Bulgarien – die große Freiheit
RUMEN MILKOW, 18. Dezember 2021, 1 Kommentar, PDFEinst war Berlin die große Freiheit für mich. Deswegen bin ich in die deutsche Hauptstadt gegangen, als sie noch keine Hauptstadt war. Ein Vierteljahrhundert bin ich als Taxifahrer und Stadtführer auf ihren Straßen und Plätzen unterwegs gewesen. Bereits vor Corona kämpfte das Taxigewerbe „dank“ der von der Politik für Uber & Co. geschaffenen rechtsfreien Räume ums Überleben. Meine letzte Schicht im Taxi bin ich Anfang März vergangenen Jahres gefahren. Danach war ich auf Kurzarbeit Null bis Ende 2020. Da hat mein Chef seine Firma aufgelöst. Seither bin ich arbeitslos. Als ich anfing, ernsthaft darüber nachzudenken, in meinen erlernten Beruf als Krankenpfleger zurückzukehren, begann man in Deutschland über die Impfpflicht für Pflegeberufe zu sprechen. Jetzt ist sogar von einer allgemeinen Impfpflicht die Rede.
Seit Mai dieses Jahres bin ich nun in Bulgarien. Anfangs war ich auf „Arbeitssuche im Europäischen Ausland“. Von meiner „Leistungsmitnahme“ habe ich meine Miete in Berlin bezahlt. Arbeit gibt es auch in Bulgarien nicht. Das Angebot, Eselwanderungen für Touristen im Gebirge zu begleiten, hat sich wegen Corona zerschlagen. Seit Ende November gibt es kein Geld mehr vom Arbeitsamt. Um weiterhin ALG I zu beziehen, müsste ich zurück nach Berlin. Das erscheint mir derzeit wenig ratsam. Die Stadt war bereits vor meiner Abreise dabei, den gesunden Menschenverstand zu verlieren. Jetzt scheint sie mir wahnsinnig, regelrecht toll geworden zu sein. Ich ziehe es vor, in den Schluchten des Balkans zu überwintern. Bulgarien ist für mich die große Freiheit. Das ist keine Übertreibung.
Bulgarien ließ mich schon immer so sein, wie ich bin. Daran hat auch Corona nichts geändert. In Deutschland sollte ich dagegen immer irgendwie sein. Der Bulgare ist für seine Duldsamkeit bekannt, der Deutsche für seine Folgsamkeit, und das hat Folgen. Dass ein Deutscher großer Dinge fähig ist, davon war bereits Nietzsche überzeugt. Es sei aber sehr unwahrscheinlich, dass er diese auch tut, denn er gehorcht, wo er kann, wie dies einem an sich trägen Geiste wohl tut, so der Philosoph und Philologe weiter. Verglichen damit ist der Bulgare ein Freigeist. Nicht umsonst wird Bulgarien unter Insidern auch „the land of the freaks“ genannt, natürlich im positiven Sinne – versteht sich.
So kann zum Beispiel bis heute selbst im Staatlichen Bulgarischen Nationalradio „Christo Botew“ ein jeder alles sagen. Neulich wurde dort der Übersetzer des Buches „Was tun?“ des Autors David Engels interviewt. Engels hat sich aktuell von Belgien ins katholische Polen in Sicherheit gebracht. Das Buch ist seit seinem Erscheinen vor etwa drei Monaten in Bulgarien ein Bestseller. Ein ganz normales Interview in einer ganz normalen Sprache. In Deutschland ein Unding, vermutlich Verschwörungsliteratur, nur weil das Buch eine andere Meinung als der Mainstream vertritt. Es gibt auch Sendungen, in denen Hörer beim Staatlichen Bulgarischen Nationalradio anrufen können. Die meisten Anrufer eint der Wunsch, dass alle „am Leben und gesund“ und alle Bulgaren „zusammen“ sein sollen. Ein Vor-Checking findet nicht statt. Vom Moderator wird keine Haltung eingefordert und keinem Anrufer wird eine verkehrte Meinung attestiert. Talk-Radio in seinem besten Sinne, wie ich es aus dem Berlin der Neunziger kenne.
