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Verschwörung gegen Corbyn

Im April 2020 wurde dem Sender Sky News ein ebenso umfangreiches wie brisantes Dokument der britischen Labour Party zugespielt. Eigentlich hätte es (noch) unter Verschluss bleiben sollen. Doch nun, an die Öffentlichkeit gelangt, bestätigte es einen bösen Verdacht, den viele Beobachter der politischen Szene in Großbritannien schon lange gehegt hatten: Jeremy Corbyn, von 2015 bis 2020 Vorsitzender der Labour Party, wurde das Opfer einer breit angelegten politischen Verschwörung. Einflussreiche Kräfte innerhalb der Partei, die sich nicht damit abfinden wollten, dass ein prononcierter Vertreter des linken Flügels dank überwältigender Mitgliedervoten an der Spitze Labours stand, betrieben hartnäckig seinen Sturz. Dabei nahmen sie Wahlniederlagen Labours billigend in Kauf.

ULRICH TEUSCH, 29. Juni 2020, 0 Kommentare

Hinweis: Dieser Beitrag ist auch als Podcast verfügbar.

Nachdem der Parteilinke Jeremy Corbyn im September 2015 per Urwahl überraschend klar zum neuen Vorsitzenden gewählt worden war, schien es, als könne er der Labour Party neues Leben einhauchen. Es herrschte Aufbruchsstimmung. Die Partei erfreute sich eines ungeahnten und außerordentlichen Zustroms neuer Mitglieder. Corbyn begann mit circa 200.000 Genossen und lag am Ende bei fast 600.000. Er stellte die Partei aber auch programmatisch neu auf, vollzog die Abkehr vom „Thatcherismus mit menschlichem Antlitz”, dem sich der frühere Parteivorsitzende Tony Blair verschrieben hatte.

Blair zählte denn auch von Anfang an zu den erbitterten Gegnern Corbyns. Auch Blairs immer noch zahl- und einflussreiche Bewunderer und Anhänger haben den Macht- und Richtungswechsel nie akzeptiert. Statt sich mit den neuen Mehrheitsverhältnissen und dem Willen der Parteibasis zu arrangieren, ließen die „Blairites“ nichts unversucht, dem Parteivorsitzenden das Leben schwer zu machen und ihn zu Fall zu bringen. Manche taten das sogar völlig unverblümt.

Die „Blairites“ bei der Arbeit

Blairs einstiger „Spin Doctor“ und Minister Peter Mandelson ließ zum Beispiel 2017 verlauten:

„Ich arbeite jeden Tag im kleinen Rahmen daran, das Ende von Corbyns Amtszeit zu beschleunigen. Etwas, so klein es auch sein mag – eine E-Mail, ein Telefonanruf oder eine Sitzung, die ich einberufe – jeden Tag versuche ich, etwas zu tun, um die Labour Party vor seiner Führung zu retten.“

Diese feindselige Einstellung wurde von großen Teilen des Partei-Managements und der Parlamentsabgeordneten geteilt. Doch anders als Mandelson agierten die meisten Corbyn-Gegner nicht offen, sondern verdeckt. Nach außen hin täuschten sie eine gewisse politische Loyalität vor, aber insgeheim sägten sie mit Hingabe an Corbyns Stuhl.

Die Verschwörer verbündeten sich mit Corbyn-feindlichen Organisationen außerhalb der Partei und durften sich obendrein der zuverlässigen Unterstützung durch die britischen Mainstream-Medien erfreuen, auch solchen, die der Labour Party grundsätzlich wohlgesonnen gegenüberstehen. So tat sich der linksliberale Guardian mit rüdem Corbyn-Bashing stets besonders hervor.

In thematischer Hinsicht deckten die Dauerkampagnen gegen Corbyn ein weites Spektrum ab. Es reichte von albern bis übel, also: von Corbyns eigenwilliger Art, sich zu kleiden, bis hin zum Vorwurf, die Labour Party habe seit seinem Amtsantritt ein handfestes „Antisemitismus-Problem“. Die Attacken auf Corbyn und seine Mitstreiter waren derart intensiv und brachial, dass jeder, der seine politischen Sinne beisammen hatte, sich einige ernste Fragen stellen musste: Was geht hier vor? Wer zieht hier die Fäden?

