Detail aus dem Bauernkriegspanorama von Werner Tübke | Foto: picture alliance / ZB / Michael Reichel

Die radikalste Tatsache

Vor 500 Jahren redete Thomas Müntzer den Fürsten ins Gewissen. Die Obrigkeit müsse dem Evangelium folgen oder weichen. Deren Entscheidung gegen die radikale Reformation um Müntzer und damit für Luther entschied die Geschichte in kurzer wie langer Dauer.

HELGE BUTTKEREIT, 1. September 2024, 1 Kommentar, PDF

Was genau an diesem Sommertag im Jahre 1524 im thüringischen Allstedt passierte, weiß heute keiner mehr. Klar scheint nur: Der Pfarrer der Kirche St. Johannes, Thomas Müntzer, sprach vor Herzog Johann, dessen Sohn und anderen edlen Herren. Diese waren auf der Durchreise im Schloss abgestiegen. Was er sprach, ist überliefert und hat den Titel „Fürstenpredigt“ bekommen. Kaum je wieder und wohl auch nie zuvor hat ein Prediger in Deutschland der Obrigkeit so radikal, so eindeutig und so nachhaltig ins Gewissen geredet wie Thomas Müntzer den beiden Fürsten und ihrem Gefolge an diesem Sonntag, den 13. Juli 1524. Inhalt, Kontext und Folgen sind Thema dieses Textes, dessen Überschrift sich an Karl Marx anlehnt. Dieser nannte den Bauernkrieg, der in den Jahren 1524 und 1525 seinen Höhepunkt in Deutschland erlebte, „die radikalste Tatsache der deutschen Geschichte“. Müntzer hat die Zeit des Bauernkriegs geprägt wie kaum ein anderer. Mit der Niederlage der Bauern bei Frankenhausen und seiner Gefangennahme im Mai 1525 war der weitere Verlauf der Geschichte besiegelt. Der radikale Flügel der Reformation war besiegt.

Die Fürstenpredigt ist keine Antithese in der deutschen Geschichte. Sie zeugt von einer untergründig fortlaufenden, unabgegoltenen Alternative, die neben dem Hauptstrom der Geschichte, der Durchsetzung der Reformation Luthers, der Konfessionalisierung mit all ihren Folgen eine andere Möglichkeit des Geschichtsverlaufs durchscheinen lässt. Parallel dazu befasst sich dieser Text besonders mit der umfangreichen und dieses Jahr nun auch für den „normalen“ interessierten Leser erschwinglichen Müntzer-Biografie von Günther Vogler und Siegfried Bräuer. (1) Das Buch zeugt davon, dass die Faszination des radikalen Theologen bis heute anhält, auch wenn dieser nur wenige Jahre gewirkt hat und über sein Leben nur Bruchstücke bekannt sind. Wer wissen will, was wir heute über Müntzer wissen können, der sollte dieses Buch lesen. Die Seitenzahlen in diesem Text beziehen sich auf dieses Buch.

Zurück ins Jahr 1524. Herzog Johann war mit seinem Sohn Johann Friedrich auf der Durchreise durch Allstedt zurück zur Residenz in Weimar. Ihnen redete Müntzer in seiner Predigt Mitte Juli ins Gewissen. Er wollte sie für sich, für seine Sache gewinnen und gleichzeitig von Luther lösen. Johann war der jüngere Bruder von Kurfürst Friedrich dem Weisen und teilte sich mit ihm die Herrschaft über die thüringischen Herzogtümer. Beide waren Teil der ernestinischen Linie des Hauses Wettin. Johann und Friedrich stützten und schützten Luther, die genauen konfessionellen Grenzen waren dabei fließend, die eigene protestantische Landeskirche mit Johann als Landesbischof wurde erst 1527, nach Friedrichs Tod, gegründet. Zur Zeit der Fürstenpredigt schien der Ausgang offen.