Dass ich das noch einmal erleben muss, dass wieder nur eine Meinung die einzig richtige sein soll, habe ich mir selbst in meinen schlimmsten Alpträumen nicht ausgemalt. Im Osten, aus dem ich komme, konnte man immer noch „umschalten“ oder „rübergehen“. Was früher der „Klassenfeind“ war, ist heute der „Nazi“, der „Aluhut“, der „Schwurbler“, der „Antisemit“, der „Verschwörungstheoretiker“, der „Covidiot“, der „Coronaleugner“ und vieles andere mehr. Begriffe, die es in der bulgarischen Sprache so nicht gibt, und für die ich mich schäme, dass sie ausgerechnet aus dem Land der Dichter und Denker kommen. Auch wenn ich in Bulgarien sicher und gut aufgehoben bin, habe ich mich in meinem Leben, ich bin Mitte 50, noch nie so bedroht und hoffnungslos gefühlt wie jetzt. Manchmal denke ich auch an Selbstmord, allerdings im Sinne von Nietzsche, dem der Gedanke an Selbstmord ein starkes Trostmittel war, mit dem man gut über manch böse Nacht hinweg kommt, wie er an einer Stelle schrieb. Auch ich werde mich nicht umbringen. Dafür liebe ich das Leben zu sehr.
In dem kleinen Land am Rande unseres Kontinents, wo Nicken Nein und Kopfschütteln Ja bedeutet, ist auch die Corona-Lage umgedreht. Die Mehrheit ist nicht geimpft und schaut mit Mitgefühl auf die Geimpften, die in der Minderheit sind. Viele haben sich impfen lassen, nicht weil sie von der Impfung überzeugt wären, sondern um weiterhin arbeiten und ihre Familie ernähren zu können. Darüber wird ganz offen gesprochen. Vielleicht der wichtigste Unterschied überhaupt: Die Menschen reden hier miteinander und nicht übereinander! Auch darüber, dass nicht wenige die Impfung „gekauft“ haben und manchmal sogar der Arbeitgeber dafür bezahlt hat. Das regt viele auf, aber nicht, weil sie sich dadurch bedroht fühlen würden, sondern weil jemand anderes weniger oder gar nichts bezahlt hat. Aber vor allem erregt man sich darüber, dass einige wenige viel Geld damit machen. Das wird hier als unsolidarisch empfunden. Denn es ist Geld, das man nicht hat, oder das man selber gut gebrauchen könnte. – Auch ich habe die Möglichkeit erwogen, mir die Impfung zu „kaufen“, mich aber dagegen entschieden, obwohl ich das Geld hätte – noch. Ich will gar nicht erst anfangen mit dem Impfen, nicht mal zum Schein. Ich will auch nicht als Geimpfter in die Statistik eingehen.
Das Misstrauen gegenüber dem Staat und den Herrschenden ist in Bulgarien traditionell stark ausgeprägt. Die Wende beispielsweise wird hier bis heute „Demokratisierung“ genannt – ganz bewusst mit Anführungszeichen. Bei der letzten Wahl im November, es war bereits die dritte in diesem Jahr, lag die Wahlbeteiligung bei gerade mal 40 Prozent. Die Mehrheit hat mit den Füßen abgestimmt. Auch dies ist selbst in diesen Zeiten und auf engstem Raum möglich. Die Bulgaren haben es bewiesen, indem sie einfach zu hause geblieben sind. Und das, obwohl bei den Wahlen zum wiederholten Male schöne neue Wahlautomaten mit Touchscreen zum Einsatz kamen. Wahlautomaten, die in jedes Dorf gekarrt wurden und aussehen wie Geldautomaten. Am Ende spucken sie zwar kein Geld, aber immerhin eine Wahlquittung aus. Eine Wahlquittung, die beweist, welche Wahl man getroffen hat. Für denjenigen, der seine Stimme für 20 oder 50 Lewa (10 beziehungsweise 25 Euro) verkauft hat, entfällt damit das lästige Beweis-Fotografieren in der Wahlkabine. Wählen als Happening, als Einkaufs-Erlebnis, ohne Einkauf zwar, dafür mit Quittungs-Garantie, und das im ärmsten Land der Europäischen Union, wenn nicht gar Europas.
Auch wenn die „Partei der Nichtwähler“ mit 60 Prozent die Mehrheit darstellt, hat offiziell eine andere Partei „gewonnen“. Und zwar die Partei „Wir setzten den Wandel fort“, die erst im September gegründet wurde, und die es aus dem Stand auf 25 Prozent geschafft hat. Berücksichtigt man die Wahlbeteiligung, sind das gerade mal 10 Prozent der Stimmen aller zur Wahl Berechtigten. Geführt wird „Wir setzen den Wandel fort“ von zwei jungen Männern, die in Harvard studiert haben, weswegen sie „die Jungs aus Harvard“ genannt werden, und von denen einige Bulgaren gerne wissen würden, wie sie zu Geld gekommen sind. Mit fast fünf Prozent ist diesmal auch eine Partei mit dem Namen „Wiedergeburt“ ins Parlament eingezogen, die im Ausland ausschließlich als „nationalistisch“, wenn nicht gar „ultranationalistisch“ und „rechtsextrem“ durchgeht. Was dabei hinten runter fällt, ist der Umstand, dass sie die einzige Partei ist, die sich klar gegen den Grünen Pass ausspricht. Vor allem deswegen, und auch weil sie sich für die Rückkehr im Ausland lebender Bulgaren stark macht, wurde sie von Menschen gewählt – die dies aber selbst hier nur gegenüber Freunden zugeben würden. Das ist leider auch wahr.
