Die Krankheitsmaschine
SVEN BÖTTCHER, 21. Oktober 2021, 4 Kommentare, PDFOhne florierendes Krankheitssystem würde die deutsche Wirtschaft wohl umgehend zusammenbrechen, denn die Gesundheit unseres alles entscheidenden Wachstumsindikators, des Bruttoinlandsprodukts (BIP), hängt maßgeblich davon ab, dass es immer weniger Gesunde gibt und immer mehr Kranke.
Wer das merkwürdig findet, vergegenwärtige sich, dass das irreführend so genannte „Gesundheitswesen“ seit 1950 von einem 2-Millionen-Geschäft zu einer 350-Milliarden-Maschine eskaliert ist, deren Umsätze inzwischen 12 Prozent des BIP ausmachen (1) und die mit etwa 5,5 Millionen Beschäftigten (2) fast jeden sechsten Arbeitsplatz in Deutschland stellt. (3) Nicht einberechnet sind hierbei Zulieferer, Handwerker, Beschäftigte der „Wellnessbranche“ sowie Heilpraktiker, Homöopathen und alle nicht behördlich als Gesundheitsdienstleistende anerkannten Behandler. (4) Zählte man all diese und ihre Leistungen hinzu, betrüge der BIP-Anteil des Krankheitswesens wohl zwischen 15 und 20 Prozent.
Weshalb das BIP zerstörerisch wirkt, als Teufelszahl im Schafspelz, (5) habe ich an anderer Stelle ausführlich dargelegt. Hier wollen wir uns nur erinnern, dass wir die Zahl nicht loswerden, allem Bemühen von Nobelpreisträgern zum Trotz: (6) eine Zahl, die Wirtschaftstätigkeit emotionslos misst und folgerichtig ganz ungerührt bleibt, wenn Sie morgens unfallfrei zur Arbeit fahren (BIP-Zuwachs = 7,50 Euro), hingegen gewaltiges, positives, wünschenswertes Wachstum mittels Freudensprung nach oben signalisiert, wenn Sie einen schweren Unfall mit zwanzig Totalschäden und vielen Schwerverletzten verursachen (BIP-Zuwachs = 1.250.007,50 Euro).
„Wachstumsbranche auf Erfolgskurs“
Die explodierenden Kosten des Krankheitssystems bereiten daher auch dem zuständigen Gesundheitsministerium nicht etwa Sorgen, sondern lösen regelrechte Begeisterungsstürme aus. Die alljährlichen Berichte preisen in den höchsten Tönen den „Beschäftigungsmotor“, (7) die „Wachstumsbranche auf Erfolgskurs“, (8) deren „durchschnittliche Bruttowertschöpfung“ mit „3,5 Prozent deutlich schneller wächst als die Gesamtwirtschaft“, und man spart auch nicht mit Exportweltmeister-Lob für den erklecklichen Außenhandelsüberschuss der Branche (21 Milliarden Euro im Jahr 2014). (9)
Verständlicherweise findet sich in öffentlichen Verlautbarungen nicht der leiseste Hinweis darauf, dass all dieses Wachstum vor allem bedeutet, dass die Leute nicht direkt gesünder werden, aber das wäre ja auch gar nicht gut. Im Gegenteil: Zunehmende Gesundheit wäre alarmierend für das Gesundheitsministerium, bedeutete sie doch abnehmendes Wachstum oder gar eine Schrumpfung des so überaus erfolgreichen Sektors. Anlass zur Sorge besteht aber diesbezüglich offenkundig nicht.
Über die (vordergründig) dramatischen Fehlentwicklungen in unserem Krankheitssystem haben nun in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe von Whistleblowern und Aufklärern, meist Experten mit medizinischem Hintergrund, kluge und schockierende Bücher vorgelegt. Eine kommentierte Literaturliste finden Sie im Anhang [des Buches], sofern Sie Interesse an Mafia- und Horrorgeschichten haben, werden Sie dort garantiert fündig. Allerdings hält sich das Publikumsinteresse an diesen Büchern in Grenzen, denn selbst wenn einige Titel kurzzeitig auf der Bestsellerliste stehen, bedeutet das nicht, dass plötzlich Unmengen Leute ihre Nase in ihre eigenen Angelegenheiten stecken. Ein temporärer Platz 15 in der Spiegel-Liste bedeutet nur, dass von 82.000.000 Deutschen den für sie so lebenswichtigen Stoff nicht gelesen haben: circa 81.980.000.
