Querdenker aller Lager ignorieren Abstandsgebote
ULRICH TEUSCH, 7. August 2020, 3 KommentareIn seiner ersten Regierungserklärung (1969) versprach Bundeskanzler Willy Brandt den Deutschen, er wolle „mehr Demokratie wagen“. Jetzt, ein halbes Jahrhundert später, haben sich die Vorzeichen verändert. Im Segelsport würde man von einer „Halse“ sprechen, einer drastischen Kursänderung. Zwar hat bislang niemand die Parole „Mehr Diktatur wagen!“ ausgegeben, doch wer die Zeichen zu deuten versteht, wird sich kaum noch Illusionen machen:
Das politische Klima ist repressiv. Wir erleben den stetigen Abbau von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Liberalität. Der Druck steigt. Es wird gedroht und verboten, es wird erzwungen und gemaßregelt, es wird bestraft und sanktioniert, es wird gegängelt und schikaniert, es wird drangsaliert und denunziert, es wird bevormundet und gecancelt. Von einer intakten, einer pluralen und vitalen politischen Kultur ist dieses Land aktuell weit entfernt. Nicht einmal auf die Beachtung zivilisatorischer Minimalstandards in Gestalt des simplen politischen Anstands kann man noch vertrauen.
Die haarsträubenden Invektiven führender SPD-Politiker gegen hunderttausende Mitbürger, die am 1. August in Berlin ihre Stimme für den freiheitlichen Rechtsstaat erhoben (unter ihnen mit Sicherheit zahllose ehemalige SPD-Wähler), machen schier fassungslos. „Versöhnen statt spalten“ lautete das Motto des einstigen SPD-Bundespräsidenten Johannes Rau. Der Regierende Bürgermeister Berlins hingegen, auch er ein Sozialdemokrat, tut das genaue Gegenteil. Doch siehe da: Seine wüsten Beschimpfungen der Menschen, die in Berlin demonstrierten, bleiben für ihn gänzlich folgenlos. Auf Herrn Müllers Dienstschreibtisch stapeln sich keine Rücktrittsforderungen. Er darf einfach weitermachen. Weiter so? Weiter so!
Flucht in die Sackgasse
Dieses Land steckt (wie viele andere Länder auch) in einer schweren Krise. Sie ist nicht die Folge von „Corona“. Sie ist auch nicht die Folge der „Maßnahmen“ gegen Corona. Letztere haben nur etwas zum Durch- und Ausbruch gebracht, das sich schon länger anbahnte. Sie waren der Kübel Wasser, der das Fass überlaufen ließ. Sie waren die eine Umdrehung zu viel. Der Bogen wurde überspannt. Statt beizeiten auszurufen „mission accomplished“, also den großen Sieg über das Virus zu verkünden und zum status quo ante zurückzukehren, haben machtbesessene, wirklichkeitsfremde Politikaster (wie Rudi Dutschke sie gerne nannte) den Absprung verpasst. Nun wissen sie nicht, wie sie wieder heil aus der Nummer herauskommen sollen. Und so treten sie die aggressive Flucht nach vorn an – um am Ende in einer Sackgasse zu landen.
Hätten am 1. August, wie starrsinnig und wahrheitswidrig behauptet wird, lediglich 17 oder 20 000 demonstriert, wäre „das politische Berlin“ längst selbstzufrieden zur Tagesordnung übergegangen. Stattdessen liegen die Nerven blank und allseits fragen sich die Abgehobenen, was das denn wohl für Leute gewesen sein mögen, die da in solchen Massen aufgelaufen sind. Sie kommen nicht wirklich dahinter. Sie begreifen nicht, was und wie ihnen geschieht. Es spricht viel dafür, dass die nächste, für Ende August angekündigte Demo noch mehr Menschen mobilisieren wird. Was dann?
Bunte Republik, mitten in der Hauptstadt
In Berlin hat sich eine Bürgergesellschaft von ihrer besten und sympathischsten Seite präsentiert: arbeitende Menschen wie du und ich, Steuerzahler, Alte und Junge, Eltern und Kinder, darunter viele, die wohl zum ersten Mal demonstrierten, diszipliniert, friedlich, selbstbewusst, couragiert, eine bunte Republik mitten in der Hauptstadt. Es waren Menschen, die sich noch bis vor ein paar Monaten nicht vorstellen konnten, dass jemand ihre Grundrechte kassieren könnte. Als es dann doch geschah, brauchten sie eine Weile, bis sie ihren Schock überwunden hatten. Nun ist klar: Diese Menschen werden es nicht zulassen, dass man ihnen etwas wegnimmt. Keinesfalls. Sie sind zum politischen Handeln bereit und entschlossen.
Merkel, Söder, Spahn und Co. wollen Untertanen. Demonstriert haben in Berlin aber keine beflissenen Untertanen, sondern echte Bürger: denen die persönliche Freiheit wichtiger ist als die staatlich garantierte Sicherheit, denen die Rechte des Individuums mehr bedeuten als die des Kollektivs, die willens und in der Lage sind, ihr Leben autonom zu gestalten. Menschen, die auf den Nanny-Staat pfeifen, die ihre Ruhe vor dessen Zumutungen haben wollen und die es sich verbitten, dass sich irgendwelche „Organe“ in ihre Privatsphäre einzumischen unterstehen.