Politische Hinrichtung in Zeitlupe

Nun also die Antwort. Im April dieses Jahres wurde Sky News ein 860-seitiger parteiinterner Bericht zugespielt, der noch von Corbyns (seit 2018 amtierender) Generalsekretärin Jennifer Formby in Auftrag gegeben worden war. Er trägt den wenig attraktiven Titel „The work of the Labour Party’s Governance and Legal Unit in relation to antisemitism, 2014 – 2019“, befasst sich also primär mit der Frage, wie die Partei mit ihrem angeblichen und von den Medien grotesk aufgeblähten „Antisemitismus-Problem“ umgegangen ist.

Doch das Brisante an diesem Dokument sind nicht etwa die Erkenntnisse über Labours Auseinandersetzung mit Antisemitismus-Vorwürfen, sondern die von den Autoren umfassend dokumentierten parteiinternen Kommunikationsprozesse, etwa in Gestalt zahlreicher E-Mails oder WhatsApp-Nachrichten. Sie zeigen auf schockierende Weise, wie die Corbyn-Gegner innerhalb des Parteiapparates ihren schmutzigen Krieg gegen den Vorsitzenden führten.

David Hearst und Peter Oborne, zwei bekannte britische Journalisten der alten Schule (also von der professionellen und integren Sorte), haben das voluminöse Dokument gelesen und kommen in einem gemeinsam verfassten Artikel zu einem niederschmetternden Resultat. Corbyn, so schreiben sie, sei das Opfer eines „sorgfältig geplanten und brutal ausgeführten politischen Attentats“ geworden. Alternativ könnte man auch von einer politischen Hinrichtung in Zeitlupe sprechen. Denn immerhin benötigten seine Gegner fünf Jahre, bis sie den Vorsitzenden zur Strecke gebracht hatten.

Medien als Kampfhunde

Rückblickend betrachtet wird man fragen müssen: Kämpfte der vom rechten Partei-Establishment verachtete Corbyn von Anfang an auf verlorenem Posten? Jene Kräfte, die dem einstigen Labour-Chef und Premier Tony Blair nachtrauerten, haben Lüge um Lüge über ihn aufgetischt. So wurde zum Beispiel – wahrheitswidrig – behauptet, Corbyn sei einst ein kommunistischer Spion beziehungsweise Einflussagent gewesen oder er habe Verbindungen zu (oder hege Sympathien für) Terroristen.

Ein unablässiges feindliches Trommelfeuer machte ihm das Leben und Überleben schwer bis unmöglich. Eine unschätzbare Hilfe waren den Corbyn-Gegnern die britischen, aber auch die ausländischen Mainstream-Medien. Sie entledigten sich jedes Anscheins von Neutralität, ergriffen einseitig Partei, agierten nicht als unbestechliche Wachhunde, sondern mutierten zu bösartigen Kampfhunden. Kaum ein Journalist hat sich dazu herabgelassen, die wüsten Behauptungen über Corbyn einem Faktencheck zu unterziehen und sachlich über ihn und seine politischen Anliegen zu informieren.

Diese zügellose, ungebremste Medienkampagne wurde bereits früh bemerkt und angeprangert. Schon im Juli 2016 publizierte die London School of Economics eine empirische Untersuchung, in der sie nachwies, dass die führenden Medien des Landes unisono Front gegen Corbyn machten. In 75 Prozent der Zeitungsartikel, so fanden die Forscher heraus, wurden seine Auffassungen entweder verfälscht wiedergegeben oder unterschlagen. Nur 11 Prozent der Artikel hätten über seine Ansichten fair berichtet. Was den Tonfall der Beiträge angeht, wurden weniger als 10 Prozent als „positiv“ klassifiziert.

Eine zweite Untersuchung ging noch schärfer mit den Medien ins Gericht. Sie wurde – ebenfalls im Juli 2016 – von der britischen „Media Reform Coalition“ und Birkbeck/University of London herausgebracht. Im Fokus standen diesmal nicht nur die Websites der Zeitungen, sondern auch die Berichterstattung der Fernsehanbieter. Das Ergebnis für die BBC, hierzulande gerne als Muster der Unparteilichkeit und Ausgewogenheit gerühmt, fiel noch desaströser aus als das der Printmedien. Die Anti-Corbyn-Tendenz der mit öffentlichen Geldern finanzierten BBC war zudem deutlicher ausgeprägt als die von ITV, ihrer kommerziellen Konkurrenz.

