Auf dem Weg zum Wahrheitsministerium
MICHAEL MEYEN, 9. Oktober 2021, 2 Kommentare, PDFHinweis: Dieser Beitrag ist auch als Podcast verfügbar.
Erste Vorbemerkung: Das Video hat sein Ziel erreicht. Der Journalismus spricht über die Faktenchecker, auf der großen Bühne. Alle können sehen, hören oder lesen, dass diese Portale ein Problem sind. Ich habe nicht erwartet, dass es Nachdenklichkeit gibt oder gar ein Einsehen, schon gar nicht bei dem Tempo, das die Atemlosigkeit öffentlicher Kommunikation im Plattform-Zeitalter offenbar verlangt. Manche Reaktionen auf die Aktion #allesaufdentisch waren schneller online, als man so viele Videos überhaupt sehen, geschweige denn einordnen und bewerten kann.
Zweite Vorbemerkung: Wer das Prinzip „Faktencheck“ angreift, zielt auf die Ideologie des Journalismus – auf den Glauben, der diesen Berufsstand in seinem Innersten zusammenhält. Objektivität, Neutralität, Autonomie: Diese Trias wurzelt nicht im Journalismus oder gar in der Demokratie, sondern im Kapitalismus und ist nach 1945 von den US-Amerikanern nach Deutschland gebracht worden. Auch vor 1933 konnte man hierzulande mit Zeitungen Geld verdienen, jeder wusste aber, dass die einen für Weimar sind, die anderen für den Kaiser und manche auch für die Weltrevolution. Nicht wenige Verleger haben für solche Ziele draufgezahlt (1).
Nach dem Krieg haben die neuen Herren im Westen ein Ideal gepredigt, das dem Gott des Geldes dient und verschleiert, welchen Einfluss Menschen mit Macht und Besitz auf die Inhalte haben. Kommerzielle Medien streben außerdem nach Publikumsmaximierung. Da stört jedes offene Bekenntnis. Wer „wahre“ Nachrichten verspricht, umarmt nicht nur alle Weltanschauungen, sondern hat einen zweiten, viel größeren Vorteil: Das Publikum merkt nicht, wenn es gelenkt werden soll. Was auf der Titelseite steht oder am Anfang der Tagesschau, muss das Allerwichtigste sein. Wir sind doch objektiv, neutral und unabhängig. Ging also gar nicht anders (2).
Schwierigkeiten mit der „Wahrheit“
Dritte Vorbemerkung: All das sagt nichts gegen gründliche Recherche oder gegen den Wunsch, möglichst viele Stimmen zu hören, bevor eine Geschichte veröffentlicht wird. All das sagt auch nichts gegen interne Kontrollen. Vier Augen sehen mehr als zwei und acht vermutlich (fast) alles. Martin Zeyn warf mir im Bayerischen Rundfunk vor, ich hätte unterschlagen, „dass Magazine wie The New Yorker oder der Spiegel schon lange vor 9/11 Abteilungen hatten, die jeden Artikel auf Faktentreue kontrolliert haben. Nur traten die nie öffentlich in Erscheinung.“ Ich habe das nicht unterschlagen. Es handelt sich schlicht um ein anderes Thema, einerseits. Das gilt auch für die „intensiven Debatten“ (Martin Zeyn), die der Journalismus nach jedem Fehlschlag führt.
Andererseits wissen wir spätestens seit Claas Relotius, dass der interne Streit einen Sündenbock braucht, um weitermachen zu können wie bisher, und dass auch die beste Dokumentation der Welt scheitern muss, wenn zwar die „Fakten“ überprüfbar sind, aber der ganze Plot erfunden wurde (3). Umgekehrt zeigt die „wahre Novelle“ Fast Hell von Spiegel-Reporter Alexander Osang exemplarisch, warum jedes „nicht dokumentierte Leben“ die berühmte Abteilung in seinem Haus zum Verzweifeln bringt, wenn die entsprechende Erzählung nicht den Erwartungen entspricht, die vom herrschenden Diskurs geformt werden (4).
Vierte Vorbemerkung: Ich will nicht zeigen, „dass Fakten, wissenschaftlich begründet, halt gar keine sind“, wie Katja Thorwart in der Frankfurter Rundschau meint und daran vollkommen logisch (Achtung: Ironie!) anschließt: „Dass Faktenchecks letztlich nichts anders sind als Volksverdummung.“ Ich kann das kurz machen, weil ich in diesem Magazin bereits ausführlich über „Fakten“, „Wahrheit“ und den Kampf um Deutungshoheit schreiben durfte (5). Deshalb hier nur so viel: Es gibt keine Aussage über die Wirklichkeit (über das, was ohne unser Wollen da ist) ohne einen Menschen. Jede Aussage über die Wirklichkeit ist deshalb auch dann subjektiv, wenn sie Systematik, Nachvollziehbarkeit und Peer-Kontrolle (die Merkmale wissenschaftlichen Arbeitens) für sich reklamiert. Über „Fakten“ muss folglich gestritten werden. Wer etwas anderes behauptet, redet einem Wahrheitsministerium das Wort.
