Falsche Leitsterne
PAUL SCHREYER, 14. September 2020, 3 KommentareHinweis: Dieser Beitrag ist auch als Podcast verfügbar.
I.
An einem milden Frühlingsabend im April 2020, während des Kontaktverbots und kurz vor Einführung der Maskenpflicht, standen meine Frau und ich im Garten und gossen das Gemüsebeet. Wir waren spät nach Hause gekommen, die Sonne war längst untergegangen, und so leuchtete ich mit der Taschenlampe auf die zierlichen Pflänzchen, während meine Frau die Gießkanne schwenkte. Neben dem leisen Geräusch des sprenkelnden Wassers und einem fernen Vogelruf breitete sich Stille aus. Frieden lag in der Luft.
Als wir fertig waren, schauten wir für einen Moment zum sternenklaren Himmel hinauf. Meine Frau bemerkte es zuerst: „Schau mal, da bewegt sich was.“ Tatsächlich zog ein kleiner Lichtpunkt langsam über den Himmel – da er nicht blinkte, offenbar kein Flugzeug. Vielleicht ein Satellit? Doch das schien unwahrscheinlich, denn nun sahen wir, wie ein weiterer Lichtpunkt erschien, der dem ersten folgte. Schon tauchte ein dritter auf, dann ein vierter, ein fünfter – alle im gleichen Abstand, mit gleicher Richtung und Geschwindigkeit auf derselben Bahn. Mehrere Dutzend sich gleichmäßig bewegende „Sterne“ zogen wie auf einer Perlenschnur langsam über den tiefdunklen Himmel.
Das stille Spektakel währte fast eine halbe Stunde. Fasziniert starrten wir nach oben. Wurden wir gerade Zeugen einer durchreisenden „Ufo-Kolonne“? Aufmerksam verfolgten wir den Zug der Lichter, ohne uns einen Reim darauf machen zu können – ein seltsames Gefühl.
Zurück im Haus taten wir das heutzutage übliche: Wir schauten ins Internet. Und rasch folgte die Ernüchterung: Keine Ufos, keine Rätsel, kein Mysterium – stattdessen hatten wir lediglich einen Teil der riesigen Satellitenflotte „Starlink“ des amerikanischen Milliardärs Elon Musk über den Nachthimmel ziehen sehen.
Musk, der Chef des Elektroauto-Herstellers Tesla, verwendet, so erfuhren wir, einen Großteil seines Vermögens auf Raumfahrtpläne, insbesondere die Herstellung von Raketen, mit denen Lasten ins Weltall befördert werden können. Eines seiner Ziele ist die Besiedlung des Mars. Seiner Ansicht nach besteht der nächste evolutionäre Schritt darin, das menschliche Leben „multi-planetarisch“ zu machen. Im Mai 2019 hatte er, im Rahmen eines anderen Projekts, damit begonnen, Satelliten in die Erdumlaufbahn zu schießen, um mit seiner Firma SpaceX eine globale Breitband-Internetversorgung anbieten zu können. Laut eigener Aussage sollten die Satelliten überall auf der Welt „den voraussichtlich wachsenden Bedarf der Nutzer decken“. Es ging um einen Milliardenmarkt. Google hatte sich bereits in der Frühphase der Pläne mit einem großen Investment einen Anteil an SpaceX gesichert. Musk plante, insgesamt 40.000 (!) Satelliten die Erde umkreisen zu lassen. Im Frühjahr 2020 waren 400 davon bereits im All. Einige davon hatten wir gesehen.
Als ich davon las, mischte sich Erstaunen mit Ärger: Was maßte sich dieser Mensch an, den ewig stillen Sternenhimmel mit moderner Hightech vollzustopfen, die sich zudem in absehbarer Zeit in nutzlosen Elektroschrott verwandeln würde? Astronomen warnten bereits, dass ihre Wissenschaft durch die Pläne des Milliardärs in ernsthafte Gefahr gerate, da die zahllosen sich bewegenden Lichtpunkte die Beobachtungen von Himmelskörpern und fernen Galaxien zum Teil unmöglich machten.