Aber auch wer keines dieser dicken Bücher liest, bekommt ja immer wieder mal am Rande etwas mit von den frischen Skandalen der Pharmaindustrie oder erfährt, dass unsere Krankenhäuser sich in privat betriebene Shareholder-Profitmaschinen verwandelt haben. Gerade dieses Wissen aber – so viele Skandale sind längst von klugen Menschen aufgedeckt und veröffentlicht, niemand muss noch Wikileaks bemühen, um alle Fakten, frei von „Verschwörungstheorien“, zu erfahren – führt uns kognitiv aufs Glatteis. Denn wir sind ja nicht im Wilden Westen, sondern in der Zivilisation – und wenn all diese „Ermittler“ Skandale offenlegen, gehen wir doch unausgesprochen, selbstverständlich davon aus, dass sich um diese Schweinereien schon jemand kümmern wird.
Wenn Peter Goetzsche belegt, dass in den USA jedes Jahr zwischen 210.000 und 250.000 Menschen (10) an ärztlichen Behandlungen und an vorwiegend verschreibungsgemäß eingenommenen Medikamenten sterben (iatrogene Todesfälle), und wir davon ausgehen können, dass die gleiche Zahl an europäischen Opfern hinzukommt (sowie ein paar weitere Millionen nicht Tote, aber iatrogen Verstümmelte und chronisch Erkrankende), ist das ein Riesenskandal, ein unfassbares Drama. Eine knappe halbe Million Todesopfer im zivilisierten Norden? Pro Jahr? Verursacht nicht etwa durch „Kunstfehler“ oder falsch eingenommene Mittel, sondern durch vorschriftsgemäßes Handeln von Arzt und Apotheker? Undenkbar, das kann nicht sein.
Wäre das so, liefen doch jeden Abend zur besten Sendezeit Brennpunkte in allen Programmen, bis diese Epidemie historischen Ausmaßes besiegt und verschwunden ist. Diesen Massenmord müsste, würde doch sofort jemand abstellen. Nämlich unsere Behörden, unsere Regierung. Irgendwer, den wir doch genau dafür eingesetzt haben und bezahlen, dass er uns vor Betrug und Missbrauch schützt – erst recht aber vor Verstümmelung und Ermordung, also: unsere körperliche Unversehrtheit. Denken wir.
Und so denken wir auch, wenn wir ein halbes Jahr nach der jüngsten uns zu Ohren gekommenen Skandalmeldung zum Arzt gehen, darum werde sich ja wohl in der Zwischenzeit jemand gekümmert haben. Hat aber keiner. Und das liegt nicht daran, dass das System versagt hätte. Es liegt daran, dass das System funktioniert. Ben Goldacre konstatiert zutreffend, stellvertretend für so viele Kritiker: „Medicine is broken“ (11) – die Medizin ist kaputt.
Höhere Systemgesetze
Aber die Medizin, das Krankheitswesen, ist eben kein Sonderfall, keine kaputte Insel, denn sie gehorcht höheren Systemgesetzen. So hat Spezialist Goldacre recht, springt aber doch zu kurz und erweckt gar, wie alle Kämpfer für die Gesundheit, den Eindruck, man könne die kaputte Medizin reformieren, ohne den Rest des Systems zu reparieren. Das ist falsch.