Die beiden Studien legten nahe, dass die einseitige Berichterstattung und Kommentierung eine ernste Bedrohung demokratischer Prozesse darstellte. Geändert hat sich in den Folgejahren nichts. Im Gegenteil, die Medien haben noch draufgesattelt. Und jetzt, da in Gestalt des geleakten Berichts über die parteiinternen Machenschaften doch eigentlich Abbitte und Buße angesagt wären, tauchen die meisten von ihnen ab oder tun so, als sei nichts Nennenswertes geschehen – wobei die allgemeine Fixierung auf „die Pandemie“ den Medien bei ihrer Flucht aus der Verantwortung natürlich sehr zupass kommt.

So findet sich denn kaum ein etabliertes britisches Mainstream-Medium, das die Enthüllungen angemessen gewürdigt und seinem Publikum die wesentlichen Erkenntnisse sachlich präsentiert hätte. Zu den rühmlichen Ausnahmen gehört ein umfangreicher Beitrag des liberalen Independent.

Corbyn unter Dauerbeschuss

Zu den Einzelheiten des geleakten Berichts! Während der Amtszeit Corbyns gelang es seinen parteiinternen Gegnern, wichtige Bastionen unter ihrer Kontrolle zu behalten, insbesondere in der Unterhausfraktion und in der Parteizentrale. Der stellvertretende Parteivorsitzende Tom Watson, der Generalsekretär Iain McNicols sowie zahlreiche ihrer Verbündeten taten alles, um Corbyns politischen Initiativen zu schaden und ihn als Person zu beschädigen.

Die interne Kommunikation der Verschwörer war von einer schwer erträglichen Arroganz und Gehässigkeit durchzogen. Immer wieder wurden Mitstreiter Corbyns herabgesetzt und beleidigt. Sein Direktor für Kommunikation und Strategie, Seumas Milne, wurde beispielsweise als „Dracula“, als „boshaft und böse“ beschimpft. Corbyn's einstige Stabschefin Karie Murphy verunglimpfte man als „Medusa“, als „verrückte Frau“, als „bitch face cow“, die „eine gute Dartscheibe abgeben würde“. In zumindest einem Fall sind die Verschwörer nicht einmal davor zurückgeschreckt, einem politischen Gegenspieler den Tod zu wünschen.

Ganz oben auf der Agenda stand selbstredend der Sturz des Parteivorsitzenden. Nach dem überragenden Mitgliederentscheid zu seinen Gunsten 2015 wurde Corbyn bereits ein Jahr später genötigt, sich erneut zur Wahl zu stellen. Zum Leidwesen seiner Gegner erzielte er abermals ein überzeugendes Votum. Dieser klare Sieg war umso beachtlicher, als rechte Parteifunktionäre versucht hatten, die Abstimmung zu manipulieren, indem sie Tausende von Mitgliedern ausschlossen, von denen sie befürchteten, sie würden für Corbyn stimmen.

2017 versuchten die „Blairites“ ein weiteres Mal, Corbyn eine Abstimmung über den Parteivorsitz aufzuzwingen. Sie hofften, seinen Stellvertreter Tom Watson als Interimsvorsitzenden inthronisieren zu können. Zwei Nachwahlen zum britischen Unterhaus sollten als Hebel dienen, die eine in Copeland, die andere in Stoke-on-Trent Central; man erwartete, dass sie mit Labour-Niederlagen enden und die Legitimität Corbyns untergraben würden. Doch Labour schnitt unerwartet gut ab – und der Plan scheiterte.

Unterhauswahl 2017 – die „Blairites“ in Hochform

Auf die beiden Nachwahlen folgten schon bald (im Juni 2017) die landesweiten Unterhauswahlen. Nun liefen die Corbyn-Widersacher zur Hochform auf. Sie spekulierten auf eine krachende Niederlage Labours und taten das Ihre, um sie herbeizuführen. Ein Wahldesaster, so ihr Kalkül, böte beste Voraussetzungen, den Vorsitzenden erneut zur Disposition zu stellen – wobei man diesmal nichts dem Zufall überlassen wollte. Sollte es zu einer neuerlichen Abstimmung über den Parteivorsitz kommen, wollte man das bisherige Verfahren „ein Mitglied – eine Stimme“ durch eine Delegiertenabstimmung ersetzen; dadurch hoffte man die Chancen Corbyns oder anderer linker Kandidaten zu reduzieren.