Doch Musk, eng verbunden mit der US-Regierung, in deren Auftrag er auch geheime Spionagesatelliten ins All befördert, hielt offenbar nichts auf. Die Weltkugel selbst wurde zu seiner Spielmasse, umsponnen von einem Netz aus Zehntausenden fliegenden Apparaten. Die Pläne wirkten maßlos und beunruhigend. Ihre Umsetzung aber vollzog sich vollkommen ruhig und weitgehend widerstandslos. Am Ende, soviel stand fest, würde der Himmel nie wieder derselbe sein.
II.
Warum, so mag der Leser fragen, beginnt ein Buch über die Corona-Krise ausgerechnet mit Elon Musk und seinen Weltraumplänen? Was haben das Virus, der weltweite politische Ausnahmezustand sowie die Debatte um Grundrechte und Impfstoffe mit dem privaten Satellitenprogramm eines Milliardärs zu tun?
Auf den ersten Blick wenig. Dennoch scheint es, als wären beide Entwicklungen Ausdruck eines tiefer liegenden Trends. Gesellschaftssteuernde Maßnahmen und Technologien werden zunehmend weltumspannend und zentral koordiniert wirksam. Einflussreiche Privatleute entwerfen Pläne für die ganze Welt, die in wachsendem Umfang auch global umgesetzt werden. Das Heil liegt dabei oft in menschenfernen, leblosen und automatisierten Prozessen, die Hilfe und Annehmlichkeit versprechen, zugleich aber zentrale Herrschaft und Kontrolle ermöglichen – sowie außerordentlichen Profit. Am Ende dieser Entwicklung steht eine große Vereinheitlichung. Spezielle Technologien und Programme, vorangetrieben von einigen Oligarchen, sollen für alle Menschen auf der Welt bindend werden – ohne jede demokratische Debatte.
Das Problem reicht weit über die aktuelle Krise hinaus. Eine Art Autopilot scheint vieles zu steuern, ob in der Politik, der Wirtschaft oder auch im Denken ganz allgemein. Die Verantwortung für Entscheidungen verliert sich immer öfter im Nebel internationaler Organisationen oder wird gleich ganz auf Algorithmen übertragen und damit von individuellen, persönlichen Erwägungen losgelöst.
Die populäre Annahme, einige Superreiche würden sich zu neuen Weltherrschern machen, ist naheliegend, erklärt die Situation aber nur unzureichend. Es scheint, als wären auch diese Einflussreichen geblendet von einer Ideologie, die sich immer mehr verselbstständigt. Es ist, als ob der Prozess des Nachdenkens selbst, das individuelle Abwägen, Zweifeln und Hinterfragen, zunehmend verlöscht und einem Vertrauen in automatisierte Effizienz Platz macht.
Menschen, ihrer Natur nach eigentlich freie, selbstbestimmte und lebendige Wesen, erleben im Zuge dieses Trends eine Degradierung, eine Abwertung. Sie werden zu austauschbaren Objekten, intensiv durchleuchteten „Datenpunkten“ in einem Informationsnetz, das sich ihrer Kontrolle entzieht. In dieses sich gerade perfektionierende System passen Menschen immer dort am besten hinein, wo sie selbst ebenso berechenbar und störungsfrei wie Maschinen agieren.