Das gilt auch für diejenigen, die unter dem Hashtag #FalseBalance den alten Rechtsgrundsatz Audiatur et altera pars (Man höre auch die andere Seite) in die Tonne treten wollen. Richtig vs. falsch läuft hier auf gut vs. schlecht hinaus und damit auf ein moralisches Urteil (wünschenswert oder nicht wünschenswert), das immer auch von Herkunft und Lebenssituation abhängt und deshalb in den homogenen urbanen Akademiker-Redaktionen fast zwangsläufig anders ausfallen muss als, sagen wir, auf dem Land zwischen Schwerin und Neubrandenburg.
Das führt direkt zu meiner fünften und letzten Vorbemerkung, auch das in Teilen eine Wiederholung aus besagtem Multipolar-Text: Internet und digitale Plattformen haben die Berufsideologie des Journalismus ad absurdum geführt. Man muss nur ein paarmal klicken, um Gegenpositionen zu finden zu dem, was Tagesschau, Spiegel oder Süddeutsche Zeitung melden, und vor allem Dinge, die dort gar nicht stattfinden – oft genug genauso seriös vorgetragen und mit Quellen unterfüttert. Die neue Konkurrenz aus dem Netz hat die Glaubwürdigkeit der Leitmedien erschüttert und all jene alarmiert, die die veröffentlichte Meinung vorher direkt oder indirekt kontrollieren konnten, weil ihnen Sender und Verlage gehören, weil sie Werbung schalten und die meisten Experten bezahlen, weil sie die Redaktionen mit Pressematerial fluten und mit Gesetzen drohen können oder weil sie den Nachwuchs ausbilden (6).
Misstrauenserklärung gegen den Journalismus
Damit endlich zum Thema, zu den Faktenchecks. Schon der Begriff macht stutzig, weil der Journalismus hier auf eine neue Formel bringt, was er uns doch angeblich seit mehr als 70 Jahren Tag für Tag nach Hause schickt. DIE „Fakten“. Die Wahrheit also und nichts als die Wahrheit, geprüft und frei von jeder Subjektivität. Mogelpackung bleibt Mogelpackung, auch wenn Papier und Schleife glänzen.
Paul Eschenhagen, stellvertretender Pressesprecher des Deutschen Journalisten-Verbandes (DJV), hat zwei der sieben Sätze aufgegriffen, die ich auf der Seite #allesaufdentisch unter das Volker-Bruch-Michael-Meyen-Video geschrieben habe:
„Faktenchecker sind Propagandamaschinen, die sich als Journalismus verkleiden. Das gilt auch für den Faktenfuchs des Bayerischen Rundfunks oder den Faktenfinder der Tagesschau, die es nur gibt, weil der öffentlich-rechtliche Rundfunk nicht den Pluralismus liefert, für den wir ihn eigentlich bezahlen.“
Eschenhagens Kommentar, formuliert im Wissen, auf der Seite der „Guten“ (7) zu stehen:
„Kleiner Faktencheck: Das ist natürlich ziemlicher Blödsinn. Gerade in der Corona-Pandemie haben die Faktenchecker von Faktenfuchs, Faktenfinder, Correctiv und anderen wichtige und großartige journalistische Arbeit geleistet.“
Was zu beweisen war – hätte ich früher unter meine Versuche bei der Matheolympiade gesetzt. Nur: So ganz ohne Beleg wäre das nicht durchgegangen. Und: Ich habe mich damals wenigstens bemüht, die Aufgabe zu verstehen und dann auch darauf einzugehen. Ich schreibe in diesen beiden Sätzen nichts über die Leistungen von Faktencheckern in Sachen Corona. Ich frage nach der Legitimation für ihre Existenz.
Ohne Fremdwörter: Wozu brauchen wir so etwas, wenn wir doch schon einen Journalismus haben, der vorgibt, objektiv, neutral und unabhängig zu sein? Es ist an dieser Stelle eigentlich egal, ob so ein Faktenchecker innerhalb eines Medienhauses installiert wird oder außerhalb der überlieferten Feldlogik agiert wie Correctiv (dazu gleich mehr): Diese Portale sind eine Misstrauenserklärung an alle anderen Redaktionen, frei nach dem Motto: Macht ihr weiter euren „Journalismus“. Die „Fakten“, die prüfen wir.
