Deutsche Immunschwäche
MICHAEL ANDRICK, 4. März 2024, 4 Kommentare, PDFSystematisches spalterisches Handeln half den Nationalsozialisten dabei, den Boden zu bereiten für die systematische Stigmatisierung, soziale Ausgrenzung, Verfolgung und schließlich die Ermordung von Millionen Juden und anderen für missliebig oder minderwertig erklärten Menschen in ihrem gesamten Einflussgebiet. Beim Bemühen um Aufarbeitung des deutschen Menschheitsverbrechens wurde diese Erfahrung ausführlich erforscht, reflektiert und auch künstlerisch bearbeitet. In diesem Zuge wurde eine politische Kultur erschaffen, die eine differenzierte Sprache für die sozialen und politischen Mechanismen enthält, die den Weg in Holocaust und Vernichtungskrieg ebneten. Jedoch ist es sozial faktisch inakzeptabel, das Wiedererscheinen dieser Mechanismen im Regierungshandeln oder auf irgendeiner anderen Ebene der Staatsverwaltung festzustellen. (1)
Schließlich sind diese totalitären Tendenzen und Dynamiken gerade das, wogegen die deutschen Staaten des Nachkriegs gegründet wurden. Schon die bloße Möglichkeit, dass solche Verhaltensweisen „bei uns“ noch eine destruktive Rolle spielen könnten, ist tabuisiert. Das legt die Vermutung nahe, dass keine Gesellschaft in Europa so anfällig für den Rückfall in totalitäre Muster ist wie die deutsche.
Diese These wird auch nach genauerer Erklärung kontrovers bleiben und ich lasse mich hier gern widerlegen. Kann meine Begründung aber überzeugen, oder doch wenigstens nicht einfach von der Hand gewiesen werden, so ist damit ein weiterer Teil der bundesdeutschen Kultur beschrieben, der unser Abgleiten ins undemokratische, autoritarismusaffine Regime des Moralismus nachvollziehbar macht.
Neben der Krisenhäufung, die sich aus historisch hoher Einkommens- und Vermögensungleichheit mit entsprechender Korrumpierung der Politik ergibt, wirken hier in Deutschland meines Erachtens auch tiefwurzelnde historische Tendenzen. Sie können die psychologischen Muster sowie das Tun und Lassen Einzelner stark prägen, ohne als solche ins Bewusstsein vorzudringen.
Das sage ich auch aus langjähriger eigener Erfahrung beim Philosophieren: Erst Mitte 2022, nach 25 Jahren politischen Lebens und Studiums in und um Deutschland, habe ich erstmals einen solchen Gedanken gefasst und ihn in der Wochenzeitung Der Freitag unter dem Titel „Hat unser Staat totalitäre Tendenzen?“ ausformuliert. (2)
In Deutschland kennen wir den Begriff der „Vergangenheitsbewältigung“, der eine eigene Abhandlung wert wäre. Kann Vergangenheit „bewältigt“ werden? Was wäre eine „bewältigte“ Vergangenheit? Eine, die einmal und für immer gültig interpretiert ist? Eine, von der wir weiter nichts zu lernen haben als das, was wir schon aus ihr gelernt zu haben meinen? Deren Ganz-anders-Interpretation dann was genau wäre? Ein Gedankenverbrechen?
Blindheit für die Taktiken autoritärer Politik
Diese Fragen lassen wir hier beiseite. Die Gegenwart „bewältigt“ geglaubter Vergangenheit jedenfalls besteht nach meiner Beobachtung in der Unfähigkeit, die Wiederkehr von Mustern und Praktiken genau dieser „bewältigt“ geglaubten Epochen im offiziellen Handeln des deutschen Staates zu bemerken. In Deutschland herrscht bei vielen Blindheit für die Taktiken autoritärer Politik, wie zum Beispiel Moralisierung und Demagogie, und ein Diskurs-Tabu, diese an der aktuellen Politik zu bemerken.
Es herrscht Blindheit für spalterisches Handeln und Unwissen über diese Blindheit. Das zeigt sich unzweifelhaft daran, dass eine ausgeprägte Solidaritäts- und Zusammenhalts-Rhetorik in Deutschland selbst für die offizielle propagandistische Flankierung gesellschaftlicher Diskriminierung á la 2G/3G herangezogen wurde.
Dem Selbstverständnis der Bundesrepublik und ihrer staatstragenden Schichten zufolge gibt es keine an Faschismus und totalitäre Gesinnung gemahnenden Tendenzen in Deutschland, weil es sie gar nicht geben kann. Hat nicht Deutschland durch umfängliche historische Forschung, durch Schulunterricht zum Dritten Reich bis zur Überdrussgrenze, durch ständige TV-Bearbeitungen des Themas und einen ganzen Jahreszyklus von Gedenkveranstaltungen zu unterschiedlichen Aspekten und an unterschiedlichen Orten des Geschehens alles getan, um aufzuklären und „so etwas“ künftig zu verhindern?