Der russische Philosoph Nikolai Berdjajew schrieb über die Folgen des Siegeszuges der Technik schon in den 1940er-Jahren, lange vor dem heutigen Computerzeitalter:
„Die Macht der Technik hat eine für den Menschen sehr schwierige Konsequenz, welcher seine Seele nicht genügend angepasst ist. Es findet eine ungeheure Beschleunigung der Zeit statt, eine Geschwindigkeit, welche der Mensch nicht erjagen kann. Vom Menschen wird eine unglaubliche Aktivität verlangt, die ihn nicht zu sich kommen lässt. Aber diese aktiven Minuten machen den Menschen passiv. Er wird zum Mittel außerhalb des menschlichen Prozesses, er ist bloß eine Funktion des Produktionsprozesses. Die Aktivität des menschlichen Geistes erweist sich als geschwächt. Der Mensch wird utilitaristisch bewertet, nach seiner Produktivität. Das ist eine Entäußerung der menschlichen Natur und eine Zerstörung des Menschen.“ (1)
Wo man auch hinschaut, egal auf welchen Beruf oder welche Branche: Alles und jeder soll so schnell und effizient wie nur möglich arbeiten und sich dabei passgenau in vorgefertigte Muster einfügen – ganz wie ein willenloser Roboter. Es geht einzig ums Funktionieren. Die Frage, für wen und wozu, gerät dabei aus dem Blickfeld.
Der Autor Hauke Ritz sieht in dieser Entwicklung einen Zivilisationsbruch, da der Mensch erstmals seit Jahrhunderten nicht mehr als freies und individuell einzigartiges Wesen betrachtet werde:
„Letztendlich waren sowohl das christliche Mittelalter als auch die humanistische Moderne darin einander verbunden, dass sie jeden Menschen als einzigartig ansahen. Dem Menschen wurde infolgedessen Verantwortungs- und Schuldfähigkeit zugesprochen. Dieses Menschenbild wurde in der Neuzeit zunehmend politisch ausgedeutet und so zur Grundlage aller politischen und gesellschaftlichen Utopien, die Europa von der Französischen Revolution bis zum Ende des Kalten Krieges prägen sollten. (…)
Der heutigen von Algorithmen gesteuerten Datenüberwachung liegt dagegen ein gänzlich anderes Bild vom Menschen sowie ein gänzlich anderes Verhältnis zu seiner Geschichte zugrunde. Nämlich eines, welches den einzelnen Menschen nur noch als Gattungsexemplar ansieht, dessen Kaufverhalten, dessen Vorlieben und sogar geistige Entwicklung prinzipiell durch millionenfachen Vergleich prognostiziert werden kann. (…) Menschliche Freiheit, im bisher verstandenen Sinne, ist unter diesen Bedingungen im Grunde genommen nicht mehr möglich.“
Und nicht nur die Freiheit schwindet, sondern, in eigentümlicher Konsequenz, auch der Verstand selbst. Je weiter der technologische Fortschritt voranschreitet, desto mehr scheint der freie, unabhängige und souveräne Geist auf dem Rückzug zu sein. Getroffene Entscheidungen, ob nun in der Politik, der Wirtschaft oder der Verwaltung, erscheinen immer öfter dumm, instinktlos und kurzsichtig. Doch warum ist das so? Weshalb haben sich Menschen darauf eingelassen, wie Maschinen ohne eigene Persönlichkeit zu handeln – und selbst so behandelt zu werden? Welches Virus hat hier die Gesellschaft infiziert?
III.
Vorerst geht es ums Impfen. Im April 2020, mitten im Corona-Ausnahmezustand, verkündete der Microsoft-Gründer Bill Gates, einer der reichsten Menschen der Welt, im Interview mit den ARD-Tagesthemen:
„Wir werden den zu entwickelnden Impfstoff letztendlich sieben Milliarden Menschen verabreichen. (…) Langfristig wird die Produktion so hochgefahren, dass alle Menschen auf unserem Planeten damit geimpft werden können.“
Die erste Frage, die man zu dieser unglaublichen Aussage stellen könnte, wäre: Wer ist „wir“? Gates agiert legitimatorisch in einem luftleeren Raum. Niemand hat ihn gewählt oder anderweitig demokratisch ermächtigt. Alles, was er vorzuweisen hat, sind die Milliarden, mit denen er die Weltgesundheitsorganisation WHO und diverse andere Gesundheitsinstitutionen unterstützt. Er selbst sieht sich als uneigennützigen Gönner, agiert aber wie der Sprecher einer – nicht gewählten – Weltregierung.
