Corona-Proteste: Aktueller Lagebericht (1)
PAUL SOLDAN, 5. Januar 2022, 1 Kommentar, PDFDemonstrationen zum Jahreswechsel
Der mit Abstand größte Protestmarsch der vergangenen Tage ereignete sich bereits zu Neujahr in Düsseldorf. Laut Polizei liefen 6.500 Menschen friedlich durch die Innenstadt. Anderslautende Berichte, wonach mehr als 10.000 Menschen teilgenommen hätten, dementierte ein Polizeisprecher. In den zurückliegenden Wochen hatten in Düsseldorf jeweils zwischen 2.000 und 4.000 Bürger demonstriert.
Ebenfalls am Neujahrstag zogen rund 1.600 Menschen friedlich durch die Innenstadt des 20.000-Einwohner-Städtchens Überlingen am Bodensee. Ihr Anliegen fasste die Lokalpresse so zusammen: „Kinder und Jugendliche schützen, für eine lebendige Demokratie und eine freie Impfentscheidung eintreten.“ In Regensburg, wo zur gleichen Zeit 1.000 Menschen, sowie laut Polizei 12 Gegendemonstranten auf der Straße waren, hieß es auf Transparenten: „Weg mit der Impfpflicht“ sowie „Unsere Freiheit ist unantastbar“, wie ein Videomitschnitt zeigt. Im Norden wurde am Neujahrstag ebenfalls demonstriert, so in Flensburg.
Am Sonntag, dem 2. Januar protestierten laut Polizei 5.500 Menschen in Saarbrücken friedlich unter dem Motto: „Wir sagen nein zur Impfpflicht. Wir wollen keine Zweiklassengesellschaft.“ Die Veranstalter sprachen von mehr als 7.000 Teilnehmern. In der Vorwoche waren es 3.000 gewesen.
Die Montagsdemos am 3. Januar
Am ersten Montag des neuen Jahres gingen in Deutschland weit über Hunderttausend Menschen auf die Straße, unter anderem in Rostock, Nürnberg (jeweils 4.000 Teilnehmer) Friedrichshafen (3.000), Magdeburg (2.500), Gera, Schwerin, Halle, Wittenberg, Bamberg (jeweils 2.000), Neubrandenburg (1.800), Dresden, Koblenz, Gummersbach (jeweils 1.500), Altenburg, Saalfeld, Bautzen, Cottbus, Fulda, Lübeck und Braunschweig (jeweils 1.000).
Angaben zu den Teilnehmerzahlen sind teils strittig. So meldete die Polizei in Gera 2.000 Menschen, während der MDR berichtete, dass Augenzeugen „die Menge etwa auf das Doppelte einschätzten“.
Die Gesamtzahl der Demonstranten in Deutschland am 3. Januar kann nur geschätzt werden. Polizei-Angaben existieren für Baden-Württemberg (50.000 Protestierende bei 170 Demos), Mittelfranken (8.000 bei 15 Demos), Rheinland-Pfalz (9.000 bei 84 Demos), Thüringen (16.000 bei 60 Demos), Sachsen-Anhalt (18.000 bei 48 Demos) und Mecklenburg-Vorpommern (12.000 bei 20 Demos). Das sind zusammen 113.000 Protestierende bei 397 Demonstrationen in Bundesländern und Regionen, in denen insgesamt 23 Millionen Menschen leben. Überträgt man diese Quote auf die Gesamtbevölkerung in Deutschland, so ergibt sich ein hypothetischer Wert von etwa 400.000 Demonstranten.
Die Lage in Rostock
In der Hansestadt Rostock fanden laut amtlichen Zahlen bereits an den vorangegangenen beiden Montagen die größten Corona-Proteste in ganz Deutschland statt. Auch am 3. Januar waren tausende Menschen unterwegs. Der Rostocker Polizei zufolge kamen dabei rund 4.000 Menschen zusammen, „zum deutlich überwiegenden Anteil aus dem bürgerlichen Spektrum“, wie der Polizeibericht vermerkt. 450 Polizisten begleiteten die Demonstration. Multipolar war vor Ort und sprach im Anschluss mit dem ursprünglichen Anmelder Jens Kaufmann. Nach seiner Aussage haben verschiedene Streamer, welche den Aufzug filmten, als grobe Hochrechnung über 20.000 Teilnehmer angegeben. Ein fünfminütiger Videomitschnitt zeigt die Dimension.
Rostock am 3. Januar 2022 | Bild: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Bernd Wüstneck
Die Demonstration begann verzögert, da es unterschiedliche Auffassungen zwischen dem ursprünglichen Anmelder und der Polizei über die Versammlungsfläche gab, und ein Vertreter der Versammlungsbehörde, also des städtischen Ordnungsamtes, laut Kaufmann nicht zu erreichen war. Bald darauf setzte sich die Menge dann aber in Bewegung und die geplante Route konnte eingehalten werden.