Unser Krankheitssystem ist eingebettet in einen größeren Zusammenhang. In diesem Zusammenhang gilt das erste Gebot von Kanzlerin Merkel: „Ohne Wachstum ist alles nichts.“ Droht in diesem System eine wachstumstreibende Branche wie die Autoindustrie, die deutlich kleiner ist als die Gesundheitsbranche, durch innere oder äußere Faktoren gebremst zu werden, greift man daher notfalls sogar zu radikalen Maßnahmen und beschließt auf Kosten aller eine Schrottprämie. Gerät das Bankwesen unter Druck, rettet man es per Bail-out. Und kommt ein Schlaumeier auf die Idee, „geldwerte Leistungen“ einfach nachbarschaftlich über den Gartenzaun zu verschenken – was fürs BIP reines Gift ist –, ändert man die Steuergesetze.
Das Krankheitswesen, fest eingebettet in dieses größere System, will und muss wie alles andere wachsen. Aber während das Weiterwachsen beispielsweise der Autoindustrie „nur“ bedeutet, dass wir uns auf Teufel komm raus alle paar Jahre ein neues Auto kaufen müssen, bedeutet Wachstum in der Krankheitsbranche: mehr Kranke. Was also Goldacre, Goetzsche und alle anderen Aufklärer beschreiben, ist nicht das Versagen des Systems, sondern seine gewünschte Funktionsweise, sein Triumph.
Je kränker wir sind, desto besser geht es der Maschine
Die Krankheitsmaschine läuft – wie gewünscht, wie geschmiert. Wir müssen uns nur klarmachen, was das bedeutet: dass das Ziel der Maschine eben nicht dasselbe ist wie unseres, sondern das genaue Gegenteil. Denn je gesünder wir sind, desto schlechter geht es der Maschine. Je kränker wir sind, desto besser geht es der Maschine. Alles, was medizinisch vernünftig wäre, rasche Gesundung beförderte und chronische Krankheit vermiede, ist daher schlicht geschäftsschädigend – und schlecht fürs BIP.
Deshalb behandelt die Maschine nicht Kranke, sondern Krankheit, deshalb ist ihr Produkt nicht Gesundheit, sondern der Kranke – und wir sind in diesem System lediglich Brennstoff, nicht etwa Reiseteilnehmer. Deshalb honoriert das System jeden Zuwachs an Krankheit, nicht an Gesundheit. Das Interesse dieser Maschine an Gesunden ist gleich null. Die oben beschriebene Iatrogenik trifft hier auf verhängnisvolle Weise mit dem „Prinzipal-Agent-Problem“ zusammen, das auftritt, „wenn eine Seite (der „Agent“, der Beauftragte) persönliche Interessen verfolgt, die mit den Interessen desjenigen, der seine Dienste in Anspruch nimmt (des „Prinzipals“, des Auftraggebers), nicht übereinstimmen. (12)
Wir tun uns indes schwer, das einzusehen. Die Unzähligen, die ihren Lebensunterhalt mit Krankheit verdienen, sind wohl entschuldigt, denn Upton Sinclairs Wort gilt weiterhin: „Ein Mensch lässt sich schwerlich bewegen, etwas zu verstehen, wenn sein Gehalt davon abhängt, dass er es nicht versteht.“ (13) Aber auch alle anderen, die nicht von Kranken leben, geraten hier kognitiv in schwere Dissonanz – unsere Ratio kollidiert mit unseren festen Überzeugungen: Das kann doch gar nicht sein, der Kranke als Benzin, nicht als Passagier? Das wäre doch ... krank. Und unanständig. Und überhaupt, das ist doch gar nicht wahr, es steht doch „Gesundheitssystem“ drauf, nicht „Krankheitssystem“.
Es ist beeindruckend, wie gründlich wir uns von Worten, von „Neusprech“ in die Irre führen lassen, ebenso beeindruckend wie die Marketingarbeit der Krankheitsindustrie. Könnte die Autobranche ebenso perfekt Gehirne waschen, wären wir alle heute felsenfest davon überzeugt, Volkswagen und andere arbeiteten rund um die Uhr an der Abschaffung von Straßen.