Damit das nicht unkommentiert stehenbleibt: Unter „Propaganda“ verstehe ich mit Jacques Ellul (8) erstens alles, was die öffentliche Diskussion in eine bestimmte Richtung lenken soll (von der Nachrichtenauswahl über das Framing bis hin zur Wortwahl), und zweitens Werbung für eine bestimmte Ideologie und eine bestimmte Art zu leben (9). Propaganda ist folglich das Gegenteil von „Pluralismus“ – ein Begriff, mit dem ich mein Journalismusideal auf den Punkt bringe und auch das messe, was der öffentlich-rechtliche Rundfunk liefert. Dieses Ideal sieht die Öffentlichkeit der Leitmedien als einen Ort der Verständigung, an dem alle Interessen und Meinungen gleichberechtigt zusammenkommen. Man wird sich nicht immer einigen können, natürlich nicht, aber schon deshalb Frieden finden, weil man einander zuhören durfte.
In diesem Ideal gibt es Hashtags wie #FalseBalance nicht, weil Demokratien von der Idee leben, dass morgen die Minderheit Recht haben und vielleicht sogar regieren kann (10). Als „Kommunikationswissenschaftler“, lieber Martin Zeyn, kann ich die „medizinische Qualifikation“ von Wolfgang Wodarg tatsächlich nicht besser einschätzen „als junge Journalisten“. Ich weiß aber, welche Folgen es für Demokratie und Gesellschaft hat, wenn abweichende Positionen aus der Öffentlichkeit der Leitmedien verbannt werden.
Pioniere jenseits des Atlantiks
Zurück zu den Faktencheckern, zurück in die 1990er, in denen das Internet immer größer wird und mit ihm auch all das, was bisher allenfalls am Stammtisch erzählt wurde, nun aber blitzschnell die große Runde macht. Irgendjemand muss all die Enten und Schauermärchen prüfen, Snopes.com zum Beispiel, seit 1994 online. Wenig später geht es buchstäblich um alles – um eine große Lüge, in die Welt gesetzt von der US-Regierung und von den Leitmedien so lange wiederholt, bis jeder glauben muss, dass im Irak Massenvernichtungswaffen zu finden sind und irgendwo nebenan die Mutter aller Terrornetzwerke.
Die Glaubwürdigkeit des Journalismus retten: Das ist das Motiv, das die Pioniere von Factcheck.org (gegründet 2003) oder PolitiFact (2007) antreibt (11). In Kurzform: Nicht mehr alles weiterleiten, was im Kongress und anderswo behauptet wird, sondern den Dingen auf den Grund gehen. Man könnte auch sagen: Das tun, wofür wir den Journalismus bezahlen. Nicht Sprachrohr, Schoßhündchen oder gar Wachköter der Macht sein (12), sondern ihr Kritiker und Kontrolleur.
Katja Thorwart hat in der Frankfurter Rundschau vermutet, dass Volker Bruch und ich auf „die ganz große Verschwörungserzählung“ hinauswollen und nur deshalb zwei Jahrzehnte zurückblicken. „9/11“, na klar. Meyen bleibe „schwammig, aber die Botschaft kommt an. Gesteuerte Presse vom Weißen Haus oder Kanzleramt – je nach Perspektive.“ Nein, liebe Frau Thorwart. Es geht an dieser Stelle nicht um „gesteuerte“ Medien. Es geht um Journalisten, die für den „gesellschaftlichen Auftrag“ Öffentlichkeit (13) brennen und ihre Felle davonschwimmen sahen.
Wenn mehr Zeit gewesen wäre, hätten wir sicher über die USA in den dunklen Jahren des zweiten Bush gesprochen. Auf der anderen Atlantikseite fällt der traditionelle Journalismus mit den drei WTC-Türmen in sich zusammen. Die Älteren erinnern sich: Patriotismus und Fake News auf allen Kanälen, um den „War on Terror“ zu befeuern und schließlich losmarschieren zu können (14). Damals schlägt nicht nur die Stunde der ersten Faktenchecker, die ihren Beruf retten wollen, sondern auch die der Komödianten – von Jon Stewart zum Beispiel, der in seiner Sendung The Daily Show sagen darf, was sonst nirgendwo mehr geht. Ein Schauspieler, der Regierung und Politiker als Lügner überführt und Journalisten als Kollaborateure. Nur ein Beispiel von unendlich vielen Stewart-Bonmots: Sie (die da oben) sagen, dass die Sonne scheint. Dabei regnet es. Permanent. Aber sie wollen das einfach nicht akzeptieren. Und so wird das, was sie sagen, zur „Wahrheit“, obwohl es draußen weiter regnet (15).