Neue Bündnisse
Mit Kategorien wie „links“ oder „rechts“ kommt man dieser Bewegung nicht bei. Grundrechte sind keine Frage von links oder rechts. In den 1980er Jahren – zu den Hochzeiten der Friedensbewegung – hieß es: Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts. Das fand von links bis rechts Zustimmung. Analog kann man heute sagen: Grundrechte sind nicht alles, aber ohne Grundrechte ist alles nichts. Menschen, die ansonsten in vielen Fragen ganz unterschiedlicher Meinung sind, können sich ohne weiteres auf solche Maximen einigen und zu gemeinsamem Handeln finden.
Es ist ein politisch aufregender und ermutigender Vorgang, dass gegenwärtig viele Menschen politische Grenzen überschreiten und sich fundamentaler Gemeinsamkeiten mit anderen Strömungen bewusst werden. Warum auch nicht? Was sollte staatskritische Konservative, Libertäre und antiautoritäre Linke daran hindern, gemeinsame Sache zu machen, für ein gemeinsames Ziel zu streiten? Was sollte sie hindern, die politischen Abstandsgebote zu ignorieren? Vor einigen Wochen habe ich an dieser Stelle über die Entstehung einer „Kreuz- und Querfront“ geschrieben. Jetzt ist sie da. Ja, in Berlin ist eine wahrhaftige Kreuz- und Querfront aufgelaufen – und den etablierten Mächten wird angst und bange.
Gewinne und Verluste
In den vergangenen Monaten hat man die Stimmen der Vernunft häufig und erfreulicherweise dort gefunden, wo man sie nicht unbedingt vermutet hätte. Es gab aber auch Verluste zu beklagen: Zeitgenossen, von denen man annehmen durfte, dass man sich im Ernstfall fest auf sie verlassen könne, sorgten für unangenehme Überraschungen. So zum Beispiel in dieser Woche der hoch geschätzte Günter Wallraff. In einer ARD-Talkshow redete er sich mit Blick auf die Berliner Demo und die Corona-„Maßnahmen“ um Kopf und Kragen und brach sogar eine Lanze für den CSU-Ministerpräsidenten Söder.
Ganz anders der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Arnold Vaatz. Er redete sich nicht um Kopf und Kragen, sondern riskierte dieselben. Im Magazin „Tichys Einblick“ (wirtschaftsliberal, wertkonservativ) stellte er unerhörte Betrachtungen und Vergleiche an. Seine „Kernfrage“ lautet, warum bei gleicher Gefahrenlage die Black Lives Matter-Demonstration gegen Rassismus (im Juni) allgemein gelobt und toleriert, die Demonstration vom 1. August dagegen allgemein verflucht wurde. Im weiteren Verlauf seines Beitrags schlägt Vaatz, der aus der DDR stammt und in der dortigen Bürgerrechtsbewegung aktiv war, geradezu blasphemische Töne an. Zum Beispiel so:
„Los ging es mit Einführung der Maskenpflicht, nachdem es lange hieß, Masken nützten nichts – so lange es keine zu kaufen gab. In der DDR streute die Partei: Bananen seien gar nicht so gesund.“
Und dann:
„Von Monat zu Monat lernt man mehr von der DDR. Die dreiste Kleinrechnung der Teilnehmerzahlen der Demo vom 1. August durch die Berliner Polizei entspricht in etwa dem Geschwätz von der ‚Zusammenrottung einiger weniger Rowdys‘, mit der die DDR-Medien anfangs die Demonstrationen im Herbst 1989 kleinrechneten. Der gefährlichere Versuch, die Straßen leerzukriegen, war damals die Unterstellung, die Demonstranten handelten im Auftrag von CIA und BND. Der heutige Versuch, die Straßen leerzubekommen, besteht in der Warnung: Pass auf, mit wem du demonstrierst. Das ist die Drohung, als Nazi diffamiert und damit gesellschaftlich ruiniert zu werden, sobald man bei einer Demonstration angetroffen wird, in der eine Person, die man weder gekannt noch überhaupt im Gewühl gesehen haben muss, ein ‚bei Rechten beliebtes‘ Kleidungsstück trägt. Bei Nazis war es Sippenhaft, im Deutschland von heute ist es Kollektivhaft.“
Kein Zweifel: Vaatz war sich bewusst, dass dies ein Stich ins Wespennest sein würde. Er hat ihn dennoch gesetzt. Das verdient Respekt. Medien und Politikerkollegen (insonderheit solche von der SPD) zeigen sich pflichtgemäß empört über so viel Dissidenz. Vaatz‘ weiterer politischen Karriere wird seine Intervention gewiss nicht förderlich sein. Aber er wird Nachahmer finden. Und die Kreuz- und Querfront wird wachsen.
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