Während des Unterhaus-Wahlkampfs zerfiel die Labour-Parteizentrale zusehends in zwei Flügel: der eine für Corbyn, der andere gegen ihn. Obwohl sie feststellen mussten, dass sie mit ihren Prognosen falsch gelegen hatten und Corbyns Chancen bei den anstehenden Wahlen gut standen, setzten seine Gegner ihr falsches Spiel fort. Als ein Meinungsforschungsinstitut während des laufenden Wahlkampfs deutliche Stimmenzuwächse für Labour voraussagte, bemerkte ein Corbyn-feindlicher Funktionär, er fühle sich angesichts dieser Nachricht „ziemlich krank“. Ein Kollege spendete derweil Trost: „Mit ein bisschen Glück“ würden sich die Umfragen bald deutlich verschlechtern, meinte er. Logischerweise lösten Umfragen, die für Corbyn weniger günstig oder schlecht ausfielen, unter den Top-Funktionären Euphorie aus. Eine verkehrte Welt!

Corbyns Wahlkampf wurde von seinen innerparteilichen Gegnern regelrecht sabotiert. Schon in die Aufstellung der Wahlkreiskandidaten mischten sie sich massiv ein, um sicherzustellen, dass keine pro-Corbyn Bewerber zum Zuge kamen. Zudem schnitten sie die Wahlkämpfer von wichtigen Informationen ab, etwa vom Feedback der Basis, sodass die Ressourcen nicht effektiv und effizient eingesetzt werden konnten. Finanzielle Mittel wurden mit Vorliebe in „sicheren“ Wahlkreisen verprasst, statt sie in solche zu lenken, die auf der Kippe standen und in denen der jeweilige Labour-Kandidat dringend Unterstützung benötigt hätte. Insbesondere Corbyns Stellvertreter und Widersacher Tom Watson durfte sich erheblicher finanzieller Zuwendungen erfreuen.

Im Grunde führte Labour zwei verschiedene Wahlkämpfe. Das ging so weit, dass Corbyn-feindliche Funktionäre ein „geheimes Team für Schlüsselpositionen“ (secret key seats team) mit Sitz im Londoner Regionalbüro der Partei (Ergon House) betrieben. Von dort aus wurde, so der Independent, „parallel ein allgemeiner Wahlkampf zur Unterstützung der mit dem rechten Flügel der Partei verbundenen Abgeordneten geführt“. Corbyn und seine Leute hatten davon keine Ahnung. Solche Machenschaften zeigten, dass die „Blairites“ nicht den Labour-Sieg, sondern die Labour-Niederlage wünschten, sie zumindest billigend in Kauf nahmen.

Trotz dieses außerordentlich heftigen Gegenwindes erreichte Corbyn ein herausragendes Ergebnis. Die Partei überflügelte die regierenden Tories; es fehlten nur gut zweitausend Stimmen und Corbyn hätte eine von ihm geführte Regierung bilden können. Seine Gegner hatten immer wieder behauptet, einer wie er sei vielleicht seiner Partei, aber keinesfalls dem großen Publikum vermittelbar. Dieser Mann könne keine Wahlen gewinnen. Nun hatte er das Gegenteil bewiesen. Doch statt über dieses Ereignis glücklich zu sein, waren seine Widersacher konsterniert, frustriert, wütend. Den großen Erfolg Labours empfanden sie als Niederlage.

Tracey Allen etwa, die Büroleiterin des Generalsekretärs Iain McNicol, erklärte, das Wahlergebnis stehe „im Gegensatz zu dem, worauf ich in den letzten Jahren hingearbeitet hatte“. Das gute Abschneiden Labours ließ bei der rechten Funktionärsriege keinerlei Freude aufkommen – doch gegenüber Journalisten musste man so tun als ob. McNicol wird mit dem Seufzer zitiert: „Es wird eine lange Nacht werden.“ Als die Nacht vorüber war, beklagte sich wiederum Tracey Allen: „Wir werden das durchstehen müssen. Das Volk hat gesprochen. Bastarde.“

Man muss in diesem Zusammenhang immer wieder daran erinnern, dass es sich bei den Verschwörern um führende, hauptamtlich tätige, aus Mitgliedsbeiträgen üppig entlohnte Labour-Funktionäre handelte. Doch sie taten nicht das, wofür sie gewählt und bezahlt wurden. Sie agierten gegen die eigene Partei und betrieben das Geschäft des politischen Gegners.