Nachrichten, vor allem die im Fernsehen, als Fenster zur Welt und als ihr Spiegel, Reporterinnen und Reporter, die Zugang zum Zentrum der Macht haben und uns deshalb sagen können, was wahr ist und was wichtig (16): Mit diesen Mythen war es spätestens dann vorbei, als die Soldaten im Irak nichts fanden von dem, was sie angeblich sicherstellen sollten. Mit den Mythen starb der Respekt vor Journalisten, Experten, Insidern – vor all jenen, die bis dahin Politik erklärt hatten. Wenn man so will, haben Jon Stewart, Factcheck.org oder PolitiFact den Journalismus erneuert und damit gerettet, ein bisschen zumindest. Geht doch, wenn auch eine Weile nur als Fernsehsatire oder unter einem neuen Namen.
Wahrheit, Fakten und „richtige Zahlen“
Der Erfolg der ersten Faktenchecker hat all die auf den Plan gerufen, die das Internet als Bedrohung sehen. Wenn die Menschen dem Fernsehen und den Zeitungen nicht mehr glauben wollen, wenn sie anfangen, selbst nach Wahrheiten zu suchen oder gar welche zu produzieren, dann müssen wir dem einen Riegel vorschieben – am besten unter einem Label, das sich bewährt hat, noch nicht verbraucht ist und die Werte verkörpert, für die einst der Journalismus angetreten war. Objektivität. Transparenz. Fakten. Die nackte Wirklichkeit gewissermaßen, unbestechlich und ein für alle Mal festgestellt. Schon früh gab es für diese aberwitzige Vorstellung Schützenhilfe von ganz oben, von Angela Merkel beispielsweise. Das Zitat vom September 2016 aus der berühmten Rede zur Flüchtlingspolitik: „Es heißt ja neuerdings, wir lebten in postfaktischen Zeiten. Das soll wohl heißen, die Menschen interessieren sich nicht mehr für Fakten, sie folgen allein den Gefühlen.“ (17)
Fakt versus Gefühl. Kopf versus Bauch. Wissenschaft versus Esoterik. Das ist es, was einige Menschen verunsichert hat, die mir nach der Aktion #allesaufdentisch geschrieben oder sich auf Twitter und in Kommentarspalten zu meinem Auftritt geäußert haben. Ihm gefalle es „ausgesprochen gut“, mailte mir ein Talkshow-Fan, dass jeder „Konflikt“ zwischen zwei Gästen aus „der laufenden Sendung“ an die Faktenchecker delegiert werden könne. Hinterher sehe man dann, wer „die richtigen Zahlen“ hatte. Die „Diskutierenden“ hätten (genau wie er offenbar auch) „diese Komponente im Diskurs“ längst akzeptiert. Andere verwiesen auf die vielen Links, die es bei den Faktencheckern immer gebe, auf Relativierungen („Was wir wissen – was wir nicht wissen“) sowie auf die damit doch verbundene Transparenz und vermissten bei unserem Video zugleich die „Faktenbasis“. Christian Gehrke nutzte in der Berliner Zeitung die Begriffe „Behauptung“ und „keine Belege“ und schaffte es damit fast wortwörtlich in den schon zitierten DJV-Kommentar von Paul Eschenhagen.
Dazu sind drei Dinge zu sagen. Punkt eins: Es ist gut und wichtig, die Politik beim Wort zu nehmen, nicht nur in Talkshows. Dass wir dafür professionelle „Faktenchecker“ brauchen, bezweifle ich aber. „Unter normalen Umständen“, wusste Hannah Arendt lange vor dem Transparenzwunder Internet, komme „der Lügner“ gegen „die Wirklichkeit“ nicht an. „Globaler Verkehr“ und „weltumspannende Kommunikation“ schienen die „Lebensdauer“ von „Propaganda-Fiktionen“ schon vor einem halben Jahrhundert erheblich zu beschneiden (18). Der Volksmund sagt: Lügen haben kurze Beine – auch dann, wenn ihre Träger mit noch so viel Ressourcen dopen.
Punkt zwei: die Wahrheit, doch noch einmal. In der Erkenntnistheorie ist das ganz einfach. Wahr ist eine Aussage dann, wenn sie mit der Wirklichkeit übereinstimmt – mit dem, was ohne unser Wollen da ist. Das Problem beginnt mit der Prüfung und wird nicht kleiner, wenn sich zwei Aussagen widersprechen. Ist SARS-CoV-2 ein Killervirus oder hätten wir gar nichts davon gemerkt, wenn es nicht plötzlich diesen Test gegeben hätte?