Zur Auflösung dieser unangenehmen inneren Dissonanz stehen uns nun mehrere Wege offen, die bequemsten und meistgewählten sind: Herunterspielen, Nichtwahrnehmen und selektives Weglassen von Informationen, also die Beibehaltung der ursprünglichen Überzeugung. Verständlicherweise, denn der andere Weg zur Auflösung der Dissonanz wäre eine Anpassung des eigenen Verhaltens an eine neue Überzeugung. Und das ist nicht nur mühsam und unangenehm, es verheißt auch Frustration, da ja der Einzelne nicht das Gesamtsystem verändern kann.
So resultiert aus der traurigen Erkenntnis, dass das System primär sich selbst dient und nicht dem Erkrankten, nichts sonderlich Zielführendes: Zwar kann man diesen Zustand beklagen oder doof finden oder empörend – als interessierter Bürger, als Weltverbesserer, als Mensch –, aber mangels Verbündeter kann man ja offenkundig nichts daran ändern. Und wer wollte sich freiwillig selbst dauernd frustrieren? Zumal ja die Funktionsweise des Systems, solange wir gesund sind, nicht lebensgefährlich ist – jedenfalls nicht für uns selbst. Erst wenn wir selbst zu Patienten werden, wenn wir uns doch selbst an das System wenden (müssen), weil wir krank sind oder uns krank fühlen, wird es heikel. Daher müssen wir uns als Patienten in spe – selbstschützend – von ein paar weiteren Illusionen verabschieden.
Selbstheilung unerwünscht
Primär müssen wir uns von der Prämisse verabschieden, unsere, Ärzte, Behandler, Krankenkassenmitarbeiter, Krankenhausbetreiber, Medikamentenhersteller, Forscher müssten ein Interesse daran haben, uns gesundzumachen. Haben sie aber nicht – und zwar nicht, weil sie schlechte Menschen wären, sondern weil sie an unserer Gesundheit kein Interesse haben können. Weil das System sie bestraft, wenn sie unsere Gesundheit fördern. Das heißt: Es wird ihnen systematisch ungeheuer schwer gemacht, unsere Gesundheit überhaupt befördern zu wollen. Verfolgen sie dieses Interesse ernsthaft, müssen sie waghalsige Helden sein, mutige Gutmenschen reinsten Wassers, denn in diesem Fall setzen sie sich der Gefahr aus, pleitezugehen, ihren Arbeitsplatz, ihre Approbation zu verlieren oder gar vor Gericht zu landen.
Diese Konstruktion ist nur konsequent. Denn da Gesundheit dem BIP schadet, ist Selbstheilung gänzlich unerwünscht. Wer nicht zum Arzt geht, schadet dem BIP. Wer andere Menschen heilt, und zwar so, dass sie dem System gesundet fernbleiben, schadet dem BIP. Wer innerhalb des Systems versucht, Gesundheit herzustellen, schadet dem BIP, wird ausgestoßen und verliert seine Lebensgrundlage. Wer von außen versucht, Gesundheit herzustellen, bedroht das Einkommen derer, die vom System leben. Und wird zum Paria, denn er wendet sich, mehr oder weniger frontal, gegen das erste Gebot, gegen das Dogma: „Ohne Wachstum ist alles nichts.“ Wer hier „Abwarten und Weglassen“ empfiehlt, ist aber nicht nur ein Saboteur, sondern auch naiv.
(…)
Nun fehlt also nur noch eines zum Endsieg, zum Systemnirwana – neue, wieder nicht evidenzbasierte Leitlinien sowie der nun endlich zum Gesetz verabschiedete, vernünftige Zusatz: Wer an der mysteriösen Erkrankung N. N. leidet und sich den studien- und leitliniengestützten Empfehlungen des Experten, also Facharztes entzieht, mithin „nicht selbst aktiv seine Genesungschancen verbessert, verliert, da er die Solidargemeinschaft zu schädigen sucht“ (14), seinen Anspruch auf Lohnfortzahlung, Krankengeld und/oder wenig später Hartz IV. Dieser Schritt ist überfällig und nur vernünftig, denn was bleibt dem dringend krankheitsbedürftigen System am Ende übrig, um auch die Renitenten, die Nichterfassten, die Verweigerer gefügig zu machen? Man wird sie zu ihrem Glück zwingen müssen. Und, ja, natürlich werden fürsorgliche Ärzte, Kassen und Behörden die Folgsamkeit, die Compliance aller „Kranken“ rund um die Uhr überwachen, ganz ohne Hausbesuche. Das ist die Zukunft.