Aktuell haben nun „die Jungs aus Harvard“ innerhalb einer bunten Vier-Parteien-Koalition die Regierungsgeschäfte übernommen und sogleich verlauten lassen, dass sie der Impfung gegen Corona, im Gegensatz zu ihren Vorgängern, oberste Priorität einräumen wollen. Als erstes soll der Grüne Pass für alle Parlamentarier und sämtliche Ministerien verpflichtend eingeführt werden. Er ist bereits für manche Geschäfte erforderlich, insbesondere in den Shopping-Malls der Hauptstadt, es tut aber auch ein negativer Test, und manch eine zeigt einfach das „Grüne Zertifikat“ einer Verwandten.
„Verpflichtend“ hat wie das Wort „genau“ in Bulgarien eine andere Bedeutung als in Deutschland. Angst kann man dem Bulgaren, der sowieso nicht ständig einkaufen muss wie der Deutsche, damit nicht machen. Man spart praktisch Geld, das man nicht hat. Und auf eine Krise mehr oder weniger kommt es auch nicht an. In Bulgarien ist man Krisen gewöhnt. Seit mehr als 30 Jahren lebt man hier praktisch in einer Dauerkrise. Wer die Möglichkeit hatte, sich zu „evakuieren“, hat dies getan. Jeder dritte Bulgare lebt im Ausland, unter den 20- bis 45-Jährigen sogar jeder zweite. Bulgarien ist das Land mit der am schnellsten schrumpfenden Bevölkerung, ohne dass ein Krieg erklärt worden wäre oder gar stattgefunden hätte, und das weltweit. Im Land verblieben sind die, die es nicht geschafft haben, und deren Leben keine fünf Stotinki (2,5 Cent) Wert ist. So oftmals das eigene Selbstverständnis. Für nicht wenige Bulgaren geht es ums nackte Überleben. Vor einem Virus Angst zu haben, dafür fehlt ihnen schlichtweg die Zeit. Auch weil man die wenige Zeit, die nach dem täglichen Kampf ums Überleben übrig bleibt, am liebsten mit seiner Familie verbringt, wenn es sie noch gibt, wenn nicht schon alle im Ausland sind.
Das Geld der Auslands-Bulgaren hilft nicht wenigen im Inland, wo gerade wieder die Preise steigen, beispielsweise für Butter aus Deutschland, die jetzt drei Euro kostet. Wer hier einer Beschäftigung für wenig Geld nachgeht, dessen Motto ist oft: „Sie tun so, als würden sie uns bezahlen. Wir tun so, als würden wir arbeiten.“ Viele haben neben ihrer offiziellen Arbeit noch etwas anderes „am Laufen“, was ihnen Geld oder Geldwertes einbringt, und wofür sie ihre Kräfte schonen müssen. Wie die Mehrzahl der Rentner überlebt, ist mir selbst nach vielen Jahren immer noch ein Rätsel. Entweder haben sie einen Garten, der sie ernährt, oder Kinder und Enkelkinder, die für sie sorgen. Anders kann ich es mir nicht erklären. Dass viele auch mit wenig Geld irgendwie zurecht kommen, liegt vor allem daran, dass die allermeisten Bulgaren in ihren eigenen vier Wänden wohnen und keine Miete zahlen. Um am Haus etwas machen zu lassen, dafür reicht es bei den meisten schon nicht mehr. So einiges wird auch für Alkohol und Nikotin ausgegeben, das soll nicht verschwiegen werden, wobei der Rakija, der meistgetrunkene Hochprozentige, in aller Regel selbst gebrannt und somit erschwinglich ist.