Korrektur 05.01.: Kaufmann wurde in diesem Artikel zunächst als "Veranstalter" der Demonstration bezeichnet. Er legt Wert auf die Feststellung, dass er die Versammlung infolge der oben genannten Querelen mit den Behörden aber nie offiziell eröffnete und damit rechtlich auch kein Leiter oder Veranstalter der Versammlung war. Es habe sich letztlich um eine Spontankundgebung gehandelt. Kaufmann weiter:
„Erneut bleibt festzustellen, dass alle bisherigen 'Kooperationsgespräche', also die im Vorfeld geführten Gespräche mit der Versammlungsbehörde und der Polizei sowie die direkt vor der angemeldeten Versammlung per Versammlungsbescheid vorgeschriebenen Kooperationsgespräche mit der Polizei lediglich INFORMATIONS-Gespräche waren. Wir/ich wurden/werde(n) lediglich über die bereits getroffenen Beschlüsse der Behörde und Polizei informiert. Eine Kooperation, also gemeinsame Suche nach den bestmöglichen Lösungen, z.B. eben auch bei plötzlich auftretenden Problemen, fand und findet nicht statt. (...) Zu keinem Zeitpunkt habe ich eine/meine angemeldete Versammlung eröffnet. Insofern war ich zwar Anmelder meiner Versammlung, zu keinem Zeitpunkt aber habe ich die Aufgaben, Funktionen und Pflichten eines Versammlungsleiters übernehmen können. Hier fehlte es schlichtweg an einer klar zugewiesenen Versammlungsfläche. Meine angemeldete Versammlung fand schlichtweg nicht statt. (...) Insofern ist die Einschätzung der Polizei (siehe Polizeibericht), ich hätte 'meine' Versammlung verlassen, ohne einen neuen Versammlungsleiter zu benennen vollkommen falsch, irreführend und letztlich vollkommen haltlos."
Multipolar sprach mit einigen Demonstrationsteilnehmern. Alle Befragten bewerteten die Stimmung als positiv und friedlich. Lediglich die starke Polizeipräsenz sorgte bei einigen für Unbehagen. Auf die Frage nach den persönlichen Beweggründen für die Teilnahme an der Demonstration wurde immer wieder die angekündigte Impfpflicht genannt sowie daraus resultierende Existenzängste. Auch der Schutz der eigenen Kinder und Enkelkinder spielte demnach eine große Rolle, außerdem die Solidarisierung mit denjenigen Menschen, die von den Maßnahmen und dem stetig steigenden Druck betroffen sind. Viele Befragte schienen nach anfänglicher Skepsis froh zu sein, offen und direkt über die aktuelle Situation sprechen zu können.
Wann kommt der Runde Tisch?
Die Demonstranten in Rostock fordern bei ihren Kundgebungen bereits seit Februar 2021 den Oberbürgermeister Klaus Ruhe Madsen zur Einrichtung einer wöchentlich stattfindenden öffentlichen Bürgerfragerunde zu den Corona-Maßnahmen auf. Angesprochen auf diese Forderung erklärte Kaufmann am 3. Januar: „Es sollte allmählich zu einem Dialog kommen. Es kann nicht das Ziel sein, dass wir hier in vier Wochen mit 100.000 Menschen im Kreis laufen.“ Wichtig sei, „dass Menschen wieder in den Dialog kommen, sodass wieder Verständnis füreinander entsteht – idealerweise an Runden Tischen mit der Politik, Medienvertretern und den Bürgern.“
Oberbürgermeister Madsen habe dazu bislang aber nie den direkten Kontakt zu den Demonstranten aufgenommen, obwohl er erst kürzlich in einem NDR-Interview für Verständnis untereinander warb und den Wunsch nach „verbinden statt auseinandertreiben“ äußerte. „Es gab keine Reaktion – und das von einem Oberbürgermeister, der sich als bürgernah bezeichnet. Das ist ein Desaster für diese Stadt“, so Kaufmann. „Aber dafür hat Rostock heute ein sensationelles Zeichen gesetzt. Ich bin so stolz auf diese Stadt. Zum dritten Mal in Folge aus Rostock so ein Zeichen zu setzen und bundes- und auch möglicherweise europaweit die größte Montagsdemo abzuhalten, das kriegt man nicht in Worte gefasst.“
Wieder Großdemo in der Kleinstadt Wolgast
Bereits am 29. Dezember hatten außerdem im vorpommerschen 12.000-Einwohner-Städtchen Wolgast, nahe der Insel Usedom, 2.000 Bürger demonstriert. Auch hier kursieren unterschiedliche Angaben. Ein Reporter der Lokalzeitung Nordkurier schätzte die Zahl der Teilnehmer auf 3.000, die Veranstalter selbst gehen von 4.000 Menschen aus. In einem Videomitschnitt des Aufzugs ist eine positive, nicht aggressive Stimmung zu erkennen. Die Demonstranten zogen mit Trillerpfeifen und Trommeln durch die Stadt und trugen Schilder und Banner, auf denen unter anderem zu lesen war: „Fake-Pandemie beenden“, „Wir sind die Rote Linie“ und „Keine Corona-Impfpflicht“. Dazu waren Rufe zu hören, die auf vielen Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen geläufig sind, wie: „Auf die Straße – Widerstand“, „Schließt Euch an“ und „Wir sind das Volk“.
Anmerkung der Redaktion: Multipolar wird zukünftig regelmäßig zu den Corona-Protesten berichten und dazu neben den amtlichen Angaben auch die Stimmen der Organisatoren und Teilnehmer einholen. Unser Autor Paul Soldan ist dazu unter dieser E-Mail-Adresse zu erreichen.
Über den Autor: Paul Soldan, Jahrgang 1988, war nach seiner Ausbildung zum Kaufmann für Versicherungen und Finanzen bis zum Jahr 2017 für verschiedene Finanzdienstleistungsunternehmen in Hamburg tätig. Von 2018 bis 2021 arbeitete er am Volkstheater Rostock, unter anderem als Regieassistent.
Diskussion
1 Kommentar