Werben um die Fürsten

Was der Anlass für diese Predigt war, darüber schweigen die Quellen. Bräuer und Vogler gehen von einem Predigtvortrag in einer Stube aus, gottesdienstliche Ausschmückungen, wie sie besonders die Literatur dem Ereignis andichtete, soll es nicht gegeben haben. „Da Müntzers Forderung eines unparteiischen öffentlichen Lehrverhörs unerfüllt geblieben war, wollte er die Gelegenheit nutzen, um seine Sicht der reformatorischen Situation den ernestinischen Fürsten persönlich vorzutragen“, schreiben die Autoren (232). Und weiter:

„Da Müntzer überzeugt ist, nach Gottes Willen für die Ausbreitung des recht verstandenen Evangeliums und der wahren Glaubensgewissheit zu wirken, aber zunehmend von Gegnern behindert und bedroht wird, braucht er Schutz und Unterstützung. […] Da die ernestischen Fürsten sich dem neu erkannten Evangelium geöffnet haben, sieht er sich berechtigt, von ihnen als Fürsten nach Römer 13,4 zu erwarten, dass sie ihre Funktion für den Schutz der Auserwählten und die Vernichtung der Gottlosen einzusetzen.“ (236)

Die Fürsten sollen sich auf die Seite des Evangeliums stellen, so wie Müntzer es interpretiert. Nur wenn die Obrigkeit Gott dient erweist, dann ist ihr zu folgen. Auf diese Weise interpretiert Müntzer das 13. Kapitel des Römerbriefs, die Obrigkeit muss Gott dienen, dann ist sie an rechter Stelle. Die beiden Fürsten, denen Müntzer ins Gewissen redet, müssen sich entscheiden.

Ernst Bloch hat Müntzer kurz nach dem Ersten Weltkrieg den „Theologen der Revolution“ genannt. Er deutet bei seiner Gegenüberstellung von Müntzers Vorstellung der Obrigkeit als Dienerin Gottes zu Luthers Obrigkeitslehre, nach der, vereinfacht gesagt, jeglicher Obrigkeit Gehorsam zu leisten sei, bereits die Dimension der Entscheidung zwischen den beiden Polen an. „Luther war … so sehr gefügiger Hofpriester und Beuger des Geistes unter die weltliche Macht, dass von ihm her sich alle gouvernementale Geringschätzung des Geistes in Deutschland legitimiert.“ (2)

Der Theologe und Historiker Hans-Jürgen Goertz schreibt in seinem lesenswerten Müntzer-Buch, das mittlerweile ebenfalls erschwinglich zu haben ist, dass Müntzer in der Predigt den Spieß umdrehte: Nicht er habe sich auf die Probe gestellt geführt, die Fürsten mussten sich beweisen. Würden sie sich dem Prediger beugen und sich den Weg zur Erneuerung der Christenheit zeigen lassen? Denn genau das war Müntzers immer wiederkehrendes Thema und es wurde Thema der Predigt.

„Müntzer war so weit, er suchte eine Entscheidung. Er wollte wissen, ob er mit der kursächsischen Obrigkeit im Kampf um die Reformation am Ende der Tage rechnen konnte, und er wollte die Fürsten davon überzeugen, das es gute Gründe gab, Luther zu misstrauen und diesem die angemaßte Deutungshoheit über den richtigen Weg zur Erneuerung der Christenheit zu entziehen.“ (3)

Wendepunkte der Geschichte um 1500

Die Fürstenpredigt gehört zu den mannigfaltigen Wendepunkten in dieser Zeit um 1500. Gutenberg hatte einige Jahrzehnte zuvor den Druck mit beweglichen Lettern erfunden, Columbus war nach Amerika gesegelt, Vasco da Gama hatte den Seeweg nach Indien erkundet, Luther seine Thesen gegen den Ablasshandel der Kirche veröffentlicht. Parallel zu diesen welthistorischen Ereignissen veränderte sich das Heilige Römische Reich Deutscher Nation.

Im Reich waren Fürsten und einfache Leute aufgebracht vom Versuch des Papstes, immer mehr Geld nach Rom umzuleiten. Das Thema wurde auf mehreren Reichstagen behandelt, wie die Versammlung der verschiedenen Obrigkeiten, der großen und kleinen Fürsten- und Herzogtümer sowie der freien Städte, damals hieß. Parallel dazu wurde nach Auswegen aus der Krise der Kirche gesucht. Die Autorität des Kaisers wankte. Im 15. Jahrhundert konnten die Reichsstände, insbesondere die großen Fürsten im Reich, ihre Macht rechtlich und wirtschaftlich ausbauen. Die Grundherren wiederum gaben in der politisch und wirtschaftlich angespannten Lage den Druck an ihre Untergeben weiter und verschärften die Lage der Bauern. Die wehrten sich. Es entstanden Bewegungen wie der Bundschuh oder der Arme Konrad. In den Städten schlossen sich Zunftbürger zusammen und bedrohten die alten Obrigkeiten. Der „gemeine Mann“ wollte am Regiment beteiligt werden.