Die Antisemitismus-Kampagne

Zum Gipfel der Perfidie im Kampf gegen Jeremy Corbyn wurde indes die Antisemitismus-Kampagne. Wie schon erwähnt, verzeichnete die Labour Party unter Corbyns Führung einen enormen Mitgliederzuwachs. Es mag sein, es ist sogar wahrscheinlich, dass unter den Neuzugängen einige waren, die sich insbesondere von Corbyns Aussagen zum israelisch-palästinensischen Konflikt angezogen fühlten oder sogar einen tatsächlichen Antisemitismus hinter Begriffen wie „Anti-Zionismus“ oder „Israelkritik“ versteckten.

Es lässt sich nicht bestreiten, dass es in der Labour Party Fälle von Antisemitismus gegeben hat (und wohl auch weiterhin gibt). Doch Einzelfälle sind noch kein strukturelles Problem. Soweit es empirische Studien zu dieser Frage gibt, belegen sie recht eindeutig, dass die Labour Party und die britische Linke generell im Hinblick auf Rassismus oder Antisemitismus geringere Auffälligkeiten zeigen als andere politische Kräfte. Selbst das „Home Affairs Committee” des britischen Unterhauses hatte in seiner 2016 entstandenen Untersuchung „Antisemitism in the UK“ bezüglich der Labour Party Entwarnung gegeben.

Doch ganz unabhängig von der Größe des Problems: Auch beim Thema Antisemitismus bestätigte sich der Verdacht vieler Beobachter, dass es den Kritikern gar nicht um den (vermeintlichen oder tatsächlichen) Antisemitismus ging, sondern um die Instrumentalisierung dieses Vorwurfs gegen Corbyn und seine Politik. Und auch hier wurde falsch gespielt.

Denn es waren nicht Corbyns Leute, sondern seine Gegner, die für die parteiinterne Bearbeitung von Beschwerden über Antisemitismus zuständig waren. Doch statt über die Eingaben zügig und kompetent zu entscheiden, verzögerten und verschleppten der zuständige Funktionär Sam Matthews und seine Mitarbeiter die Verfahren und leisteten sich eine Vielzahl von Fehlern und Irrtümern. Das taten sie mit Absicht. Sie wussten (und wollten), dass derartige Defizite am Ende Corbyn angelastet würden. Dadurch wiederum würde der allgemeine Eindruck verfestigt, Corbyn und seine Partei nähmen die Anschuldigungen auf die leichte Schulter und kümmerten sich nicht ernsthaft um sie. In der BBC-Sendung „Panorma“ gerierten sich die Übeltäter schließlich sogar als „Whistleblower“ und deckten angebliche Corbyn-Versäumnisse auf, die sie in Wirklichkeit selbst zu verantworten hatten.

Der Druck in Sachen Antisemitismus wurde ständig erhöht – und Corbyn gab ihm immer öfter nach. Im Laufe der Zeit verlor die Unterscheidung zwischen echtem Antisemitismus und legitimer Israelkritik immer mehr an Kontur (selbst wenn die Israelkritik von jüdischen Labour-Mitgliedern vorgebracht wurde). Am Ende geriet sogar Corbyn höchstpersönlich ins Fadenkreuz und unter den Verdacht, von antisemitischen oder rassistischen Ressentiments geleitet zu sein.

Die Medien hatten bei alledem zuverlässig mitgespielt. Die Zahl der Zeitungsartikel, die das Dauerthema „Labour und Antisemitismus“ zwischen 2015 und 2019 aufgriffen, geht in die Tausende. Jamie Stern-Weiner beruft sich auf eine Studie, die 5.500 Beiträge ermittelt hat.