Die zweite Frage zu Gates' Ankündigung ist die nach der Notwendigkeit oder auch nur Angemessenheit der von ihm präsentierten Lösung. Einer der erstaunlichsten Aspekte der Corona-Krise ist die Geschwindigkeit, mit der sich Regierungen in aller Welt darauf verständigten, dass eine globale Impfkampagne die einzig vernünftige Antwort auf das neu entdeckte Virus sei. Diese Schlussfolgerung ist alles andere als zwingend. Warum etwa wurde stattdessen nicht eine globale Kampagne zur Stärkung des Immunsystems gestartet? Schließlich ist das Virus, so wie auch andere Krankheitserreger, in der Regel nur für Menschen mit außergewöhnlich schwachem Immunsystem tödlich: sehr Alte, schwer Kranke, schlecht und einseitig Ernährte, Gestresste.
Warum also wird mit aller Gewalt eine Impfung propagiert, die grundsätzlich nichts an den schwachen Abwehrkräften der Risikogruppe ändert? Zumal diese Schwäche auch ein Einfallstor für zahlreiche andere Viren und Krankheitserreger ist, weshalb es ganz unabhängig von einem einzelnen Virus sehr dringlich wäre, genau dort anzusetzen – etwa mit einem radikalen Abbau von Stress und Arbeitsdruck, einer von Lobbyinteressen befreiten Aufklärung über gesunde Ernährung und, ganz allgemein, mit einem großen gesellschaftlichen Programm für mehr Entspannung, Freude und Mitmenschlichkeit. All dies zusammengenommen würde die Abwehrkräfte in der Bevölkerung erheblich stärken und die Todeszahlen bei einer Epidemie massiv senken. Warum also wird statt dieses breiten, eigentlich naheliegenden Ansatzes vor allem auf eine kontroverse, riskante und hochspezialisierte technische Lösung gesetzt, die diese grundlegenden Probleme ignoriert, mit der einige Unternehmen aber sehr viel Geld verdienen können?
Diese Frage berührt einen wunden Punkt der modernen Medizin, die sich schon lange zum Teil einer Industrie hat machen lassen, die weniger durch Empathie und Mitmenschlichkeit bestimmt wird, als durch einen rücksichtslosen Kampf um Marktanteile. (2) Es ist zwar banal, aber man sollte dennoch immer wieder daran erinnern: Krankheiten schaffen Absatzmärkte für Medikamente und Behandlungsmethoden – je teurer, desto besser, je mehr Patienten, desto mehr Gewinn. Eine gesunde Gesellschaft kann per Definition nicht im Interesse dieser Industrie liegen.
Dieser Zusammenhang ist eines der großen Tabus unserer Zeit. Denn wenn die private Pharma-, Krankenhaus-, Medizintechnik- und „Gesundheitsmanagement“-Branche für steigende Aktienkurse zwingend darauf angewiesen ist, dass immer mehr Menschen immer länger krank sind – und genau das ist, objektiv betrachtet, leider der Fall –, wie kann eine Gesellschaft dann zulassen, dass diese Branche in der Hand profitorientierter Investoren ist, ohne sich selbst nachhaltig zu schädigen? Mehr noch: Wie kann sie hoffen, diese Industrie wäre ein ehrlicher „Partner“ bei der Vorbeugung von Krankheiten?
IV.
Wir leben in einer Zeit der Technologiegläubigkeit. Alle großen Probleme sollen technisch lösbar sein. Von Konzernen lancierte Produkte und Verfahren bieten Glücks- und Heilsversprechen, die früher den Religionen vorbehalten waren. Diese Entwicklung ist nicht neu, sie vollzieht sich seit mehr als 100 Jahren überall auf der Welt. Ursprüngliche menschliche Instinkte und überlieferte Erfahrungen aus vergangenen Generationen gelten wenig im Vergleich zu technologischen Innovationen und allem, was sich irgendwie maschinell herstellen und eindeutig vermessen lässt. Man verlässt sich auf „die Zahlen“ und kaum noch auf Intuition – der man misstraut, da sie sich eben nicht messen lässt.