Ich wiederhole das: Es gibt keine Aussage ohne uns, ohne einen Menschen. Es gibt auch keine „Fakten“ ohne einen Menschen. Die Sprache hat das nicht vergessen. Im Wort „factum“ stecken „machen“, „tun“ und „handeln“. Lateinisch: facere. Manufaktur. Handarbeit. Selbst eine Zahl ist eine Zahl und nicht die Wirklichkeit. Das weiß jeder, der selbst Daten erhoben hat. Was wir messen, wird sozial hergestellt (19). Menschen legen fest, dass sie Schritte zählen und nicht Fürze oder Rülpser, die ja auch etwas über das Befinden sagen. Menschen legen fest, nach welchem Virus sie suchen und was passieren muss, damit sie „Gefunden!“ rufen dürfen. Hinter jeder Zahl steckt ein Interesse. Daraus folgt immer: Es hätte auch anders sein können. Das klingt banal, ist es aber offenkundig nicht. Sonst hätten die Faktenchecker nicht wie Pilze aus dem Boden schießen können.
Hausgemachte Faktenchecks
Punkt drei: Redaktionen wie Faktenfuchs oder Faktenfinder spielen in einer anderen Liga als Correctiv. Die einen sind einfach ein weiteres Ressort in einem ganz normalen Medienhaus. Manchmal schauen sie auch den eigenen Leuten auf die Finger (so ähnlich wie die Spiegel-Dokumentation) oder Ministern, die sich vor dem Mikrofon aufs Glatteis führen lassen, vor allem aber werden die digitalen Plattformen gescannt. Beuteschema: reichweitenstarke Beiträge, die bezweifeln, ergänzen oder korrigieren, was die Leitmedien berichtet haben. Man muss sich dazu nur exemplarisch anschauen, was das schlaue Raubtierchen des Bayerischen Rundfunks zur Bundestagswahl gemacht hat.
Um nicht falsch verstanden zu werden: In den Tiefen des Netzes blüht jede Menge Unsinn. Und: Orientierung ist wichtig, gerade in Zeiten wie diesen. Dafür braucht der Journalismus aber, das dürfte schon deutlich geworden sein, kein neues Ressort. Er hat alle Formate, die dafür nötig sind. Pro und Contra, Gastbeiträge, Interviewspalten oder Reportagen, die genauso nach Stimmenvielfalt rufen wie all die schönen Quasselrunden im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Ich kann hier Marcus Klöckner zitieren: „Die Stühle waren nämlich besetzt. Hauptsächlich von Karl Lauterbach, von Karl Lauterbach und von Karl Lauterbach. Und dann war da auch noch Karl Lauterbach, Karl Lauterbach und nicht zu vergessen: Karl Lauterbach.“ (20)
Der wichtigste Unterschied zwischen Faktenfinder und Faktenfuchs auf der einen und Portalen wie Correctiv oder Volksverpetzer auf der anderen Seite: Die Nur-Faktenchecker haben kein natürliches Publikum – weder Menschen, die per Pflichtbeitrag regelmäßig zahlen, noch Abonnenten oder wenigstens Passanten, auf die sich zum Beispiel die Bildzeitung immer noch verlassen kann. Man braucht Spenden, vor allem dann, wenn man Büros mietet und Arbeitsverträge unterschreibt. Für diese Faktenchecker (und nur für diese) ist das die größte Herausforderung: den Geldfluss am Laufen halten.
Auf der Teamseite von Correctiv lächeln 44 Gesichter. Für so einen riesigen Laden kommen auf der Welt nur wenig mehr als eine Handvoll großer Töpfe in Frage – die Stiftungen der Superreichen vor allem oder staatsgefütterte Fonds wie das National Endowment for Democracy (NED) aus den USA. Es ist kein Zufall, dass in Georgien oder in der Ukraine genau in dem Moment deutungsmächtige Faktenchecker gegründet wurden, als diese Länder geopolitisch auf die Agenda kamen (21).
Die Geldgeber von Correctiv
Correctiv ist eigentlich ein Kind des alten Journalismus. Die Anschubfinanzierung kommt 2014 von der Brost-Stiftung und damit aus dem Erbe von Anneliese Brost, Verlegerin der Westdeutschen Allgemeinen und Multimillionärin. Diese Stiftung bleibt bis 2017 eine wichtige Geldgeberin, wobei nach und nach andere Quellen dazustoßen. Ein bisschen Geld von Parteistiftungen (Heinrich Böll, Konrad Adenauer), ein bisschen von steuerfinanzierten Einrichtungen wie der Bundeszentrale für politische Bildung, schon ein wenig mehr aus der Industrie und ab 2016 gar nicht so wenig von den Open Society Foundations. Man kann das auf der Webseite im Detail nachlesen und dort auch sehen, dass der Anteil der Kleinspenden offenbar von Jahr zu Jahr gewachsen ist.