(…)
Wir sind Objekt, nicht Subjekt
Treten wir einen Schritt zurück und betrachten das Wirken der Maschine, müssen wir indes anerkennen, dass sie auf faszinierende Weise effektiv arbeitet. Künstliche Intelligenz kann seit Jüngstem sogar unseren Todeszeitpunkt verblüffend korrekt vorhersagen, (15) während die KI-Programmierer selbst gar nicht mehr nachzuvollziehen in der Lage sind, wieso die Prognosen ihrer Schöpfung so überaus zutreffend sind. Die gern bemühte Matrix-Horrorvision der Geschwister Wachowski ist im Krankensystem längst Realität, ganz ohne plakative Menschenkörpertanks – die Maschine ernährt sich von uns. Wir sind Objekt, nicht Subjekt, Nahrung, nicht Kunde, Benzin, nicht Passagiere, denn nicht unsere Gesundheit ist essenziell, sondern unsere Krankheit.
Diese faszinierende Maschine ist ehrfurchtgebietend groß, mächtig und unzerstörbar – weil zu viele von ihr profitieren, manche als CEO-Vorarbeiter, die meisten als Schaffner, Mechaniker und Kellner, billig eingekauft. Und steckten wir selbst nicht als Brennstoff mittendrin in diesem Wunderwerk, wäre es wohl schlicht spannend, weiter zu beobachten, wohin das alles führen wird – ob die Maschine am Ende alles selbst konsumiert oder uns qua autoaggressiver Explosion anderweitig mitreißt oder eben vorher Wege findet, nur 70 Prozent (16) von uns loszuwerden und den Rest unter sich und ihresgleichen auszumachen. Sicher zur Freude unseres Planeten, aber ebenso sicher nicht zu unserer.
Wer kann es uns verdenken, dass wir, statt den Kopf zu wenden und diese Wirklichkeit anzuerkennen, doch den Blick lieber weiterhin fest die Höhlenwand gerichtet halten beziehungsweise, mit gesenktem Kopf, auf die Höhlenwand 2.0, unser Smartphone. Was dort geboten wird, ist, ohne Frage, amüsanter.
Der kleinen Gruppe von Spaßbremsen aber, die weiterhin stur die Realität anerkennt, und umso sturer frei denken und leben will, verbleibt ein Hoffnungsschimmer, ein kleiner Rest Souveränität, ihr Leben selbst lebenswert zu gestalten. Denn noch sieht die Maschine nicht alles, noch werden wir nicht zur uns selbst schadenden Compliance gezwungen. Noch können wir gesund bleiben – oder es wieder werden. Noch.
Wie lange? Zwei Jahre? Fünf?
Beeilen wir uns, die letzten Prämissen zu korrigieren – intern – und so gesund zu sein und zu bleiben (oder wieder zu werden), dass uns das System nicht findet.
Sven Böttcher: „Rette sich, wer kann. Das Krankensystem meiden und gesund bleiben“, 240 Seiten, 18 Euro
Über den Autor: Sven Böttcher, Jahrgang 1964, ist Schriftsteller und Drehbuchautor. Zuletzt erschienen: „Die ganze Wahrheit über alles – Wie wir unsere Zukunft doch noch retten können“ (Westend, 2016, mit Mathias Bröckers), „Die Apotheker“ (Roman, Rubikon, 2020), „Wer, wenn nicht Bill? Anleitung für unser Endspiel um die Zukunft“ (Rubikon, 2021).
Anmerkungen
(1) Die Gesundheitsausgaben beliefen sich im Jahr 2014 auf rund 344,2 Milliarden Euro – das entspricht 4.213 Euro je Einwohner und einem Anteil von 12 Prozent am Bruttoinlandsprodukt. Die jährliche Wachstumsrate liegt bei im Industrievergleich höchst erfreulichen 2 bis 3,5 Prozent, woraus sich per vorsichtiger Schätzung für Ende 2017 die „etwa 350 Milliarden“ ergeben.