Parallel zum politischen Wandel und damit verbunden erlebte die Zeit um 1500 auch einen ökonomischen Umbruch. Das Handelskapital verdrängte nach und nach die Grundrente. Es entstanden Gewerbebetriebe und Manufakturen, Bergwerke und neue Siedlungen. Die bäuerliche Bevölkerung ächzte unter der Last der Grundherrschaft, hergebrachte Rechte wurden ihr von den erstarkenden Grundherrschaften genommen. Im Personenverbund des Mittelalters hatte jeder seinen Stand, seine Aufgabe. Der Bauer hatte das Feld zu bebauen, dafür schützte ihn der Adel, so zumindest die Theorie. Nun nahm der Adel ihn (immer mehr) aus. Prediger sahen derweil das Ende der Welt kommen, das Weltgericht, von dem in der Bibel die Rede ist. „Die Veränderung der Welt steht jetzt vor der Tür“, so schrieb es Müntzer.

Der Prediger: Thomas Müntzer

Thomas Müntzer stammte aus Stolberg im Südharz, studierte in Leipzig und Frankfurt an der Oder und geriet bereits früh in erste Konflikte mit der bestehenden Kirche. Diese stand bereits länger in der Kritik, Reformen wurden von vielen Seiten gefordert. Müntzer wurde Anhänger der Reformation, arbeitete als Prediger an mehreren Orten zunächst noch in Anlehnung an Luther. Der größte Widerspruch entwickelte sich an der Frage nach dem Weg zum richtigen Glauben, beim Verständnis des Evangeliums. Während Luther auf die Schrift, die Bibel setzte (eine der evangelisch-lutherischen Grundregeln lautet bis heute „sola scriptura“ - „allein die Schrift“), war Müntzer von der Wirkung des lebendigen Geistes Gottes in der Gegenwart überzeugt.

Thomas Müntzer | Kupferstich von Christoffel van Sichem, 1608 | Bild: picture-alliance / akg-images

Damit der Geist wirken konnte, mussten die Gläubigen das Wort verstehen, das im Gottesdienst gesprochen wurde. Als Müntzer nach vielen kurzfristigen Stationen in Städten und Klöstern ab März 1523 für knapp anderthalb Jahre in Allstedt sesshaft wurde, entwickelte er seine deutsche Liturgie mit dem Ziel, den Glauben der Gottesdienstbesucher, seiner Gemeinde in Stadt und Umfeld zu stärken. Es sei ihm darum gegangen, „dass die Gemeinde das geistliche Handeln vollständig verstehen solle“, schreiben Bräuer und Vogler (198). Greifbar wird dies beispielsweise in Müntzers Hymnenübersetzungen. „Die Bitte, Gott möge die Gläubigen lehren, seinen Willen zu tun und das Anliegen, im Glauben zuzunehmen, durchzieht seine Lieder wie ein Cantus firmus [feststehender Gesang].“ (195) Es ist, nebenbei bemerkt, die große Stärke des Buches eines Theologen (Bräuer) und Historikers (Vogler), dieses wichtige aber in ihrer Tiefe größtenteils vergessene Werk Müntzers zu würdigen.

Müntzers Gottesdienste in deutscher Sprache erhielten großen Zulauf aus der Stadt Allstedt und ihrem Umland. Das führte zu Konflikten mit umliegenden Herrschaften, deren Untertanen zu Müntzer strömten. Aber Müntzer wirkte nicht nur im engeren Umfeld. Er veröffentliche mehrere Druckschriften. Mit ihnen griff er in die Diskussion über den richtigen Weg der Reformation, den richtigen Weg zum Glauben ein. In seinen Texten geht es besonders um die Leidensnachfolge. Der Mensch müsse sich für den „bitteren Christus“ öffnen, denn wer nicht mit ihm sterbe, könne nicht mit ihm auferstehen (216). Wer seinen Glauben allein durch das Hören des Wortes gewinne, dessen Glaube sei „gedichtet“. Bevor er im Juli 1524 vor den Fürsten predigte, hatte Müntzer seinen theologischen Gegensatz zu Luther bereits deutlich niedergeschrieben. In der Fürstenpredigt entwickelt er ihn erneut und lässt die notwendigen Konsequenzen durchscheinen.