2020 taucht hier neben knapp 350.000 Euro „Projektförderungen“ aus Steuergeldern ein alter, neuer Großsponsor auf – Luminate, das Portemonnaie von Ebay-Gründer Pierre Omidyar. Erst 450.000 Euro und im ersten Quartal 2021 noch einmal mehr als 400.000, nachdem 2018 schon einmal 640.000 Euro aus dieser Quelle geflossen sind (in jenem Jahr mehr als ein Viertel aller Einnahmen). Auf der Luminate-Seite steht zum Empfänger von insgesamt 1,7495 Mio. US-Dollar:
„Correctiv ist eine gemeinnützige Nachrichtenredaktion, die Ungerechtigkeiten und Machtmissbrauch untersucht und Bildungsprogramme für Journalismus und Medienkompetenz anbietet.“
Das klingt wunderbar. Ich muss das hier nicht aufdröseln, weil jeder selbst auf die Correctiv-Seite gehen und entscheiden kann, ob Schein und Sein zusammenpassen.
Martin Zeyn hat in seinem BR-„Kommentar“ zum Bruch-Meyen-Video beklagt, dass ich dort „keinen einzigen Kronzeugen“ nenne für die verheerenden Folgen der „Zuwendungen“ („wie Einfluss genommen wurde, welcher Druck aufgebaut wurde“) und nicht einmal auf die Idee kommen würde, hier einfach nur nachzuplappern, „was Querdenker erzählen“. Mit Verlaub: Ich schaue hier dem Volk aufs Maul. Wer zahlt, schafft an. Oder: Wes Brot ich ess, des Lied ich sing.
Mit den „Kronzeugen“ ist das so eine Sache. Tania Röttger zum Beispiel, die bei Correctiv den Faktencheck leitet, war in ihrem Volontariat 2016/17 auch im Center for Investigative Reporting, einem Think Tank, der nicht nur von den Open Society Foundations oder der Bill & Melinda Gates Foundation erhebliche Summen bekommen hat, sondern auch vom Democracy Fund der Omidyar-Gruppe (2019: 900.000 US-Dollar, 2018: 1,5 Mio. US-Dollar). Für eine junge Frau ist so eine Station großartig, kein Zweifel. Sie lernt dort, wie ein Journalismus funktioniert, der den großen Spendern gefällt. Tania Röttger muss ihren Job können, sonst wäre sie bei Correctiv nicht so schnell aufgestiegen. Als „Kronzeugin“ gegen das Geld scheidet sie allerdings aus. Sie kennt es nicht anders.
Weg vom Einzelfall: Spitzenpositionen im Journalismus (und keineswegs nur dort) bekommen in aller Regel „erfolgreich sozialisierte Gesellschaftsmitglieder“, die in Leitartikeln oder Faktenchecks ganz automatisch („spontan und unbewusst“) für ein bestimmtes Set an Lebensstilen werben und für die hegemoniale Sicht auf die Welt (22). Diese Sicht muss ‚gut‘ und damit ‚richtig‘ sein, weil sie einen selbst nach oben geführt hat und von den meisten anderen in den Redaktionen schon deshalb geteilt wird, weil sie von den Chefs ausgesucht wurden und diese eines Tages gern ablösen würden.
Faktenchecker international
Mit Geld von Luminate (Pierre Omidyar) ist 2015 auch das International Fact-Checking Network (IFCN) entstanden (23), eine Organisation unter dem Dach des Poynter Institute, die das Handwerk seither dominiert, weil hier entscheiden wird, was gute „Faktenchecker“ von schlechten unterscheidet – und weil die digitalen Plattformen ein IFCN-Zertifikat verlangen, wenn man mit ihnen zusammenarbeiten will. Und das will man. Ein Jahresvertrag mit Facebook garantiert die Betriebskosten (24). 2019 hat das IFCN seine Regeln geändert. Wer ein Zertifikat möchte, muss seitdem mindestens 75 Prozent seiner Recherchen auf Behauptungen konzentrieren, die „das Wohlergehen des Einzelnen, der Allgemeinheit oder der Gesellschaft betreffen oder beeinflussen könnten“.
Das klingt zwar vage und kann von den Entscheidern auch ausgesetzt werden, wenn die Antragsteller eine gute Ausrede haben, aber es fällt nicht allzu schwer, hier das hineinzudeuten, womit Multimilliardäre (Selbstbeschreibung: Philanthrop) wie Pierre Omidyar, George Soros oder Bill Gates die Welt beglücken wollen. Mit den Faktencheckern der ersten Stunde jedenfalls hat das nichts mehr zu tun. Die Welt verbessern anstatt über sie zu berichten: Das ist nicht mehr Journalismus, sondern Propaganda. Die Idee Faktencheck ist gekapert worden (25) – ganz so, wie wir das gerade bei vielen Schlüsselbegriffen erleben (26).
