„False balance“: Evangelische Medien widerrufen ketzerische Thesen zu Impfschäden
STEFAN KORINTH, 20. Oktober 2023, 9 Kommentare, PDFDer epd ist nach der Deutschen Presse Agentur (dpa) eine der wichtigsten Nachrichtenagenturen Deutschlands. Nahezu alle etablierten Medien bundesweit – von Tageszeitungen über Online-Magazine bis hin zu Fernseh- und Radiosendern – übernehmen regelmäßig Meldungen der evangelischen Agentur. Diese bedient bei weitem nicht nur kirchliche oder religiöse Themen – sondern berichtet mit dem Anspruch einer klassischen Nachrichtenagentur auch über zahlreiche andere Gesellschaftsfelder. Der epd ist die älteste bestehende Nachrichtenagentur in Deutschland und gehört zum EKD-finanzierten Medienunternehmen Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik.
Ein äußerst ungewöhnlicher Vorgang ereignete sich beim epd Ende September. Eine bereits seit Tagen veröffentlichte Meldung des Fachdienstes „epd sozial“ zum möglichen Zusammenhang von Krebserkrankungen und mRNA-Injektionen („Corona-Impfungen“) wurde zurückgezogen und ersatzlos gestrichen. Der Beitrag der erfahrenen Journalistin und langjährigen epd-Autorin Pat Christ (hier eine archivierte Version) ließ praktizierende Ärzte und Chemieprofessoren zu Wort kommen, die die These eines Zusammenhanges zwischen den massenhaften mRNA-Injektionen seit 2021 und dem starken Anstieg schnell wachsender Krebserkrankungen („Turbokrebs“) stützten.
Der Münchner Immunologe Peter Schleicher betreue in seiner Arztpraxis derzeit 30 Patienten mit „unglaublich schnell“ wachsendem Krebs, der bei allen 30 Patienten im ersten Vierteljahr nach ihrer letzten Corona-Impfung diagnostiziert worden sei, heißt es im epd-Artikel. Die mRNA-Präparate könnten das Immunsystem derart beeinträchtigen, dass krankhafte Zellen im Körper nicht mehr effektiv bekämpft würden und „Tumore in Windeseile wachsen“, erläutert Schleicher.
Die Berliner Krebsepidemiologin Ute Krüger wird mit demselben Verdacht ebenfalls im epd-Beitrag zitiert. Auch die Chemie-Professoren Andreas Schnepf von der Uni Tübingen und Martin Winkler von der Zürcher Hochschule der angewandten Wissenschaften, die eine Studie zu den Inhaltsstoffen der Präparate planen, kommen im ursprünglichen Artikel von Pat Christ zu Wort.
Neben diesen Personen werden im Originaltext aber auch Gegenstimmen erwähnt. Caroline Mohr, Pressereferentin des Bundesverbands „Frauenselbsthilfe Krebs“ in Bonn, erscheine der Zusammenhang zwischen den mRNA-Injektionen und den sprunghaft angestiegenen Krebserkrankungen „nicht plausibel“, heißt es dort. Zudem wird eine Stellungnahme des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) zitiert, es habe keine Hinweise, dass die Covid-19-Impfstoffe das menschliche Erbgut veränderten.
Handwerklich einwandfreie Meldung
Der veröffentlichte epd-Bericht besteht aus elf kurzen Absätzen, ist umfassend recherchiert, mit überdurchschnittlich vielen Quellen (für diese Textlänge) ausgestattet, wertfrei und sprachneutral. Der Beitrag durchlief beim epd den etablierten Redaktionsprozess. Er wurde also im Vorfeld als Themenvorschlag in einer Redaktionskonferenz angenommen und nach Fertigstellung durch die Autorin von mindestens einem epd-Redakteur überprüft, überarbeitet und freigeschaltet. Freie Mitarbeiter, wie die Autorin des Artikels, können beim epd keine Beiträge selbstständig veröffentlichen.
Die Rücknahme von Berichten durch Nachrichtenagenturen ist ein seltener Vorgang, sagt epd-Chefredakteur Karsten Frerichs auf Multipolar-Anfrage. Ihm zufolge verbreite der epd rund 17.000 Textbeiträge pro Jahr. 2023 seien bislang vier Meldungen zurückgezogen worden (0,02 Prozent). Angesichts von Relevanz, Aufwand und Ausgewogenheit des Artikels erscheint die Rücknahme umso ungewöhnlicher. Warum fiel diese Entscheidung?