Daniel, Nebukadnezar und Müntzer

Die Frage nach dem richtigen Weg zu Christus, die Frage nach Leiden, Kreuz und Geist, die Müntzer vor 500 Jahren umtrieb, wird heute vielen Lesern sperrig bis abwegig vorkommen. Der Glaube gilt seit der Zeit der Aufklärung als Privatsache und hat höchstens etwas mit dem Einzelnen zu tun. Mittlerweile sprechen viele Menschen davon, gläubig zu sein aber mit der Kirche nichts am Hut zu haben. Am Anfang des 16. Jahrhunderts ist die Situation eine ganz andere. Der Glaube gehört zum Leben, ist integraler Bestandteil des Seins der Menschen, wird nicht oder zumindest kaum infrage gestellt. Für Müntzers Zeitgenossen ist die Existenz Gottes selbstverständlich. Es stellt sich „nur“ die Frage nach dem Weg zu Gott, nach dem richtigen, dem rechtmäßigen Glauben.

Die Kirche befindet sich in dieser Zeit in der Krise. Seit spätestens Anfang des 15. Jahrhunderts kamen immer wieder Reformforderungen auf. Die Kirche war zum Teil des feudalen Staats geworden, rechtfertigte ihn, war selbst Feudalherrin, ruhte sich auf ihren Privilegien aus, nutzte diese, um die Menschen – sowohl die einfachen Bauern als auch die reichen Bürger – auszubeuten. Der Weg zu Gott kann nicht über diese Kirche führen, sagten die Reformatoren. Aber welcher Weg dann? Wie kann das Leben wirklich gottgefällig werden? Das sind Fragen, die Müntzer umtrieben.

Im Juli 1524 legt er nun seine Antworten auf diese drängenden Fragen der damaligen Zeit den Fürsten dar. Wer die Fürstenpredigt heute liest, wird dabei nicht nur mit einer ungewohnten, 500 Jahre alten Sprache konfrontiert sondern gleich auch noch mit einer Unmenge an biblischen Verweisen. Müntzer nutzte sie, um seine Aussagen zu untermauern, für ihn war die Bibel als Wort Gottes Referenzpunkt, die Offenbarung des Wortes aber nicht abgeschlossen. Müntzer will „geistgeleitet in seiner Zusammenschau der Texte des Alten und des Neuen Testaments die Botschaft Gottes für die Gegenwart mitteilen“ (S. 235). Er war von der Gegenwart der Offenbarung des Willens Gottes überzeugt. Er nutzte als Textgrundlage seiner Predigt einen Abschnitt aus dem Buch Daniel, dessen Texte zu allen Zeiten „von großer Bedeutung für die kirchlichen Endzeitvorstellungen gewesen“ sind. Im zweiten Kapitel des Buches geht es um einen Traum des mächtigen babylonischen Herrschers Nebukadnezar sowie die Vision vom Ende der irdischen Weltreiche. Die Frage nach der gerechten Herrschaft durchzieht das ganze Buch Daniel. Auch deshalb war es der ideale Predigttext für Müntzer, der das Heilige Römische Reich Deutscher Nation vor dem Ende sieht. Gott sei dabei, „die Welt wieder in seine ursprüngliche Ordnung zu holen“, fassen Bräuer und Vogler zusammen.

Müntzer stellt seinen Predigttext also in den größeren Rahmen und nimmt das Ganze in den Blick. Er spricht von der Krise der Christenheit, der Krise der Kirche, der er das unverfälschte Urchristentum entgegensetzt. Es brauche eine Umkehr zu Christus, der von den Großen und Mächtigen klein gemacht wird und dessen Geist verachtet wird – sowohl von den „Schriftgelehrten“ der Vergangenheit und Gegenwart. Damit meint er zum einen die Gegner der frühen Christenheit, die in der Bibel so bezeichnet werden. Aber er meint auch seine Gegner in der Gegenwart, also vor allem die Wittenberger um Luther. Über letztgenannte sagt er: „Sie haben die Schafe Christi der rechten Stimme beraubt und den wahren gekreuzigten Christus zum lauteren fantastischen Götzen gemacht.“ (4)

Müntzer stellt die alten und neuen (kirchlichen) Eliten dem Volk gegenüber. Das Volk werde in Unwissenheit gehalten. Werden Menschen von Menschen unterdrückt, kommen sie nicht zum wahren Glauben. „Die Furcht Gottes aber muss rein sein ohne alle Menschen- oder Kreaturenfurcht. … Gott kann sich auch über uns nicht erbarmen (wie die Mutter Christum unseres Herren sagt), es sei denn, dass wir ihn allein aus ganzem Herzen fürchten.“ Müntzer geht also davon aus, dass die Menschen nur dann direkt in Beziehung zu Gott stehen können – dies ist hier mit Gottesfurcht gemeint –, wenn sie nicht andere Menschen fürchten.