Bei dieser Umtaufe gibt es neben den Philanthropen einen zweiten Paten. „EU, Militär und Geheimdienste“ hat der Journalist Norbert Häring vor knapp einem Jahr in den Titel eines Textes über die „grassierende Internet-Zensur“ geschrieben und das Anfang Oktober noch einmal mit aktuellen Beispielen untermauert. Ich muss das hier nicht wiederholen. In zwei atemlosen Sätzen: Der Gesetzgeber hat die Digitalkonzerne nach und nach gezwungen, mehr oder weniger „freiwillig“ alles zu tun, um jede Konkurrenz für die offizielle Lesart der Wirklichkeit auszuschalten. Die Algorithmen ändern, „Shadow Banning und andere Formen der heimlichen Reichweitenbeschränkung“, indirekte und direkte Zensur.
Die Faktenchecker sind der Teil des Spiels, den wir alle sehen können – aber offenbar nicht dechiffrieren sollen. Facebook zum Beispiel steht nur einmal in der Geldgeberliste von Correctiv, 2017 mit 105.000 Euro. Seitdem: Schweigen im Walde, selbst auf Nachfrage von Kollegen. „Einige Hunderttausend Euro jährlich“ soll die Kooperation einbringen (27). 2018 taucht „DNI“ in der Sponsorenliste auf, mit 230.000 Euro. Hinter dieser Abkürzung verbirgt sich Googles Digital News Innovation Fund.
Das International Fact-Checking Network am Poynter Institute ist etwas transparenter. Dort kippt die Finanzierung 2020 so, dass es jedes andere halbwegs große Unternehmen in den Abgrund gerissen hätte. Der Hauptsponsor Luminate, der 2017 bis 2019 jeweils gut ein Drittel des Etats liefert, steht plötzlich nur noch bei knapp drei Prozent, und die Open Society Foundations haben sich offenbar genauso zurückgezogen wie die Gates-Stiftung oder die Staatsstiftung NED. Eingesprungen sind Facebook (34 Prozent), YouTube (27 Prozent) und WhatsApp (17 Prozent). Da behaupte noch einer, dass „Wahrheit“ und „Fakten“ nicht in guten Händen sind.
Über den Autor: Prof. Dr. Michael Meyen, Jahrgang 1967, studierte an der Sektion Journalistik und hat dann in Leipzig alle akademischen Stationen durchlaufen: Diplom (1992), Promotion (1995), Habilitation (2001). Parallel arbeitete er als Journalist (MDR info, Leipziger Volkszeitung, Freie Presse). Seit 2002 ist Meyen Professor am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der LMU München. Seine Forschungsschwerpunkte sind Medienrealitäten, Kommunikations- und Fachgeschichte sowie Journalismus. Er betreibt den Blog Medienrealität. Sein zuletzt erschienenes Buch Die Propaganda-Matrix (Rubikon 2021) war ein Spiegel-Bestseller.
Weitere Artikel zum Thema:
- Warum ich von Propaganda spreche (Michael Meyen, 7.8.2021)
- Das neue Wahrheitsregime (Michael Meyen, 18.5.2021)
- Oppositionsmedien unter Feuer (Paul Schreyer, 29.5.2021)
- Neue Zensurbehörde? Medienaufseher gehen gegen unabhängige Online-Medien vor (Tilo Gräser, 22.2.2021)
- Die Mainstream-Blase (Ralf Arnold, 31.1.2020)
- Journalistenausbildung: Warum das Fass noch einmal aufgemacht werden muss (Michael Meyen, 15.11.2020)
Anmerkungen und Quellen
(1) In meiner Dissertation zeige ich zum Beispiel, wie der (demokratische) Ullstein-Verlag aus Berlin mit erheblichen Investitionen versucht hat, die konservativen Leipziger Neuesten Nachrichten (LNN) von ihrem Spitzenplatz in der Stadt zu verdrängen, und dabei auf der ganzen Linie gescheitert ist. In Leipzig gab es damals ein halbes Dutzend Tageszeitungen, die weltanschaulich eindeutig zuzuordnen waren. Richtig Geld verdient hat nur der LNN-Verlag von Edgar Herfurth. Vgl. Michael Meyen: Leipzigs bürgerliche Presse in der Weimarer Republik. Wechselbeziehungen zwischen gesellschaftlichem Wandel und Presseentwicklung. Leipzig: Rosa-Luxemburg-Verein 1996
(2) Vgl. Horst Pöttker: Nachrichten und ihre kommunikative Qualität. In: Publizistik 48. Jg. (2003), S. 414-426 und Michael Meyen: Ein Märchen aus den USA: Objektivität und Autonomie. In: Medienrealität vom 9. August 2021
(3) Vgl. Juan Moreno: Tausend Zeilen Lüge. Das System Relotius und der deutsche Journalismus. Berlin: Rowohlt 2019. Meine Rezension: Medienrealität vom 10. Oktober 2019