(2) Die „5,5 Millionen“ sind abermals eine Schätzung unter verhaltener Annahme, denn „insgesamt waren zum 31. Dezember 2015 rund 5,3 Millionen Beschäftigte in Deutschland im Gesundheitswesen tätig. Im Vergleich zum Vorjahr ist die Zahl um 112 000 (+ 2,2 %) gestiegen“. Zum 31. Dezember 2017 ergibt sich daraus der genannte Wert von circa 5,5 Millionen.
(3) Die Gesundheitswirtschaft ist nach der Bankwirtschaft auch zweitgrößter „Verbraucher“ von BIP – und dank alljährlicher staatlicher Milliardenhilfen de facto permanent im Modus »bail-out«. Vgl. Gerd Reuther: Der betrogene Patient. Ein Arzt deckt auf, warum ihr Leben in Gefahr ist, wenn Sie sich medizinisch behandeln lassen (Riva 2017), S. 260 f.
(4) „Nicht zu den Beschäftigten im Gesundheitswesen gezählt werden ehrenamtlich Tätige sowie Beschäftigte, die als Beauftragte aus anderen Sektoren in Einrichtungen des Gesundheitswesens tätig sind. Dies können z. B. Handwerkerinnen und Handwerker sein, die Reparaturen in einem Krankenhaus durchführen, deren Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber aber ein Handwerksunternehmen ist. [...] Beschäftigte aus dem expandierenden Bereich ›Wellness‹ werden innerhalb der Gesundheitspersonalrechnung nicht berücksichtigt, da hier die Bewältigung oder Linderung von Gesundheitsproblemen nicht vornehmliches Ziel ist.“ – Quelle
(5) Vgl. „Ruhe in Frieden, Bruttoinlandsprodukt“, Rubikon, 6. Mai. 2017. Ausführlicher in Böttcher/Bröckers: Die ganze Wahrheit über alles (Westend 2016), dort umzingelt von 70 weiteren Diagnosen.
(6) Eine Alternative zum BIP wird spätestens seit 2009 dringend, aber erfolglos gesucht. Die vom französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy eingesetzte Stiglitz-Kommission forderte schon damals, die Politik müsse „schnellstens“ handeln, konnte allerdings keinen konsensfähigen Vorschlag vorlegen, obwohl Einigkeit bestand (und weiter besteht), dass das BIP nichts taugt. Das ist nichts Neues, denn Robert Kennedy wusste ja schon 1968: „Das BIP misst weder unseren Verstand noch unseren Mut, weder unsere Weisheit, noch unser Mitgefühl [...]. Es misst kurz gesagt, alles außer dem, was das Leben lebenswert macht.“ Diese Einschätzung von Kennedy über BIP-Erfinder Kusnets bis Stiglitz teilte auch die „schnellstens“ vom deutschen Bundestag 2013 eingesetzte Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ – ohne daraus jedoch bis heute irgend etwas Nützliches entwickelt zu haben. Bislang ist nämlich niemand auf den Trichter gekommen ist, was bei unserem „neuen BIP“ der gemeinsame Nenner sein könnte von Zufriedenheitsniveau, Lebensdauer und Größe des ökologischem Rucksacks. Mangels Genies debattieren wir uns also fröhlich weiter einen Wolf und stören das BIP nicht bei seiner zerstörerischen Arbeit.
(7) „Das deutsche Gesundheitswesen bleibt ein Beschäftigungsmotor [...] Von 2009 bis 2014 stieg die Zahl der Arbeitskräfte um 10 Prozent (476.000). Die Altenpflege erwies sich als der stärkste Wachstumssektor.“ – Pressemeldung des Bundesgesundheitsministeriums, 27. Januar 2016).