Den Wittenberger und die weiteren „Schriftgelehrten“ greift Müntzer ebenso an. Sie „lehren und sagen, dass Gott seinen lieben Freunden seine göttlichen Geheimnisse nicht mehr offenbare durch rechte Gesichte oder sein mündliches Wort“. Müntzer ist davon überzeugt, dass die Gläubigen direkt durch den Geist Christi ergriffen werden. Damit wird er zum „aufrührerischen Geist“, der den „Schriftgelehrten“ seiner Zeit vorwirft, dass diese „gern geile üppige Bisslein zu Hofe essen“. Seine Gegner schwatzten nur vom Glauben, da sie den Heiligen Geist nicht erfahren haben. Dem stellt Müntzer die wahre Gotteserfahrung der Menschen entgegen, die mit ihrem Herzen, ihrer Seele dem Zeugnis Gottes gewahr werden. Ohne die lebendige Erfahrung nützte die Bibellektüre nichts, meint Müntzer.

Es kommt nicht von ungefähr, dass er für seine Predigt einen Text gewählt hat, in dem der Prophet Daniel dem König einen Traum auslegt. Müntzer bringt viele Beispiele aus der Bibel von Menschen, denen die Offenbarung durch Träume und andere „Gesichter“ offenbar geworden ist und verdeutlicht seine Überzeugung, dass Gott weiterhin in dieser Weise zu den Menschen spreche. Müntzer ruft die Fürsten auf, die Erkenntnis „aus dem Munde Gottes“ zu gewinnen und sich nicht durch „heuchlerische Pfaffen“ verführen zu lassen. „Tretet keck auf den Eckstein, wie der heilige Petrus es tat und sucht die rechte Beständigkeit, die der göttliche Wille verleiht. … Eure Gänge werden richtig sein, suchet nur geradewegs Gottes Gerechtigkeit und greift die Sache des Evangeliums tapfer an!“ Er ruft die Fürsten auf, an seiner Seite zu kämpfen. So wie Daniel dem Nebukadnetzar den Traum auslegte, so steht er als „neuer Daniel“ auf und legt eine neue Offenbarung aus. „Er muss den Zorn der Fürsten und des ergrimmten Volkes versöhnen.“

Müntzer ruft die Fürsten dazu auf, für seine Sache, die Sache Christi Partei zu ergreifen und die Feinde zu vertreiben, anzugreifen und, - an dieser Stelle wird mindestens der heutige Leser mehrfach schlucken müssen -, wenn es sein muss zu vernichten, zu töten. Wenn nun aber die Fürsten nicht folgen, nicht „Christum mit uns bekennen“, dann werde ihnen das Schwert genommen. „Man muss das Unkraut ausraufen aus dem Weingarten Gottes in der Zeit der Ernte, dann wird der schöne Weizen beständige Wurzeln bekommen und recht aufgehen.“ Der potentiell nächste Schritt nach der Weigerung der Fürsten, an Müntzers Seite zu kämpfen, wird deutlich. Denn gottlose Regenten, Pfaffen und Mönche müssten getötet werden, „die uns das heilige Evangelium eine Ketzerei schelten und gleichwohl die besten Christen sein wollen“.

Für Müntzer gibt es nur noch er oder sie, die Lager sind gebildet. In der Obrigkeitsfrage gibt es nunmehr zwei Positionen, die der Theologe Volker Leppin wie folgt beschreibt: Bei Luther die „feine Unterscheidung der Regimente Gottes, die viel Freiraum für das weltliche Regiment schaffte, das nicht den Linien des Evangeliums folgen, sondern vor allem durch Strafe und Schwert die Sünde kontrollieren sollte“. Müntzer meint, „dass Gott sein Reich heraufführen will“. Er sei davon ausgegangenen, so Leppin, dass es „vor dem Einbruch der neuen Welt ein tausendjähriges Reich der Herrschaft Christi und seiner Heiligen auf Erden geben werde“. Die Fürstenpredigt legt lebendiges Zeugnis von diesem Glauben ab. Sie zeigt auch, dass Müntzer bereit ist, dafür zu kämpfen. Nicht einmal ein Jahr später wird er seine Überzeugungen an der Seite der unterdrückten Bauern mit seinem Leben bezahlen.