„False balance“
Der zuständige epd-Redakteur und die Autorin des Artikels wollen sich öffentlich nicht zum Vorgang äußern. Anders jedoch der Chefredakteur: Der Beitrag sei zurückgezogen worden, „weil er nicht unseren eigenen journalistischen Standards entsprach“, erklärt Frerichs.
„Nach der Veröffentlichung erreichten uns mit einigen Tagen zeitlicher Verzögerung mehrere Anfragen zu der Berichterstattung, teils direkt, teils über unsere Kunden. Das hat uns veranlasst, den Beitrag noch einmal eingehender zu prüfen. Dabei sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass an einigen Forschungsergebnissen, auf die Bezug genommen wird, sowie an der Expertise einiger der befragten Personen berechtigte Zweifel bestehen, die sich nicht ausräumen ließen.“
Der Beitrag enthalte eine „false balance“ (falsche Ausgewogenheit), die vor Veröffentlichung nicht bemerkt worden sei, erklärt Frerichs weiter. Mit „false balance“ meine er eine „mediale Verzerrung“, die Positionen gleichwertig darstelle, die nicht gleichwertig seien, erläutert der Chefredakteur auf Multipolar-Nachfrage. „Wissenschaftlich erwiesene Fakten oder hohe Wahrscheinlichkeiten werden gleichgewichtet mit Annahmen, Vermutungen, Mutmaßungen und Meinungen.“ Genau dies sei im zurückgezogenen Beitrag geschehen und widerspreche journalistischen Standards, meint Frerichs. Im Journalismus gehe es darum, Erkenntnisse zu gewinnen und sich der Wirklichkeit anzunähern.
Mediale Verzerrungen
Diese Erklärung verwundert, denn dem Artikel von Pat Christ geht es offensichtlich darum, Erkenntnisse über die Gefährlichkeit der genetischen Präparate zu gewinnen und sich der Wirklichkeit schwerer Impfschäden anzunähern. Die Journalistin stellt nicht unbegründete Laienmeinungen gegen gesichertes Fachwissen, sondern sie stellt widerstreitende Expertenpositionen zu einer unklaren Sach- und Forschungslage nebeneinander – diese Positionen persönlich zu bewerten, ist letztlich Sache der Leser. Journalisten besitzen in der Regel nicht die notwendige Qualifikation, um zu entscheiden, welche Fachleute in Fachdiskussionen näher an der Wahrheit liegen.
Unabhängig vom Thema Impfschäden bringt das Konzept der „false balance“ gerade im Nachrichtengeschäft gleich mehrere schwerwiegende Probleme mit sich. Denkt man das Konzept zu Ende, läuft es darauf hinaus, andere Sichtweisen, Meinungen oder Thesen gar nicht mehr zu erwähnen. Ein normaler Erkenntnisprozesses ist unter solchen Bedingungen kaum noch möglich. Es handelt sich praktisch um Zensur. So wurde auch der Artikel von Pat Christ nicht ergänzt, denn er enthielt ja bereits die Gegenposition, sondern er wurde gelöscht.
Darüber hinaus klingt Frerichs Verständnis von Journalismus wie ein wissenschaftlicher Anspruch. Journalismus funktioniert allerdings ganz anders als Wissenschaft. Medien informieren ihr Publikum über Ereignisse oder Sachverhalte, wenn diese Vorgänge bestimmte Nachrichtenfaktoren wie Relevanz, Nähe, Neuigkeit usw. erfüllen. Ob die Vermeldung dieser Tatsachen im richtigen Verhältnis zu anderen Ereignissen steht, ist für Medien in der Regel irrelevant. Angehende Journalisten hören in ihrer Ausbildung Lehrsätze wie:
„‚Hund beißt Briefträger’ ist keine Nachricht. ‚Briefträger beißt Hund‘ ist eine Nachricht.“
Nachrichten ziehen immer das Besondere dem Alltäglichen vor und bilden dadurch die Wirklichkeit nicht repräsentativ ab. Ein Beispiel: Nach der „false balance“-Logik dürften Medien über keinen Verkehrsunfall oder Flugzeugabsturz mehr berichten, da diese nicht die Regel sondern die Ausnahme im Straßen- und Flugverkehr darstellen. Eine mediale Bevorzugung von Unfällen wäre dementsprechend absolut „irreführend“ und würde die Mediennutzer „verunsichern“. In der Medienrealität ist es jedoch genau umgekehrt: Die wenigen Unfälle werden berichtet, der alltägliche unfallfreie Verkehr ist keine Erwähnung wert. Eine „mediale Verzerrung“ par excellence.