Meine Region, der Nordwesten Bulgariens, ist die ärmste des Landes. Bei mir im Dorf leben fast nur alte Menschen. Die jungen sind in der Hauptstadt Sofia, die knapp 100 Kilometer entfernt ist, oder im Ausland. Laut meinem Bürgermeister, der selbst so wie ich ungeimpft ist, sind nur 10 Prozent im Dorf „vakziniert“, wenn überhaupt. Eine Maske tragen nur ganz wenige und allenfalls, wenn sie im kleinen Dorfladen ihre Einkäufe erledigen. Dieses Jahr habe ich noch keine Kontrollen erlebt, letztes Jahr gab es welche. Als ich damals im Frühjahr nach Bulgarien kommen wollte, hat mir mein Bürgermeister davon abgeraten. Es war die Zeit des ersten Lockdowns und die Strafen, beispielsweise beim Nichtantreffen bei häuslicher Quarantäne, waren selbst für einen Ausländer hoch. Ich habe auf meinen Bürgermeister gehört und bin in Berlin geblieben. Es schien mir für manche ein einträgliches Geschäftsmodel gewesen zu sein, dessen Zeit aber abgelaufen ist, zumindest für den Moment. In der Nähe gibt es ein Restaurant, dessen Spezialität Forellen sind. Die Eigentümerin, die ich gut kenne, sagte mir, dass letztes und teilweise auch dieses Jahr für sie geschäftlich eine Depression war. Von Angst sprach sie nicht.
Zu behaupten, ich hätte keine Angst, wäre unaufrichtig. Es ist auch kein Respekt, wie ich es von Freunden gehört habe. Ich will es nicht verleugnen: Auch ich habe Angst, mich mit Corona anzustecken. Da in meiner Altersgruppe aber 99,97 Prozent die vom Virus hervorgerufene Erkrankung überleben, hält sich meine Angst in Grenzen. Meine Angst vor einem neuartigen Impfstoff ohne Langzeitstudien ist auf jeden Fall größer. Dass ich mich aus Solidarität impfen lassen soll, halte ich schlichtweg für Propaganda – Impf-Propaganda. Angst macht mir auch der Impf-Mob, der demnächst den Masken-Mob ablösen oder genauer: diesen ergänzen wird. – Alles sehr deutsche Erscheinungen.
Daran, dass sich die Geimpften irgendwann mit den Ungeimpften solidarisieren würden, wenn diese diskriminiert werden, habe ich nie geglaubt. Dafür ist die Spaltung der Gesellschaft in Deutschland zu weit fortgeschritten. Eine Spaltung, die es in der Form in Bulgarien nicht gibt, weil der Bulgare den anderen so sein lassen kann, wie er ist. Die deutsche Blockwart-Mentalität ist dem Bulgaren absolut wesensfremd. Obwohl es durchaus eine – eher kleine – Mittelschicht gibt, die sich aufgeklärt und europäisch wähnt, und die auch an das gängige Corona-Narrativ und die Impfung glaubt. Viele aus dieser Schicht sind im Ausland und müssen vermutlich auch dran glauben. Dass man früher auch nicht gewusst hätte, womit man geimpft wird, also warum sollte man sich heute dafür interessieren? Auch diese Meinung habe ich hier schon einmal gehört.
In Berlin wurde ich als Maskenbefreiter regelmäßig angepöbelt, bedroht und gemobbt. Meine Hausärztin, die mir meine Maskenbefreiung im Mai 2020 ausgestellt hat, konnte mir im Mai dieses Jahres schon nicht mehr sagen, ob diese noch gilt oder nicht. Was sie wusste, war, dass sie schon lange keine Maskenbefreiungen mehr ausstellt für ihre Patienten. Da ich unter einer Maske keine Luft bekomme, hatte ich bereits als Soldat der Nationalen Volksarmee eine Maskenbefreiung. Diese wurde dort zu keiner Zeit in Frage gestellt. Angepöbelt, gemobbt oder gar bedroht wurde ich deswegen schon gar nicht.
In Bulgarien trage ich so gut wie nie eine Maske. Ich versuche alles, was ich zum Leben brauche, auf dem Markt zu bekommen. Der ist unter freiem Himmel und nur wenige tragen eine Maske. Eine Kontrolle gibt es nicht. Muss ich doch einmal in irgendein Geschäft gehen, setze ich eine Maske auf, die ich aber bald wieder absetzen muss, um genug Luft zu bekommen. In dem halben Jahr, das ich nun hier bin, wurde ich genau dreimal darauf angesprochen und höflich, wie es sich für ein zivilisiertes Land gehört, gebeten, bitte sehr eine Maske aufzusetzen. In allen drei Fällen durfte ich weiter ohne Maske einkaufen, nachdem ich erklärt hatte, dass ich mit Maske keine Luft bekomme.