Unter den Chefingenieuren im Silicon Valley, rund um Google, Apple und Microsoft hat sich eine Ideologie verbreitet, die dieses Denken zu beängstigender Perfektion führt. Dort „definieren Techniker, wie die Welt zu sein hat“ (FAZ). Alles, was nur irgendwie digital erfassbar ist, wird vermessen, ausgewertet und in Algorithmen umgeformt. Künstliche Intelligenz gilt als Verheißung, man strebt eine technische Perfektionierung des Menschen an („Transhumanismus“), einige Wirtschaftsführer träumen gar von Unsterblichkeit per „Upload“ von menschlichem Geist auf Maschinenkörper. (3) Dafür bedarf es einer Schnittstelle, an der auch bereits intensiv gearbeitet wird, unter anderem von Zauberlehrling Elon Musk, der dazu 2016 eine eigene Firma namens Neuralink gegründet hat. In der Presse hieß es darüber:
„Die Vision ist, dass es in ferner Zukunft möglich sein soll, Fähigkeiten über den Chip aus einem Appstore ins Gehirn zu übertragen, etwa die Bewegungen aus dem Kampfsport oder eine neue Fremdsprache. Neuralink will so Menschen mit künstlicher Intelligenz (KI) verbinden. Musk befürchtet, dass KI den Menschen überflügeln wird. Das soll verhindert werden, indem der Mensch über das BCI (Brain-Machine-Interface) mit KI verbunden wird.“
Die tiefer liegende Motivation für diese Forschung ist also, so scheint es, auch Angst vor den „Zauberkräften“, mit denen man da hantiert. Der Autor Philipp von Becker erläutert:
„Der Transhumanismus steht in der Tradition der großen Utopien der frühen Neuzeit (…), in denen die Zukunft des Menschen im Geist des wissenschaftlichen Fortschrittsglaubens als zurückerobertes Paradies ausgemalt wurde. Im weiteren Verlauf der Neuzeit wurden aus literarisch-philosophischen Utopien jedoch zunehmend Dystopien [pessimistische Zukunftsbilder], in denen der Mensch durch die Wunderwerke der Technik und Wissenschaft nicht mehr zum Herrn der Natur, sondern zum Sklaven seiner selbst wird.“ (4)
Neben dem exzessiven Messen und Optimieren hat ein großer Wunsch nach Eindeutigkeit von vielen Menschen Besitz ergriffen. Dies hat auch eine politische Dimension. Angesichts wachsender Unsicherheit und zahlreicher Bedrohungen, vom sozialen Abstieg über politischen Extremismus bis hin zu tödlichen Viren, suchen Menschen zunehmend Halt bei vermeintlich unverrückbaren Wahrheiten und strikten Verboten. Die Prinzipien, mit denen man sich wappnen will, sind Härte, Kampf und Kompromisslosigkeit. Es sind die Methoden des Krieges.
Verbreitete Überzeugungen lauten: Populisten radikal bekämpfen! Das Coronavirus ausrotten! Verschwörungstheorien verbieten! Immer ist die Stimmung gereizt, die Wahrheit eindeutig, der Feind klar erkennbar und die Welt im Schwarz-Weiß-Raster erklärbar: Gut gegen Böse, Aufgeklärt gegen Hinterwäldlerisch, Verantwortungsvoll gegen Verblendet. Wer diesen neuen, militanten Gleichklang stört, der gilt als gefährlich. Der Islamwissenschaftler Thomas Bauer beschreibt den Trend zur Eindeutigkeit als neuen Fundamentalismus:
„Wer Eindeutigkeit erstrebt, wird darauf beharren, dass es stets nur eine einzige Wahrheit geben kann und dass diese Wahrheit auch eindeutig erkennbar ist. Eine perspektivische und damit nicht-eindeutige Sichtweise auf die Welt wird abgelehnt. (…) Vielfalt, Komplexität und Pluralität wird häufig nicht mehr als Bereicherung empfunden.“ (5)
Der Grund dafür ist leicht zu verstehen: Um Mehrdeutigkeit als bereichernd zu empfinden, bedarf es eines einigermaßen entspannten und ausgeruhten Lebens in halbwegs stabilen Umständen. Mehrdeutigkeit und Unklarheit verunsichern. Um damit umgehen zu können, braucht es Reserven – über die im heutigen Dauerstress immer weniger Menschen verfügen. Von Angst und Gefahr bedroht, radikalisieren sich die Anschauungen, verengt sich der Blick, werden Menschen leichter lenkbar.