Was nicht sein darf, was nicht wieder werden darf, wurde eindeutig festgestellt und aufgeschrieben: keine (wie es heute genannt wird) „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“, keine Volksverhetzung (Demagogie), kurz: nichts mehr, was auch nur in Richtung Autoritarismus und Totalitarismus deutet.
Dieses „Wehret den Anfängen“ wurde per Grundgesetz allen Offiziellen und allen Bürgern der Bundesrepublik zur Pflicht gemacht. Der Würdeschutz ist erster und oberster Staatsauftrag, und nach Grundgesetz Paragraf 20, Absatz 4 muss jeder Bürger sich aktiv Bestrebungen entgegenstellen, die auf die Abschaffung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung hinauslaufen, die unsere Würde garantieren soll.
Diese moralisch grundierte Staatsräson macht die kategorische Distanzierung von Unmenschlichkeiten aller Art – unter ständiger Mobilisierung superlativen moralischen Vokabulars – bis heute zum festen Bestandteil des offiziellen Diskurses der Nachkriegsdeutschen. Wir leben in einem „Nie-wieder“-Staat, der sich auch als moralische Anstalt zur Verhütung totalitärer Tendenzen definiert.
Verfemung von Minderheiten mit Grundgesetz unvereinbar
Moralische Verfemung von Minderheiten und demagogische Aufhetzung von Bevölkerungsgruppen gegeneinander – Spielarten spalterischen Handelns – sind mit dem Geist des Grundgesetzes offenkundig unvereinbar. Ähnliches können wir auch über die ehemalige DDR sagen, die sich als antifaschistischer Einparteienstaat konstituierte.
Psychologisch ist es sehr bemerkenswert und passend, dass Staatsvertreter vom Bundespräsidenten über die Bundes- und Länderminister bis hin zum Landrat nicht zögern, abseits von sich selbst in der Gesellschaft „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ und „Extremismus“ vor allem im politisch rechten oder konservativen Lager auszumachen und anzuklagen.
Das stand aber einer oft mit vollster Überzeugung durchgesetzten gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit gegen „Ungeimpfte“ nicht im Wege. Als Projektion bezeichnet man in der Psychologie die unbewusste Zuschreibung eigener Affekte und Strebungen an jemand anderen. Dieser Abwehrmechanismus dient der Beruhigung von Angst und der Aufrechterhaltung des Selbstbildes, das mit den Eigenschaften oder dem Verhalten, das man auf andere projiziert, unvereinbar wäre.
Das Wiedererscheinen altbekannter Taktiken intoleranter, gewaltsamer, kompromissloser, sogar den Tod vieler Menschen in Kauf nehmender, sagen wir also: totalitärer Politik auf deutschem Boden anzuerkennen, wäre der ultimative sittliche Offenbarungseid für uns Deutsche. Es wäre die moralische Selbstdemontage unseres Gemeinwesens. Das ist eine große psychologische Fallhöhe.
Die Fundamente der Republik könnten dann als hohl und gar als lügenhaft erscheinen, das Hinsehen auf diese Entwicklung und das allerheikelste Besprechen-Müssen dieses Bankrotts unseres Staats- und Sittlichkeitsmythos müssten die Höchststrafe für die Selbstachtung besonders der staatlichen Funktionseliten darstellen.
Deshalb besteht bei uns in Deutschland die Tendenz, lieber nicht konsequent alle offenkundigen historischen Parallelen anzusprechen und zu durchdenken, wenn uns spalterisches Handeln in Form von moralisierender Diffamierung von Minderheiten oder demagogischer Aufhetzung von Bevölkerungsgruppen gegeneinander entgegentritt. (3)
Wir Deutsche leben in einer Schlussstrich-Mentalität, die sich aus unserer gut gemeinten und auch weitenteils verdienstvollen „Vergangenheitsbewältigung“ nach der NS-Diktatur ergeben hat. Sie zeigt sich darin, dass wir die Erinnerung an deutsche Verbrechen als etwas Vergangenes nicht enden und die Reflexion des weltweiten Wiedererscheinens einiger Elemente dieser Verbrechen in den Jahren 2020 bis 2023 nicht beginnen lassen mögen. Repressive Politik und das Aufleben eines kleinlichen, denunziatorischen Verfolgungsgeistes sind eben in Deutschland nicht unmöglich geworden.
Schamhafter Vermeidungswunsch
Auch eine kollektive Furcht vor Selbstbegegnung und Versagen vor dem moralischen Anspruch der Republik hat sich mit dem Regime des Moralismus die ihr gemäße Gesellschaftsform errichtet. Das drückt sich im Moralgefängnis unserer Gesellschaft deutlich in der Markierung von Diskurs-Tabuzonen aus, die in aller Regel im großen Bogen umgangen werden – auch weil sie einem stillen und schamhaften Vermeidungswunsch entgegenkommen.
