Freiheit, Gemeinwohl, Menschheitsfamilie: Über den Afrikanischen Sozialismus
PAUL SOLDAN, 20. Juni 2022, 4 Kommentare, PDFJulius Kambarage Nyerere, 1922 als Sohn eines Häuptlings im Norden Tanganjikas (so der damalige Name Tansanias) geboren, wurde an der Universität Kampala (Uganda) zum Lehrer ausgebildet und studierte anschließend als erster Tanganjikaner in Großbritannien. Dort erwarb er einen Abschluss in Geschichte und Wirtschaft und kehrte daraufhin nach Tanganjika zurück, um seinen einst erlernten Beruf auszuüben. Daraus entstand sein zukünftiger Spitzname Mwalimu – Swahili für Lehrer –, welchen die Tansanier bis heute für ihn gebrauchen.
Nach seiner Rückkehr nach Afrika wurde Nyerere politisch aktiv – Ziel war die Unabhängigkeit. Um diesen Emanzipationsprozess zu beschleunigen, wandelte er 1954 die Organisation „Tanganyika African Association“ in die politische Massenpartei „Tanganyika African National Union“ (TANU) um. Unter seiner Führung setzte sich die TANU für einen friedlichen Wandel ein. Soziale Gleichheit sowie das friedliche Zusammenleben in ethnischer und religiöser Vielfalt wurden gefördert, eigennütziges Stammesdenken sowie jede Form von ethnischer und religiöser Diskriminierung abgelehnt.
Unter seiner Beteiligung erlangte Tanganjika am 1961 die Unabhängigkeit. 1962 erfolgte die Gründung der „Republik Tanganjika“, Nyerere wurde zum Präsidenten gewählt. Mehr als zwei Jahrzehnte lenkte er die Geschicke des Landes – und war auch die treibende Kraft bei der Gründung der „Organisation für Afrikanische Einheit“ (OAU), heute die „Afrikanische Union“. Von 1984 bis 1985 war er Vorsitzender der OAU und wirkte bis zu seinem Tod 1999 als friedensvermittelnder Diplomat auf dem afrikanischen Kontinent.
Ujamaa – Familiengemeinsinn als Fundament
„Sozialismus ist – wie Demokratie – eine Geisteshaltung. In einer sozialistischen Gesellschaft ist es die sozialistische Geisteshaltung und nicht das starre Festhalten an einem bestimmten politischen Schema, wodurch sichergestellt wird, dass man sich im Volk um gegenseitiges Wohlergehen bemüht.“
Laut Nyerere ist das Fundament des afrikanischen Sozialismus „Ujamaa“, das er politisch mit „Familiengemeinsinn“ übersetzte. Die ursprüngliche Bedeutung des Swahili-Wortes lautet „lasst uns alle zusammenarbeiten“, was seinem Bild einer funktionierenden sozialistischen Gesellschaft nahe kam. Das gesellschaftliche Leben sollte nicht durch einen elitär herrschenden Politapparat bestimmt werden, sondern durch die Menschen selbst. Ein marxistisches Klassendenken lehnte er ab, da dieses nicht Teil der afrikanischen Kultur sei. Man könne nicht eine Klasse als seine Brüder ansehen und eine andere als seine natürlichen Feinde.
Grundlage und Ziel des afrikanischen Sozialismus sei, so Nyerere, die Großfamilie, der letztlich alle Menschen auf der Welt angehörten – als Mitglieder einer sich ständig erweiternden Familie. Ein moderner afrikanischer Sozialismus könne von seinem traditionellen Erbe her die Gesellschaft als eine Ausweitung der Grundeinheit Familie verstehen. Jedoch dürfe die Idee der sozialen Familie weder auf die des Stammes beschränkt werden, noch auf die der Nation.
Politische wie gesellschaftliche Systeme, die auf Teilung, Unterdrückung und Ausbeutung aufgebaut seien, stünden in unvereinbarem Widerspruch dazu: „Sozialismus impliziert dem Wesen nach gerechte Verteilung“. Daneben müsse die Organisation der Gesellschaft so beschaffen sein, dass niemand sich zu sorgen brauche, was morgen, im Fall von Naturkatastrophen, Hungersnöten, Krankheit, Arbeitslosigkeit oder sonstigem Vermögensverlust mit ihm geschehen werde, da sich die Gesellschaft stets um ihre Mitglieder kümmere. Diese Absicherung sei tief in der traditionellen afrikanischen Gesellschaft verankert.