Mit diesem Gedankengang wird häufig erklärt, weshalb sich elitenkritische Sichtweisen in den letzten Jahren ausgebreitet haben. Menschen seien demnach von der komplexen Vielschichtigkeit der Welt überfordert und sehnten sich nach simplen Erklärungen und leicht verständlichen Geschichten von dunklen Hintermännern und bösen Mächten. Seltener beachtet wird eine ähnliche Entwicklung am anderen Ende der Gesellschaft, dort aber unter umgekehrten Vorzeichen. So glauben (oder hoffen) viele Menschen, dass diejenigen an der Spitze der Gesellschaft – Regierung, Medieneigentümer, Geheimdienste, Superreiche – mehr oder weniger zufällig agieren, ohne größeren Plan, zumindest aber ohne einen Plan, der der Mehrheit schadet. Verborgene Absprachen zulasten der Allgemeinheit ließen sich, so die Überzeugung, „nie“ geheim halten und würden daher auch nicht existieren. (6) Beide Haltungen, sowohl die strikte Orientierung an „Verschwörungstheorien“ wie auch deren pauschale Ablehnung, gehören strukturell zusammen und sind Ausdruck der gleichen Sehnsucht nach Eindeutigkeit.
V.
Der Wunsch nach eindeutigen Wahrheiten zeigt sich in der Corona-Krise besonders deutlich im Ausgrenzen abweichender Gedanken. Wissenschaftler, die das Virus und dessen Gefährlichkeit anders einschätzen als die Regierung und deren Berater, werden in vielen Medien pauschal als Spinner, Geltungssüchtige und Verschwörungstheoretiker bezeichnet.
Die Vorstellung, dass Wissenschaft sich überhaupt erst im Widerstreit verschiedener Sichtweisen entwickeln kann, scheint nahezu verschwunden. Stattdessen glauben immer mehr Menschen, „die Wissenschaft“ habe dies oder jenes belegt – so, als handle es sich dabei um eine Gruppe von Fachleuten, die kraft eindeutig erwiesener, unleugbarer Argumente selbstverständlich auch alle einer Meinung sind. Zwar gibt es natürlich unstrittige wissenschaftliche Erkenntnisse. In vielen Fällen aber ist das unterstellte Einverständnis der Forscher nur eine Fassade, aufgebaut von Interessengruppen, die jeweils einer ganz bestimmten Sichtweise Autorität zusprechen. Die vermeintliche Aufgeklärtheit von Menschen, die bekunden, allein „der Wissenschaft“ zu vertrauen, ist oft kaum mehr als eine moderne Form von Autoritätsgläubigkeit.
Dass Wahrheit in der Gesellschaft nie losgelöst von Macht existiert, wird selten diskutiert. Der Medienwissenschaftler Michael Meyen sagt: „Die Wissenschaft, die sich nur für die Wahrheit interessiert und für sonst nichts, ist eine Schimäre“ – also ein Trugbild. Der Einfluss von ökonomischem Interessen, auch auf Medien, auch auf die Wissenschaft, scheint ein weiteres Tabu unserer Zeit zu sein.
Besonders problematisch wird das, wenn private Interessengruppen, Regierungen und Medien im Gleichklang bestimmte Sichtweisen für wahr und andere für unsinnig erklären – wenn sie also ihre Fähigkeit bündeln, ausgewählten Personen öffentlich Autorität zuzusprechen und andere auszugrenzen. Die Botschaft „Hört auf Drosten, glaubt nicht Wodarg!“ ging im Frühjahr 2020 uniform durch alle großen Medien.