Eine Predigt und die Folgen

Wenige Tage nach dem Ereignis lag die Fürstenpredigt bereits gedruckt vor. Die Vorgabe, dass Müntzer nur noch bei vorheriger Vorlage des Textes also unter Vorzensur drucken durfte, wurde ihm erst Anfang August auferlegt. Seine Gedanken waren öffentlich, sodass Martin Luther ebenso öffentlich antworten konnte. Für diesen war die Predigt eine Raserei des Satans. Luther nahm für sich in Anspruch, Gottes Wort zu verkörpern, „das stets den Widerstand des Satans aktiviere“, fassen Vogler und Bräuer zusammen (237). „Nachdem Papst und weltliche Gewalt nicht erreicht hätten, versuche nun der Satan durch den ,Geist zu Allstedt‘ leiblichen Aufruhr anzurichten.“ Luther erkannte klar die Richtung der radikalen Reformation Müntzers, der ja selbst nicht um drastische Ausdrücke über die Wittenberger verlegen war. Luther fordert in seinem Text die Fürsten an zuzugreifen und die Gegner des Landes zu verweisen.

Kurz nach der Predigt blieb der Zulauf zu Müntzers Gottesdiensten groß, wobei auswärtige Besucher – die einzelnen Herrschaften in Thüringen waren kleinteilig – immer wieder Repression erleben mussten. In Müntzers Augen wurde der wahre Glauben, das Evangelium verfolgt. Als Notwehr gegen die umliegenden Regenten musste ein Schutzbund her, dem 500 Bürger beitraten. Gleichzeitig rief Müntzer den örtlichen Amtmann noch einmal dazu auf, bei den Fürsten für seine Sache, für das Evangelium zu werben. Müntzer ging es bei seinem Wirken in der Stadt letztlich darum, „die Gemeinde der Auserwählten auf die Wiederherstellung der Ordnung Gottes vorzubereiten“. (243) Er warb für ein Defensivbündnis und wollte einen Zusammenschluss des gemeinen Mannes mit den Fürsten. Die aber verweigerten sich ihm.

Die Organisation einer so großen Zahl von Menschen in einer relativ kleinen Stadt ließen Müntzers theologische Gegenspieler aber auch die Fürsten aufhorchen. Müntzer und die Stadtoberen mussten sich getrennt voneinander am Hof in Weimar verantworten. Der Bund sei aufzulösen, weitere Flugschriften durften nicht gedruckt werden. Es wurde deutlich, dass die Fürsten nicht ihm sondern Luther folgen würden. Müntzer verließ Allstedt und floh vorerst in die nahe gelegene freie Reichsstadt Mühlhausen. Dort gründete er einige Monate später einen neuen Bund, von dort aus bereiste er die süddeutschen Aufstandsgebiete und sammelte im Frühjahr 1525 selbst einen sogenannten Haufen gegen die Herrschaft der alten Ordnung. In der Schlacht bei Frankenhausen im Mai 1525 erlebte die radikale Reformation Müntzers, die das gesamte Leben des Menschen umfassen sollte, ihre entscheidende Niederlage.

Luthers Weg an der Seite der Fürsten hatte sich durchgesetzt. Die Idee der Fürstenpredigt, das Bündnis von Obrigkeit und Volk nach dem je eigenen Stand im Sinne des Evangeliums und später dann die Herrschaft des „gemeinen Mannes“, verließ den Schauplatz der Geschichte. Es folgte eine blutige Repression gegen die Bauern, Absolutismus, frühkapitalistische Ausbeutung von Stadt, Land und Bergwerken und dabei eine Rechtfertigung der Herrschaft durch Luthers Auslegung des Römerbriefs, nach der jegliche Obrigkeit von Gott sei. Für die lutherischen Fürsten bedeutete es eine Erweiterung ihrer Macht, dass sie neben dem weltlichen auch das geistliche Regiment innehatten und der je eigenen Landeskirche vorstanden. Luthers Lehre war anschlussfähig für die Herrschaft, die Kirche stand an der Seite der Obrigkeit, auch wenn immer wieder Teile der protestantischen Gläubigen ausscherten und mit (oder zuweilen auch trotz) Luther ihren Widerstand beispielsweise gegen den Nazi-Faschismus begründeten. Gleichwohl hat die fortgesetzte Praxis des Bündnisses zwischen Kirche und Staat Wirkung bis in die heutige Zeit.