Vorwand für Zensur
Das Konzept „false balance“ stammt aus US-amerikanischen Medien- und Wissenschaftsdiskursen etwa zum Klimawandel und wurde wie so viele andere dortige Interpretationsmuster von deutschen Politaktivisten und Leitmedien unkritisch importiert. Kurz zusammengefasst heißt „false balance“, dass Minderheitenmeinungen gleichberechtigt neben behaupteten „wissenschaftlichen Mehrheits- oder Konsensmeinungen“ dargestellt werden. Dies sei für Mediennutzer schlecht. Die falsche Ausgewogenheit sei ein Effekt, der auf das journalistische Bemühen um die gleichberechtigte Darstellung verschiedener Positionen zurückzuführen sei.
Hierbei fällt zweierlei auf. Erstens: Der journalistische Standard, auch die Gegenposition zu Wort kommen zu lassen, wird durch das Konzept „False Balance“ als etwas Negatives dargestellt. Es handelt sich daher um ein illiberales Konzept, das einen Vorwand für Zensur liefert und deshalb gerade von Journalisten abgelehnt werden müsste. Zweitens: Die Erfinder und Verteidiger des Konzepts argumentieren nicht wissenschaftlich, sondern eindeutig politisch. Meinungen, Mehrheiten und Konsens sind politische Begriffe. Wissenschaftlichem Arbeiten sind solche Vorgehensweisen wesensfremd. Wissenschaftliche Erkenntnis entsteht aus einem Forschungsprozess, der nach spezifischen Regeln abläuft, und nicht durch Verabredungen oder Umfragen unter Akademikern.
„Wissenschaftliche Fragen werden nicht wie in der Politik per Mehrheitsentscheid geklärt, sondern über das rigorose Prüfen von theoretischen Argumenten und empirischen Ergebnissen“, heißt es denn auch in einem kritischen Artikel der Schweizer Medienwoche zum Thema „false balance“. Nicht Konsens, sondern Dissens gehört zum wissenschaftlichen Kerngeschäft.
Einfluss von außen? Ja. Und von oben?
Dass die vermeintliche falsche Ausgewogenheit der epd-Chefetage im zurückgezogenen Artikel erst nach einigen Tagen aufgefallen ist, lag an negativen Reaktionen durch Kunden – also durch Redakteure anderer Medien –, räumt Frerichs ein. Eine Einflussnahme von hohen Kirchenverantwortlichen bestreitet er hingegen. Die Entscheidung zur Löschung sei rein redaktionell getroffen worden, betont der epd-Chefredakteur. „Die Verantwortung für die Entscheidung trage ich.“
Naheliegend ist jedoch, dass die große Brisanz des Themas Impfschäden zu internen Reibereien mit den Leitern regionaler epd-Redaktionen und zu Rückrufaufforderungen durch Führungsfiguren der EKD geführt hat. Eine epd-interne Quelle hat gegenüber Multipolar eine Einflussnahme durch das EKD-Ratsmitglied Andreas Barner, einen langjährigen Pharma-Manager und Industrielobbyisten, nahegelegt.
Barner, der von 2009 bis 2016 Chef des Pharmaunternehmens Boehringer Ingelheim war und nun in dessen Gesellschafter-Ausschuss sitzt, ist in dieser Hinsicht bereits auffällig geworden. Im Dezember 2021 kritisierte er Springer-Chef Mathias Döpfner dafür, dass die Bild-Zeitung ein regierungsnahes Physiker-Trio als „Lockdown-Macher“ bezeichnet hatte. Der besagte Bild-Artikel sei „nicht akzeptabel“, denn er „gefährde“ die Wissenschaftler, behauptete Barner ohne konkrete Anhaltspunkte für eine Gefährdung zu nennen. Auch das Argument der falschen Ausgewogenheit brachte Barner im entsprechenden Interview vor:
„Das Ziel der Ausgeglichenheit in der Berichterstattung hat dazu geführt, dass Medien Minderheitspositionen absolut unverhältnismäßig mehr Platz eingeräumt haben als seriösen Forschern neben Hendrik Streeck oder Christian Drosten. Die Absicht war gut und fair, das Ergebnis schlecht: So erhielten Positionen viel Raum, die wissenschaftlicher Qualitätskontrolle nicht standhalten.“
Welche Minderheitenpositionen in der Corona-Krise derart viel Platz erhalten haben sollen, dass sie angeblich sogar die Medienpräsenz Christian Drostens aus dem Feld schlugen, erläuterte Barner nicht.