Ging mir früher die Ungenauigkeit der Bulgaren regelmäßig auf die Nerven, weiß ich sie heute zu schätzen. Die Genauigkeit des Deutschen ist jetzt das, was mir die größten Sorgen bereitet. Wie weit wird der Deutsche gehen, wenn es demnächst eine Impfpflicht gibt? Dass ausgerechnet „Es geht um Leben und Tod“ Lauterbach und ein General der Bundeswehr das große Impfen organisieren sollen, ist kein gutes Zeichen. Was wird mit denen passieren, die sich auch trotz Impfpflicht nicht impfen lassen möchten? Müssen sie ins Gefängnis oder in ein Lager oder „nur“ in die Psychiatrie oder wird es Zonen oder gar Inseln für sie geben? Bevor wir Antworten auf diese Fragen erhalten, wird man sich wohl auf den Straßen und Plätzen, auf denen ich einst mit meinem Taxi zu Hause war, die Köpfe einschlagen. So viel scheint festzustehen. Ich wünschte, es wäre anders.
Im Gegensatz zu meinen früheren Auszeiten vom Taxifahren in meiner zweiten Heimat, Bulgarien, denke ich jetzt oft an meine erste Heimat, Deutschland. Und da frage ich mich in letzter Zeit immer öfter, ob ich feige bin? Ob ich ein Recht darauf habe, mich in Sicherheit zu bringen? Genauso wie jeder Bulgare dieses Recht hat, weswegen das Land praktisch entvölkert ist, und ich permanent von Verfall und Tod umgeben bin. Viele Häuser stehen leer und einige Dörfer sind vollständig verlassen. Praktisch jedes zweite Haus verfällt oder ist schon in sich zusammengefallen. Den Leichenwagen sehe ich hier in einer Woche öfter als in Berlin in einem ganzen Jahr, wenn nicht Jahrzehnt.
All das macht es mir nicht leichter, Antworten auf meine Fragen zu finden. Würde ich, kehrte ich jetzt nach Berlin zurück, als Ungeimpfter demnächst von der Polizei oder gar von der Bundeswehr von zu Hause abgeholt werden, so wie man früher Schulschwänzer abgeholt hat, allerdings nicht um in die Schule, sondern um zum Impfen gebracht zu werden? Wie viele Opfer wird der Wahnsinn auf den Straßen und Plätzen fordern? Und will ich danach überhaupt noch nach Deutschland zurück? Aber wie geht es dann hier weiter, ohne Arbeit und ohne Einkommen, auch das frage ich mich. Aktuell weiß ich nicht einmal, ob ich als Ungeimpfter demnächst überhaupt noch nach Hause darf.
Für heute habe ich „umgeschaltet“, bin „rübergegangen“, habe auch ich mich „evakuiert“ und in Sicherheit gebracht, und zwar nach Bulgarien – der großen Freiheit. Was der morgige Tag bringt, weiß ich nicht. Es kann durchaus auch hier in Bulgarien demnächst wieder mit lang anhaltenden Protesten wie im letzten Jahr losgehen. Ich halte das angesichts der ersten Statements der neuen Regierung sogar für wahrscheinlich. Eines ist sicher: Die Schluchten des Balkans sind Deutschland nicht nur um eine Stunde voraus, sondern die Uhren ticken auch anders hier. In Bulgarien wird nichts so heiß gegessen, wie es in Brüssel gekocht wird. Und es stimmt wirklich: In Bulgarien werden die Speisen meist lauwarm serviert. Warten wir’s ab. Die Zukunft kommt früh genug. Ich für meinen Teil gehe oft in der Natur spazieren, treffe mich mit Freunden, schreibe, lese viel, schaue Filme und höre Musik, beschäftige mich mit Kunst im weitesten Sinne – der Lebenskunst, genauer: der Überlebenskunst. Dafür haben wir die Kunst, um noch einmal Nietzsche zu bemühen, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen. Manchmal brauchen wir sie auch, erlaube ich mir hinzuzufügen, um schlichtweg zu überleben.
Über den Autor: Rumen Milkow, Jahrgang 1966, Sohn eines Bulgaren und einer Berlinerin, ist geboren und aufgewachsen in Ostdeutschland, examinierter Krankenpfleger und trockener Berliner Taxifahrer sowie Radiomoderator a.D. („Hier spricht TaxiBerlin“ auf Pi-Radio); außerdem Verfasser von Kolumnen („Taxi-Times“), Online-Antiquar („TaxiBerlins BauchLaden“ bei Booklooker – ruht derzeit), Blogger, „Eselflüsterer“ und Herausgeber („Nach Chicago und zurück“ und „Bai Ganju, der Rosenölhändler“ des bulgarischen Klassikers Aleko Konstantinow).
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