Wesen des Kapitalismus
„Der grundlegende Unterschied zwischen einer sozialistischen und einer kapitalistischen Gesellschaft liegt nicht in ihren Methoden, Reichtum zu schaffen, sondern in der Art, wie dieser Reichtum verteilt wird.“
Nyerere sah die wesentlichen Merkmale einer kapitalistischen Gesellschaft in der ungleichen Vermögensverteilung auf der Grundlage von Unterdrückung und Ausbeutung, in leistungslosen Einkommen wie Zins- oder Mieteinkünften, in der Profitgier, um Macht und Prestige zu erlangen, sowie im Konzept, Land zu ökonomisieren.
Ein Ungleichgewicht von Vermögen, das in Gesellschaften Millionäre und Milliardäre hervorbringt, könne nur auf Ausbeutung beruhen. Ein Millionär oder ein Feudalherr seien beide Nutznießer und Ausbeuter der Fähigkeiten und des Unternehmertums anderer. Wenn sich ein Mitglied der Gesellschaft mehr aneigne als Tausende seiner Mitbürger zusammen, dann könne sich das nicht allein aus einer größeren Intelligenz oder härterem Arbeiten begründen.
Land zu ökonomisieren, also es zu privatem Grundeigentum und einer marktfähigen Handelsware zu erklären, sei den afrikanischen Gesellschaften historisch fremd gewesen. „Wir in Afrika haben das Land immer als Besitz der Gemeinschaft angesehen.“ Jeder hätte das Recht gehabt, den Boden zu nutzen, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Auf andere Rechte gab es hingegen keine Ansprüche und, so Nyerere, es wäre auch niemand auf einen solchen Gedanken gekommen.
Auf dieser Basis sei es beispielsweise möglich, dass irgendjemand ein Stück Land als sein privates Eigentum beanspruche, unabhängig davon, ob er es nutzen wolle. Daraufhin könnte sich derjenige auf den Mond begeben und aus dem Pachtzins auf die Nutzung seines Landes das notwendige Einkommen beziehen. Würde sich sein Land sogar noch in einem städtischen Siedlungsgebiet befinden, bräuchte er nur abzuwarten, da die Wertsteigerung automatisch durch die Bebauung der Flächen neben seinem Land ohne sein Zutun erreicht würde. Anschließend könnte er auf die Erde zurückkehren und sein Land für einen exorbitant gestiegenen Marktpreis verkaufen; einen Mehrwert, für den er nichts getan hätte, außer das allgemeine Gut „Land“ zuvor ökonomisiert zu haben, so Nyerere. „Solch ein System ist uns nicht nur fremd, es ist auch völlig falsch.“
Die Profitgier beziehungsweise Gewinnsucht, wie er es ausdrückte, um Macht und Prestige zu erlangen sei unsozialistisch und würde häufig die Besitzer korrumpieren. Zugleich werde in ihnen das Bedürfnis geweckt, ihre Mitbürger auf jede Weise zu übertreffen und sich von ihnen abzuheben, wodurch der Kontrast zwischen ihrem Wohlstand und dem relativen Mangel in der übrigen Gesellschaft praktisch die Basis bilde, um ihren Reichtum genießen zu können. Dies würde eine Spirale des persönlichen Wettbewerbs in Bewegung setzen, die gesellschaftschädigend sei. Das Bedürfnis, privaten Reichtum zu akkumulieren, müsse als Misstrauensvotum gegen das soziale System interpretiert werden.
Unterschied zum europäischen Sozialismus
Der europäische Sozialismus ging zuerst aus der Agrarrevolution und später aus der industriellen Revolution hervor. Die Agrarrevolution schuf zwei unterschiedliche Klassen: eine landbesitzende und eine landlose. Die industrielle Revolution erzeugte dann wiederum die Klasse des modernen Kapitalisten und die des industriellen Proletariats. Beide Revolutionen brachten eine besitzende und eine nicht besitzende Klasse hervor und säten damit einen Konflikt, aus dem der europäische Sozialismus hervorging. Seine Verfechter stilisierten diesen Konflikt obendrein zu einer Philosophie. Bürgerkrieg (Klassenkampf) wurde demnach nicht mehr als eine zu verhindernde Katastrophe betrachtet, sondern als zwingend notwendiges Mittel, untrennbar vom Ziel, weshalb beides zur Grundlage einer ganzen Lebensweise wurde. „Der europäische Sozialist kann sich seinen Sozialismus nicht vorstellen ohne dessen Vater – den Kapitalismus“, so Nyerere. Ohne den Kapitalismus und den Widerspruch, den er in der Gesellschaft verursacht, kann es folglich auch keinen Sozialismus geben.
