall%3Dtrue
(36) Jacques Lecomte: La Bonté humaine, S. 277.
(37) Jacques Lecomte: La Bonté humaine, S. 273.
(38) In der Wissenschaft wurden inzwischen Zweifel an Experimenten geäußert, in denen Oxytocin in Form eines Nasensprays verabreicht wurde.
(39) Kate Pickett, Richard Wilkinson: Gleichheit ist Glück: Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind, S. 224; Joachim Bauer: Prinzip Menschlichkeit, S. 48; Werner Bartens: Empathie, S. 166.
(40) Joachim Bauer: Prinzip Menschlichkeit, S. 48.
(41) Werner Bartens: Empathie, S. 201.
(42) Werner Bartens: Empathie, S. 163.
(43) Joachim Bauer: Prinzip Menschlichkeit, S. 52.
(44) Joachim Bauer: Prinzip Menschlichkeit, S. 51; Kate Pickett, Richard Wilkinson: Gleichheit ist Glück: Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind, S. 214.
(45) Joachim Bauer: Prinzip Menschlichkeit, S. 57.
(46) Robert Sapolsky: Gewalt und Mitgefühl, S. 151.
(47) Joachim Bauer: Prinzip Menschlichkeit, S. 47.
(48) Zitiert nach: Richard Sennett: Zusammenarbeit, S. 86.
(49) Matthieu Ricard: Allumfassende Nächstenliebe, S. 303.
(50) Zitiert nach: Jacques Lecomte: La Bonté humaine, S. 282.
(51) Joachim Bauer: Warum ich fühle, was du fühlst, S. 51.
(52) Zitiert nach: Werner Bartens: Empathie, S. 133.
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