David Graeber wiederum zitiert eine Medienauswertung, die sich offenbar nicht auf Presseartikel beschränkt und deren Zahl bei deutlich über 10.000 liegt. Labours politische Gegenspieler, die konservativen Tories, wurden von einer Berichterstattung dieser Art komplett verschont, obwohl sich gerade in dieser Partei zahlreiche antisemitische oder rassistische Anknüpfungspunkte hätten finden lassen.

Die Antisemitismus-Kampagne zeigte Wirkung: Als Meinungsforscher die Bevölkerung danach fragten, wie hoch denn wohl der Anteil der Labour-Mitglieder ist, über die es Beschwerden wegen Antisemitismus gibt, lag die durchschnittliche Schätzung bei 34 Prozent – mehr als dreihundert Mal so hoch wie der tatsächliche Wert (0,1 Prozent).

Corbyn als Opfer?

Was Corbyn in seiner fünfjährigen Amtszeit als Labour-Chef widerfuhr, ist kein Einzelfall. Andere mussten ganz ähnliche Erfahrungen machen – man denke aktuell an Bernie Sanders. Doch der Verweis auf die üblen Machenschaften seiner innerparteilichen Gegner spricht Corbyn nicht von Schuld an seinem politischen Scheitern frei. Corbyn war, wie David Hearst und Peter Oborne schreiben, ein Mann mit Fehlern, der Fehler gemacht hat. Insbesondere im Vorfeld der Parlamentswahl 2019, die ganz im Zeichen des Brexit stand, haben sich die taktischen und strategischen Fehlleistungen gehäuft und entscheidend zur schweren Niederlage Labours beigetragen.

Jedoch: In einem anderen, halbwegs normalen politischen Umfeld, also unterstützt von einer im Großen und Ganzen solidarischen Partei und begleitet von einem fairen Mediensystem, hätte Corbyn keineswegs scheitern müssen. Das Amt des Premierministers war für ihn 2017 zum Greifen nahe. Man stelle sich vor, seine innerparteilichen Widersacher hätten ihn unterstützt statt ihm zu schaden, der große Wahlsieg wäre ihm wohl nicht zu nehmen gewesen. Alle Fehler, die Corbyn zu verantworten hat, ändern nichts daran, dass sein politisches Scheitern letztlich das Werk seiner unversöhnlichen „Parteifreunde“ war. Corbyn wurde zu ihrem Opfer.

Oder ließ er sich fahrlässig zu ihrem Opfer machen? Der Volksmund weiß es seit langem: Politik ist ein schmutziges Geschäft. Da geht es vor allem um die Macht. Also darum, an die Macht zu kommen, und darum, an der Macht zu bleiben. Das funktioniert nicht mit Glacéhandschuhen. Selbst Journalisten bedienen sich in diesem Zusammenhang oft einer äußerst drastischen Sprache. Sie berichten davon, dass Politiker der Macht zuliebe Seilschaften bilden, in Hinterzimmern mauscheln, Intrigen spinnen, um Pöstchen schachern, Vettern- und Parteibuchwirtschaft betreiben, ihre Bataillone sammeln, Konkurrenten ausbooten, mit harten Bandagen kämpfen. Viele Spitzenpolitiker, heißt es, halten sich einen Mann fürs Grobe. Personalentscheidungen fallen zuweilen in einer Nacht der langen Messer. Und hinterher hat manch einer Leichen im Keller.

Ist das alles übertrieben? Sind das nur Klischees? Ist die politische Wirklichkeit nicht doch um einiges zivilisierter? Ich weiß nicht, wie Jeremy Corbyn diese Fragen (rückblickend) beantworten würde. Sicher ist, dass er die Verschwörung seiner innerparteilichen Gegner durchaus hätte unterbinden können, wenn er entschieden machiavellistisch gehandelt hätte, also: wenn er sich der gleichen Methoden bedient hätte wie sie.

Er hat es nicht getan. Und ich glaube, er hat es ganz bewusst nicht getan. Seine politischen Ideale vertragen sich nicht mit derartigen Methoden. Die Berufszyniker werden Corbyn großzügig bescheinigen, dass er ein anständiger Kerl und eine ehrliche Haut sei, gerade darum aber auch völlig untauglich fürs harte politische Geschäft – eine Fehlbesetzung eben.

Trifft das zu? Und wenn es zutrifft – woraus soll man noch politische Hoffnung schöpfen?

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