Die Problematisierung von historischen Vergleichen, etwa aktueller Erfahrungen der Pandemiepolitik mit Praktiken totalitärer Staaten der Vergangenheit und der Gegenwart, gehört zu unserer Schlussstrich-Mentalität. Aber begriffliches Denken beinhaltet immer Vergleichung. Man muss schließlich bei jeder Begriffswahl entscheiden, ob ein Phänomen unter diesem oder doch nicht eher unter jenem Konzept am besten verstanden wird. Den offenen Austrag von Meinungsverschiedenheiten über diese Frage nennt man passend das Schärfen eines Begriffs.
Die Operation der Vergleichung ist das Nachdenken selbst. Die Reflexion leichtfertig durch Vorwürfe wie „Russland-Propaganda!“, „US-Propaganda!“, „Wissenschafts-Leugnung“ oder gar „Relativierung der NS-Zeit!“ beziehungsweise „des Holocaust“ mit Angst und Nervosität zu belasten, bedeutet, den Bürgern Zonen des Nachdenkverbots auszuschildern. Ich meine, dass wir diesen Zonen dann auch instinktiv nicht ungern fernbleiben; die Gefahr eines falschen Wortes und seiner unabsehbaren Folgen wirkt als Zensurschere im Kopf.
Nachdenkverbote aber sind Verdummungsgebote. Sie führen zur ängstlichen Unterlassung des kritischen Hinterfragens gerade in den Situationen, wo es Entscheidendes zu lernen und neue Katastrophen zu verhüten gilt. Es liegt eine bittere Ironie in der bitteren Geschichte der Deutschen: Unsere politische Kultur verleidet uns das Nachdenken gerade über die Phänomene, die das neuerliche Abstürzen unseres Gemeinwesens in ein destruktives Regime des Moralismus und der Demagogie in großen Neonlettern markieren.
Michael Andrick, „Im Moralgefängnis“, Westend, 160 Seiten, 18 Euro
Über den Autor: Dr. Michael Andrick, Jahrgang 1980, promovierte in Philosophie und ist seit 2006 in Großunternehmen tätig, unter anderem drei Jahre als Führungskraft in den USA und als Digitalisierungsmanager in Deutschland. Er schreibt eine regelmäßige Kolumne in der Berliner Zeitung.
Anmerkungen
(1) Die Traumatisierung sowohl der Kriegs- wie oft intergenerational auch der Nachkriegsgeneration spielt für den Umgang der Deutschen mit moralischen und politischen Fragen bis heute eine wichtige Rolle, die hier nicht eingehend behandelt werden kann. Eine psychologische Aufarbeitung dieser Fragen bietet Raymond Unger in seiner Trilogie Die Wiedergutmacher (München 2019), Vom Verlust der Freiheit (München 2021) und Die Heldenreise des Bürgers vom Untertan zum Souverän (München 2023). Grundlegend ist für ihn ein emotionales Defizit der kriegsbetroffenen Generationen: „Der Mangel authentisch-liebevoller Zuwendung durch kriegstraumatisierte Eltern erzeugte bei der Nachfolgegeneration der deutschen Babyboomer Selbstzweifel und Schuldgefühle. Narzisstische Persönlichkeitsmuster, die sich aufgrund des Transtraumas herausbildeten, resonieren in besonderer Weise mit global lancierten Schuld- und Angstnarrativen, hinter denen sich oftmals oligarchische Interessen verbergen“ (Heldenreise, S. 17). Aus dieser Einsicht ergibt sich für Unger nach genauerer psychologischer Untersuchung, warum die Deutschen in der Flüchtlingskrise, aber auch bei Klimaschutz- und Corona-Politik zu einer Übererfüllung normativer Vorgaben unterschiedlichster Stellen mit stellenweise totalitärer Haltung neigten.
(2) In diesem Kapitel verwende ich einige Gedanken und Formulierungen aus diesem Essay (Der Freitag, 35/2022).
(3) Burkhard Müller-Ulrich kommt das Verdienst zu, die übelsten, oft menschenverachtenden Entgleisungen in totalitärem Geist schwarz auf weiß fixiert und herausgegeben zu haben (vgl. die umfangreiche Dokumentation Ich-habe-mitgemacht. Das Archiv des Corona-Unrechts, Basel 2023.) Marcus Klöckner und Jens Wernicke haben bereits zuvor aus dieser umfangreichen Zitatesammlung geschöpft und ihre Auswahl mit einordnenden und theoretisch vertiefenden Überlegungen versehen (vgl. ihr Buch Möge die gesamte Republik mit dem Finger auf sie zeigen, München 2022).
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