„Müntzers radikales reformatorisches Programm forderte dazu auf, die ‚Sache bei der Wurzel‘ anzugreifen und den großen Schaden zu beheben, der Kirche und Gesellschaft in eine Krise gestürzt hatte. Als nach seinem Tod die institutionelle Verfestigung der Kirchen erfolgte, wurde das Leben der Gemeinden zunehmend in konfessionelle Strukturen gezwängt und den Institutionen unterworfen. Der ‚Geist‘ verschwand im Lauf der Zeit gleichsam aus dem Kirchenraum und dominant wurden Rituale. In Müntzers Sinn dürfte es sicher sein, dem ‚Geist‘ wieder mehr Raum zu geben. Der radikale Reformator verfolgte das Ziel, die Ordnung wiederherzustellen, die Gott der Welt gegeben hat. Nach seiner Überzeugung verstanden die Gläubigen sich zur Zeit der Apostel als eine Gemeinschaft der Brüderlichkeit, Gleichheit und Freiheit.“ (399)

Was die beiden Biografen, die bereits in der DDR zu den wichtigsten Müntzer-Forschern gehörten, schreiben, passt in die heutige Zeit. Die Gesellschaft ist in der Krise, die Kirche mit ihr und die Ordnung scheint aus den Fugen zu geraten. Die technisierte moderne Gesellschaft erscheint geistlos, kraftlos, vereinzelt. Die Vision des Thomas Müntzer, die tief in der deutschen Geschichte verwurzelt ist, gehört zu den untergründigen Traditionen, die wieder aufgegriffen werden könnte. Zumal, auch hier ist Bräuer und Vogler zuzustimmen, jede Gesellschaft und vor allem jede Bewegung zu ihrer Veränderung eine Vision braucht. Wenn diese als nicht opportun abgetan werden, versinke die Gesellschaft in reinem Pragmatismus. Der Mensch brauche Hoffnung. Müntzers Aufforderung, eine neue Welt zu schaffen, sie grundlegend neu zu gestalten, bleibe aktuell.

„Natürlich sollte ein Akteur des 16. Jahrhunderts nicht im Nachhinein befragt werden, wie Probleme des Einzelnen und der ganzen Gesellschaft 500 Jahre später zu lösen sind. Doch mit seinem Tod sind die Lehren und Visionen, die ihn in der Aufbruchphase der Reformation umtrieben, nicht abgegolten.“ (400)

Wer sich heute mit Herrschaftskritik beschäftigt, der sollte Müntzer und den Bauernkrieg nicht aus dem Blick verlieren.

Addendum: Die Fürstenpredigt 2024

Die Fürstenpredigt konnte über Jahrhunderte nicht rezipiert werden, denn nach der ersten Veröffentlichung vor 500 Jahren verschwand sie in den Archiven. Erst im 20. Jahrhundert wurde der Text wiederentdeckt. Dass er heute zumindest im historischen Bewusstsein angekommen ist, davon zeugt das Jubiläum in diesem Jahr rund um den 13. Juli. Der Autor Arno Widmann, früherer Feuilletonchef von Zeit und Frankfurter Rundschau, legte seinen Lesern für das Jubiläumswochenende im Juli beispielsweise die Lektüre nahe.

„Sie werden nicht jedes Wort verstehen, natürlich werden sie sich darüber ärgern. Sie werden die 7000 Wörter zwei-, dreimal lesen und immer noch an der einen oder der anderen Stelle scheitern. Aber ihre Augen und Ohren werden sich öffnen für eine ganz andere Art zu reden, zu denken, zu argumentieren, zu überzeugen. So ging es jedenfalls mir. Bis ich merkte, wie vertraut mir das alles war, wie gut ich auch das kannte, vor dem ich mich am energischsten verschlossen hatte.“

Widmann richtet sein Augenmerk auf den Zorn, mit dem Müntzer seine Worte ausgesprochen und aufgeschrieben hat. Er habe die Vernichtung von allem, „das sich zwischen ihn und seinen Gott schiebt“ gepredigt. Der Zorn sei typisch für die Zeit gewesen, auch Luther und die Vertreter des alten Glaubens seien vom Zorn regiert worden. In den Erschütterungen dieses Zorns sei der europäische Humanismus zerrieben worden.