Wahrheit wird damit „verordnet“, eine faire Debatte unmöglich gemacht. Gleichzeitig blüht die Zensur – die heute nicht mehr, wie in den Jahrhunderten zuvor, der Staat ausübt, sondern die großen Internetkonzerne. Was abweicht und die Glaubwürdigkeit der offiziellen Erzählungen bedroht, das wird auf Youtube, Facebook und Co. immer öfter gelöscht, inzwischen auch auf ausdrücklichen Wunsch von Medizinern. So hieß es in einem im Mai 2020 veröffentlichten offenen Brief von zahlreichen Ärzten, darunter dem Berater der Bundesregierung, Prof. Christian Drosten:
„Die Flutwelle an falschen und irreführenden Inhalten über das Coronavirus ist kein isolierter Ausbruch von Desinformation, sondern Teil eines globalen Problems. (...) Diese Lügen sind von Bedeutung, weil sie (...) die Menschen von Impfungen (...) abbringen wollen. Deswegen rufen wir heute die Technologieunternehmen dazu auf, sofort und systematisch aktiv zu werden, um die Flut an medizinischen Fehlinformationen sowie die dadurch ausgelöste Gesundheitskrise zu stoppen.“
Der international durch die Medien gehende Aufruf – er wurde unter anderem als ganzseitige Anzeige in der New York Times platziert – war eine Aufforderung zur flächendeckenden Unterdrückung von Unerwünschtem.
Dieser Trend einer großen Vereinheitlichung und „Vereindeutigung“ der Welt, der sich alles und jeder unterordnen soll, ist beunruhigend. Der globale Fokus auf das Coronavirus hat es ermöglicht, die beschriebene, schon seit Jahren zu beobachtende Entwicklung radikal zu beschleunigen. Hinter der Krise, deren Verlauf und Vorgeschichte auf den folgenden Seiten nachgezeichnet werden soll, scheint immer deutlicher eine totalitäre Utopie auf, die den Prinzipien einer freien, friedlichen und vielfältigen Zivilisation zuwiderläuft. Es ist die Vision einer „perfekten“, zentral gesteuerten Welt, in der individuelle Freiheit zum seltenen Luxusgut wird.
Der Autor Aldous Huxley stellte seinem 1932 erschienenen, düsteren Zukunftsroman Brave New World (Schöne neue Welt) ein Zitat des schon erwähnten Philosophen Nikolai Berdjajew voran, das heute nicht weniger aktuell klingt:
„Utopien sind realisierbar. Das Leben bewegt sich auf sie zu. Und vielleicht beginnt eine neue Ära, in der Intellektuelle und die gebildete Klasse darüber nachdenken, wie man Utopien verhindern kann und zu einer nicht-utopischen, weniger perfekten und freieren Gesellschaft zurückkehrt.“
Womöglich besteht der erste Schritt auf diesem Weg in einer Rückbesinnung auf menschliches Miteinander – ohne Angst, Abstandsregeln und Masken, dafür mit Zuwendung, Vertrauen und Solidarität. Der amerikanische Philosoph und Autor Charles Eisenstein formulierte es im März 2020 so:
„Es gibt eine Alternative zum Paradies einer perfekten Kontrolle, das unsere Zivilisation so lange erstrebte, und das mit jedem Schritt weiter entschwindet, wie ein Trugbild am Horizont. Ja, wir können den bisherigen Weg fortsetzen in Richtung zunehmender Isolierung, Herrschaft und Getrenntheit. Wir können das neue Niveau von Abtrennung und Kontrolle für normal erklären und glauben, es sei für unsere Sicherheit nötig. Wir können eine Welt akzeptieren, in der wir uns davor fürchten, einander nahezukommen. Oder wir könnten diese Pause, diesen Bruch der Normalität dazu nutzen, um einen anderen Weg einzuschlagen, in Richtung Wiedervereinigung, Ganzheitlichkeit, Wiederherstellung verlorener Verbindungen, Aufbau von Gemeinschaft und einer Rückkehr in das Netz des Lebens.“