Der Mathematiker und Arzt hat zahlreiche Ämter inne, so ist er etwa Aufsichtsratsvorsitzender der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 2015 wurde er zum Mitglied im Rat der EKD gewählt. Bis 2007 war er außerdem Vorstandsvorsitzender des deutschen Verbandes Forschender Arzneimittelhersteller (VFA). „Andreas Barner, Chef von Boehringer Ingelheim, will Gott und der Pharmaindustrie dienen“, schrieb die Wirtschaftswoche im Jahr 2015 über ihn. Hat er seinen innerkirchlichen Einfluss genutzt, um den epd-Bericht löschen zu lassen? EKD-Sprecher Bernd Tiggemann dementiert gegenüber Multipolar:
„Die Rücknahme des epd-Artikels war auf EKD-Ebene kein Thema. Herr Barner hat in keinster Weise interveniert. Der Beitrag ist unserer Kenntnis nach allein aus journalistischen Gründen depubliziert worden.“
Nach Löschung hagelt es Leserbeschwerden
Ein weiteres protestantisches Medium, das in den Vorgang involviert war, ist das norddeutsche Regionalblatt „Evangelische Zeitung“ (EZ). Die EZ hatte den ursprünglichen epd-Beitrag am 21. September online veröffentlicht und acht Tage später ebenfalls gelöscht. Anstelle des Artikels findet sich online nun eine Erklärung, in der es heißt:
„Die Redaktion hatte sich bereits distanziert von dem Text und dem mehrfach verwendeten Begriff ‚Turbokrebs‘, der durch sogenannte ‚Querdenker‘ bekannt geworden ist. Wir hatten auch auf einen Faktencheck des Robert-Koch-Instituts (RKI) verwiesen, in dem es heißt: ‚Das Ansprechen solcher Ängste ist eine gezielte Strategie von Impfgegnern, die immer wieder genutzt wird. Sie versuchen mit erfundenen Begriffen wie ‚Turbokrebs’ eine Assoziation zwischen Impfungen und Krebs herzustellen.‘“
Die realen Fälle, von denen die im epd-Bericht zitierten Ärzte berichten, werden von den medizinischen Laien in der EZ-Redaktion als „Ängste“ und „erfundene Begriffe“ abgetan. Kein Wort dazu, dass es sich bei den mRNA-Injektionen nicht um herkömmliche Impfungen, sondern um neuartige genetische Präparate handelt – schon allein deshalb sollte es Journalisten angeraten sein, sich in der Bewertung unerwarteter Impfschäden etwas vorsichtiger zu äußern.
Ketzerische Thesen widerrufen
Der Geschäftsführer Matthias Gülzow sah sich am 4. Oktober zusätzlich gezwungen, mit einem „einordnenden“ Kommentar auf die massive Leserkritik infolge der Löschung zu reagieren. „Seitdem hagelt es freundlich-belehrende, weniger freundliche und beleidigende Nachrichten.“
Auch er behauptet, die Gegenposition sei „nicht ausgewogen dargestellt“ gewesen und dass dies der Redaktion erst Tage später aufgefallen sei. Jedoch habe niemand die Redaktion gezwungen, die epd-Meldung zu löschen. Zudem fokussiert er auf den Begriff „Turbokrebs“, der laut Gülzow einen Zusammenhang zwischen schnell wachsendem Krebs und „Corona-Impfungen“ herstelle. Diese Verknüpfung ist jedoch nicht ersichtlich, da der Begriff in der epd-Meldung lediglich sehr schnell metastasierenden Krebs bezeichnet, der Menschen in wenigen Wochen oder Monaten tötet.
„Sollten wir über die Ärzt:innen berichten, die einen Zusammenhang zwischen der Impfung und Krebs befürchten? Natürlich! Und natürlich müssen wir diese Information dann einordnen“, heißt es in Gülzows Kommentar. Diese nachvollziehbare Position konterkariert die EZ-Redaktion allerdings selbst, da sie die Meldung gelöscht hat. So kommt es zu der merkwürdigen Situation, dass es zwei erläuternde Einordnungen zu einem Artikel gibt, den die Leser gar nicht mehr vorfinden – eine mediale Verzerrung ganz eigener Art.
Diskussion
9 Kommentare