Die katholische Tagespost legt ihren Fokus auf die Obrigkeitskritik. Die Predigt sei „ein direkter Aufruf zur politischen Veränderung und eine Umkehrung der bis dahin herrschenden Vorstellung von der Untertänigkeit der Menschen. Sie richtet sich vor allem an die weltlichen Herrscher.“ Der Autor Patrick Peters beschreibt Müntzers Position als gegen die mittelalterliche Vorstellung der Ordnung gerichtet – damals sei bedingungsloser Gehorsam angesagt gewesen. Dem steht Widmanns Aussage entgegen, dass im ganzen Mittelalter über die Empörung gegen die Obrigkeit diskutiert worden sei. Es war also gar nicht so finster, wie heute gerne behauptet wird. Stattdessen steigerte sich die Repression auch aufgrund des Siegs der obrigkeitlichen Fraktion der Reformation.

Christoph Spehr, Theologie-Professor in München, hebt die Frontstellung gegen die Wittenberger hervor, ein politisches Programm habe die Predigt nicht enthalten. (5) Er übersieht dabei, dass für Müntzer Theologie und Politik kaum zu trennen war, womit er die Predigt und die Theologie entpolitisiert. Die bleibende Bedeutung Müntzers sieht Spehr darin „dem gegenwärtigen Wirken Gottes Raum zu geben und gegen den Unglauben zu streiten“. So verstanden kann Müntzers Fürstenpredigt heute gefahrlos und ohne echte Konsequenzen von jedermann gelesen werden.

Wie weit die ihr inne liegende Brisanz, die Brisanz des ganzen Wirkens Müntzers beim im kommenden Jahr anstehenden Gedenken an 500 Jahre Bauernkrieg zur Sprache kommen wird, wird sich zeigen. Der Evangelische Pressedienst epd weist darauf hin, dass die sachsen-anhaltinische Landesausstellung „Gerechtigkeyt 1525“ sich zum Ziel gesetzt hat, die politische Vereinnahmung Müntzers durch die DDR gerade zu rücken. Die vermeintliche Objektivität dürfte indes vielmehr eine Interpretation aus der heutigen Zeit heraus sein. Die Geschichte wird jeweils aus der Gegenwart ergriffen. Jeder Interpret stellt ihr die Fragen, die ihn in seiner Zeit umtreiben. Das gilt für öffentlich geförderte Ausstellungen ebenso wie für Artikel in herrschaftskritischen Medien.

Über den Autor: Helge Buttkereit, Jahrgang 1976, hat sein Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und Journalistik mit einer Arbeit zu „Zensur und Öffentlichkeit in Leipzig 1806-1813“ abgeschlossen. Nach journalistischen Tätigkeiten bei verschiedenen Medien und Buchveröffentlichungen über die Neue Linke in Lateinamerika arbeitet er aktuell in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit.

Titelabbildung: Detail aus dem Bauernkriegspanorama von Werner Tübke | Foto: picture alliance / ZB / Michael Reichel

Anmerkungen

(1) Siegfried Bräuer, Günter Vogler, Thomas Müntzer. Neu Ordnung machen in der Welt. Eine Biografie (500 Jahre Bauernkrieg – Sonderausgabe), Gütersloher Verlagshaus, 542 Seiten, 29 Euro

(2) Ernst Bloch: Thomas Müntzer als Theologe der Revolution (Gesamtausgabe in 16 Bänden, Band 2), Frankfurt 1969, S. 32

(3) Hans-Jürgen Goertz, Thomas Müntzer. Revolutionär am Ende der Zeiten. Eine Biografie, München 2015, 352 Seiten, 9,95 Euro, hier S. 140

(4) Die wörtlichen Zitate der Fürstenpredigt folgen im weiteren Verlauf dieses Abschnitts der Übertragung ins Neuhochdeutsche von Rudolf Bentzinger und Siegfried Hoyer (Thomas Müntzer, Schriften. Liturgische Texte. Briefe, Berlin 1990, S. 64-86)

(5) Christoph Spehr, „Seid nur keck!“, in: Evangelische Zeitung Nr. 29 (14.7.2024), S. 3

A. WITTENBERG, 1. September 2024, 21:25 UHR

Vielen Dank für den interessanten Beitrag! Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit waren sicherlich Ziele Jesu. Anders als bei Müntzer war jedoch Gewaltfreiheit der Weg. Siehe dazu z. B.: https://www.faz.net/aktuell/politik/john-dominic-crossan-ueber-den-historischen-jesus-16547552.html oder das Buch "Verwandlung der Mächte. Eine Theologie der Gewaltfreiheit" von Walter Wink.

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