Dieses „Netz des Lebens“ wird von einer superspezialisierten naturwissenschaftlichen Forschung und einer digitalen Hochleistungsmedizin fortwährend in kleinste Fäden zerschnitten. Komplexe biologische Systeme werden in isolierte Bausteine zergliedert, die man willkürlich verändert und neu zusammensetzt. Den Geist dahinter beschreibt der Autor Hauke Ritz so:
„Den Naturwissenschaften liegt die unausgesprochene These zugrunde, dass das Lebendige nur deshalb als lebendig erscheint, weil es aufgrund seiner Kompliziertheit noch nicht gänzlich verstanden werden kann. Sobald Wissenschaft aber in der Lage wäre, diese Komplexität des Lebendigen vollständig zu verstehen, würde sich auch das Lebendige als eigentlich Totes zu erkennen geben. (…) Angesichts dessen ist es nicht überraschend, dass die Naturwissenschaften insgesamt Totes sehr gut erklären können, wohingegen sie bis heute Schwierigkeiten haben, das Lebendige als solches zu verstehen. (…)
Die Wissenschaften begannen als vorurteilsfreier Denkprozess, der religiöse Dogmen hinterfragte. Doch je mehr die Naturwissenschaften sich darauf festlegten, die Welt als ein prinzipiell totes, determiniertes, subjektloses, unfreies und bewusstseinsloses Ableitungssystem zu begreifen, desto mehr begannen sie selbst eine neue Metaphysik [eine nicht belegbare Philosophie] hervorzubringen, welche im Zuge der Industrialisierung schließlich eine dogmatische Form annahm.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwiefern dieses Freiheitsdementi der Naturwissenschaften heute auch die Gesamttendenz des technischen Fortschritts mit beeinflusst. Können wir von dem Weltbild, welches den Naturwissenschaften zugrunde liegt, Rückschlüsse auf die Richtung und Entwicklungslogik des technischen Fortschritts selbst ziehen? (…) Könnte eine Naturwissenschaft, die die Freiheit des Menschen prinzipiell leugnet, am Ende mit Notwendigkeit eine Technologie der unfreien Welt hervorbringen?“
Das sind weitreichende Gedanken, die vielleicht dabei helfen können, den durch die Corona-Krise ausgelösten Ausnahmezustand besser zu begreifen. Denn womöglich ist das, was Politik und Gesellschaft seit Anfang 2020 auf den Kopf stellt, nicht bloß ein einzelnes Virus – sondern die Krise einer Ideologie.
Dieser Text ist ein Auszug aus dem am 14. September erschienenen Buch "Chronik einer angekündigten Krise", Westend Verlag, 176 Seiten, 15 Euro.
Anmerkungen
(1) Nikolai Berdjajew: „Das Reich des Geistes und das Reich des Caesar“, Holle Verlag, 1952, S. 56f
(2) Peter C. Gøtzsche: „Tödliche Medizin und organisierte Kriminalität: Wie die Pharmaindustrie das Gesundheitswesen korrumpiert“, Riva, 2019
(3) Christoph Keese, einer der leitenden Manager des Axel-Springer-Konzerns, verbrachte 2013 im Auftrag des Medienunternehmens ein halbes Jahr zu Recherchezwecken im Silicon Valley unter den dortigen Managern und berichtet, dass sich transhumanistische Zukunftsszenarien dort „in weiten Kreisen zu einer Art unternehmerischem Leitbild entwickelt“ haben. – Christoph Keese: „Silicon Valley. Was aus dem mächtigsten Tal der Welt auf uns zukommt“, Knaus, 2014, S. 271
(4) Philipp von Becker: „Der neue Glaube an die Unsterblichkeit. Transhumanismus, Biotechnik und digitaler Kapitalismus“, Passagen Verlag, 2015, S. 14
(5) Thomas Bauer: „Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt“, Reclam, 2018, S. 27ff
(6) Michael Butter: „Nichts ist, wie es scheint. Über Verschwörungstheorien“, Suhrkamp, 2018, S. 37f
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