(4) Alexander Osang: Fast hell. Berlin: Aufbau 2021, S. 233, 237. Meine Rezension: Das mediale Erbe der DDR vom 29. Juni 2021
(5) Michael Meyen: Das neue Wahrheitsregime. In: Multipolar vom 18. Mai 2021
(6) Vgl. Edward S. Herman, Noam Chomsky: Manufacturing Consent. The Political Economy of the Mass Media. New York: Pantheon 1988
(7) Matthias Bröckers, Paul Schreyer: Wir sind (immer) die Guten. Ansichten eines Putinverstehers oder wie der Kalte Krieg neu entfacht wird. Frankfurt/Main: Westend 2019
(8) Jacques Ellul: Propaganda. Wie die öffentliche Meinung entsteht und geformt wird. Frankfurt/Main: Westend 2021
(9) Vgl. Michael Meyen: Warum ich von Propaganda spreche. In: Multipolar vom 7. August 2021
(10) Steven Levitsky und Daniel Ziblatt vertreten die These, dass die Demokratie in den USA deshalb mehr als zwei Jahrhunderte halbwegs funktionieren konnte, weil sich die Beteiligten stillschweigend an zwei Normen gehalten hätten: gegenseitige Achtung (man akzeptiert den anderen als legitimen Rivalen) und Zurückhaltung (wenn man an der Macht ist, reizt man sie nicht aus). Vgl. Wie Demokratien sterben. Und was wir dagegen tun können. München: Deutsche Verlags-Anstalt 2018, S. 17-18
(11) Vgl. Lucas Graves: Deciding What’s True. The Rise of Political Fact-Checking in American Journalism. La Vergne: Columbia University Press 2016
(12) Vgl. George A. Donohue, Phillip Tichenor, Clarice N. Olien: A Guard Dog Perspective on the Role of the Media. In: Journal of Communication 45. Jg. (1995), Nr. 2, S. 115-132
(13) Horst Pöttker: Öffentlichkeit als gesellschaftlicher Auftrag. Zum Verhältnis von Berufsethos und universaler Moral im Journalismus. In: Rüdiger Funiok, Udo Schmälzle, Christoph Werth (Hrsg.): Medienethik – die Frage der Verantwortung. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 1999, S. 215-232
(14) Vgl. Andreas Elter: Die Kriegsverkäufer. Geschichte der US-Propaganda 1917-2005. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2005, S. 279-324
(15) Jeffrey P. Jones: Entertaining Politics. Satiric Television and Political Engagement. Second Edition. Plymouth Rowman & Littlefield 2010, S. 75
(16) Vgl. Nick Couldry: Media, Society, World. Social Theory and Digital Media Practice. Cambridge Polity Press 2012
(17) Angela Merkel im Wortlaut: „Wenn wir nicht gerade aus Stein sind“. In: Der Tagesspiegel vom 21. September 2016
(18) Hannah Arendt: Wahrheit und Lüge in der Politik. Zwei Essays. 3. Auflage. München: Piper 2016, S. 10, 82 (US-Erstausgabe von 1971)
(19) Vgl. Steffen Mau: Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen. Berlin: Suhrkamp 2017
(20) Marcus Klöckner: Zombiejournalismus. Was kommt nach dem Tod der Meinungsfreiheit? München: Rubikon 2021, S. 106
(21) Lucas Graves, Federica Cherubini: The Rise of fact-Checking Sites in Europe. London: Reuters Institute for the Study of Journalism 2016, S. 10, 29
(22) Uwe Krüger: Meinungsmacht. Der Einfluss von Eliten auf Leitmedien und Alpha-Journalisten – eine kritische Netzwerkanalyse. 2. Auflage. Köln: Herbert von Halem 2019, S. 211
(23) Vgl. Alissa Black: Why We Invested: International Fact-Checking Network at Poynter. In: Luminate-Blog vom 7. Juli 2017
(24) Vgl. Venkat Ananth: Can fact-checking emerge as big and viable business? In: Economic Times vom 7. Mai 2019. – Diese Quelle und weitere Informationen verdanke ich einer Abschlussarbeit im Masterstudiengang Journalismus, die ich 2020 an der Universität München betreuen durfte. Vgl. Leon Willner: Wahr-Sager. Die Fakt-Checker der Protestbewegung in Chile. Wissenschaftliche Arbeit zur Erlangung des akademischen Grades Master of Arts. München, Juli 2020
(25) Vgl. Lucas Graves: Boundaries Not Drawn. Mapping the institutional roots of the global fact-checking movement. In: Journalism Studies 19. Jg. (2018), S. 613-631, hier 617
(26) Vgl. Norbert Häring: Corona-Neusprech: Ein Kompendium mit 22 umgepolten Begriffen und einem Unwort. In: norberthaering.de vom 6. Oktober 2021
(27) Markus Wiegand: Faktenchecks: Was bezahlt Facebook an Correctiv? In: Kress News vom 3. Juli 2020
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