(8) „Die Gesundheitswirtschaft ist eine Wachstumsbranche auf Expansionskurs. Ihre Bruttowertschöpfung ist in den letzten elf Jahren mit einem durchschnittlichen jährlichen Wachstum von 3,5% deutlich schneller als die Gesamtwirtschaft gewachsen. [...] Die von der Gesundheitswirtschaft im Jahr 2016 generierte Bruttowertschöpfung betrug rund 12 Prozent des Bruttoinlandsproduktes.« – Bundesgesundheitsministerium, Pressemitteilung zur Bedeutung der Gesundheitswirtschaft).
(9) Im Jahr 2014 exportierten die Unternehmen der Gesundheitswirtschaft Güter im Wert von rund 106,7 Milliarden Euro. Den Exporten standen Importe in Höhe von 85,7 Milliarden Euro gegenüber, damit ergab sich ein Außenhandelsüberschuss von 21 Milliarden Euro. (Bundesgesundheitsministerium, ebd.)
(10) „Around 100 000 people die each year in the United States because of the drugs they take even though they take them correctly. Another 100 000 die because of errors, such as too high dose or use of a drug despite contraindications. [...] The European Commission has estimated that adverse reactions kill about 200000 EU citizens annually (at a cost of 79 billion) [...]. This means that in the United States and Europe drugs are the third leading cause of death after heart attack and cancer.“ – Peter Goetzsche: Deadly Medicines And Organized Crime. How Big Pharma Has Corrupted Healthcare (Radcliffe 2013), S. 259. Deutsche Ausgabe: Tödliche Medizin und organisierte Kriminalität (Riva 2015) Das ist nur die Spitze des entsetzlichen Eisberges, denn zu diesen 300.000 bis 500.000 Todesopfern kommen weitere Millionen, die nicht sterben, aber ernste lebenslange „Medikamentenschäden“ davontragen, die sie zu Behinderten und Pflegefällen machen (vgl. ebd. S. 260 f.). Vgl. auch: Ärzteblatt: US-Studie: Medizinische Irrtümer dritthäufigste Todesursache, 4. Mai 2016
(11) Ben Goldacre: Bad Pharma. How Drug Companies mislead doctors and harm patients, S. IX.
(12) Vgl. Nassim Nicholas Taleb, Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen, S. 175.
(13) „It is difficult to get a man to understand something, when his salary depends on his not understanding it.“
(14) Polit-Mietmaul N. N., herbeizitiert aus der nahen Talkshow-Zukunft (2020 ff.).
(15) Die Todeszeitpunktvorhersage ist in Arbeit, die Stanford University ist schon verblüffend nah dran (vgl. „Stanford’s AI Predicts Death for Better End-of-Life Care“, IEEE Spectrum, 16. Januar 2018). Das behauptete Ziel der KI-Offensive ist natürlich: „Wir wollen die Patienten doch lieber zum Sterben nach Hause schicken.“ Wer’s glaubt, wird garantiert selig. Denn es lässt sich ja nicht von der Hand weisen, dass die Maschine sich bei vorhandener prima Prognose rechtzeitiger vorbereiten könnte – und so unsereins schon sechs Wochen vor unseren Tod teuer umsorgen kann, damit wir nicht auf den letzten Metern noch den Konsum verweigern. Wer dem Link folgt, wundere sich nicht über die Nonchalance, mit der inzwischen in der Tech-Szene darüber berichtet wird, dass die (korrekten!) Prognosen der KI für uns Menschen gar nicht mehr nachvollziehbar sind.
(16) 30 Prozent Entwarnung: Die Menschheit stirbt beileibe nicht aus! Zu den in naher Zukunft entbehrlichen 70 Prozent zählen weder jene, die fast allen Besitz der Welt auf sich vereinen (10 Prozent) und auch nicht jene, die sich als Handwerker und Sklaven nützlich machen können (20 Prozent). Noch werden wir (70 Prozent) indes gebraucht, als Mittel zum BIP-Zweck „Wachstum“. Es ist zwar unklar, wie lange noch, aber bis zum Release-Date des neuen iPhone wird’s garantiert noch reichen. Also nur die Ruhe, für alles Wichtige ist gesorgt: Don’t panic!
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