Der afrikanische Sozialismus benötige für seine Definition hingegen keine Abgrenzung zu anderen Systemen. Er definiere sich nicht als Gegenpol zu einem Feindbild, sondern schließe die „Feinde“ – durch die verbindende Haltung Ujamaa – in seine Ordnung mit ein. Im Zentrum des ökonomischen Handelns stünden die Bedürfnisbefriedigung der Menschen und nicht das Streben nach Profit, Reichtum und Macht. Auch der Begriff „Arbeiter“ habe im afrikanischen Sozialismus nicht dieselbe Bedeutung wie in den beiden anderen Systemen. So sei darunter nicht „Lohnarbeiter“, als Gegensatz zu „Unternehmer“ und „Müßiggänger“ (Empfänger leistungsloser Einkommen) zu verstehen, sondern jemand, der sich in Gesellschaft und Wirtschaft einbringt und sich beteiligt.
Entwicklung als Grundlage von Freiheit
„Freiheit und Entwicklung gehören so eng zusammen wie Hühner und Eier. Ohne Hühner gibt es keine Eier, und ohne Eier hat man bald keine Hühner mehr. Gleichermaßen gibt es ohne Freiheit keine Entwicklung, und ohne Entwicklung verliert man sehr schnell seine Freiheit.“
Nyerere beschrieb drei verschiedene Arten von Freiheit: die nationale Freiheit, die Freiheit von Hunger, Krankheit und Armut sowie die persönliche Freiheit des Einzelnen. Diese Freiheiten hingen jedoch entscheidend von der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung ab. Durch stetige Armut sowie Analphabetismus, wodurch die Bevölkerung weder die Einsicht noch die Kraft erhalte, könne die nationale Freiheit von jeder besser ausgerüsteten ausländischen Macht gefährdet werden. Weiterhin sei die Freiheit von Hunger, Krankheit und Armut wesentlich davon abhängig, dass das wirtschaftliche Wachstum sowie das verfügbare Wissen der Gemeinschaft zunimmt. Zugleich bekäme die persönliche Freiheit einen größeren „Verwirklichungsgrad“, wenn diese durch Entwicklung „abgesichert“ sei. Grund- und Bürgerrechte könnten nur dann wirksam verteidigt werden, wenn die Menschen sie kennen und sie obendrein wissen, wie sie auf sie zugreifen können. „Kenntnisse dieser Art bilden einen Bestandteil von Entwicklung.“
Jedoch könne Entwicklung nur dann Freiheit erzeugen, wenn Menschen sich entwickelten. Daher bedeute „Entwicklung“ nicht die Entwicklung von abstrakten Gütern, sondern stets die von Menschen. Straßen, Gebäude und die Steigerung landwirtschaftlicher Erträge stellten laut Nyerere keine Entwicklung dar, sondern seien lediglich Instrumente zur Entwicklung.
„Der Mensch entwickelt sich durch das, was er tut, (...) indem er eigene Entscheidungen trifft, indem sein Verständnis für das, was er tut und warum er es tut, wächst, indem er seine Kenntnisse und Fähigkeiten erweitert und indem er voll und gleichberechtigt am Leben der Gemeinschaft, in der er lebt, teilnimmt. (...) Ein Mensch entwickelt sich, wenn er sich bildet – ganz gleich, was er lernt; er ‚wird‘ aber nicht entwickelt, wenn er lediglich Befehle von jemandem, der besser ausgebildet ist als er, ausführt, ohne zu verstehen, warum diese Befehle gegeben wurden.“
Zwei Arten von Bildung
Laut Nyerere sei für die Entwicklung des Menschen „Führung durch Erziehung“ ein wesentlicher Faktor. Führung bedeute, das Bewusstsein der Menschen zu steigern, durch „Gespräch und Diskussion“, durch „Erklären und Überzeugen“ – kurz: durch Erziehung und Bildung.
Das Hauptziel von Bildung sei die Befreiung des Menschen, im Sinne von „freisetzen“. Bildung sei nicht zweckdienlich, wenn sie einen Menschen lediglich dazu befähige, detaillierte Pläne für einen globalen Frieden zu erstellen, ihn jedoch nicht in die Lage versetze, sich selbst und seiner Familie gute Nahrung zu verschaffen. Darüber hinaus könne sich ein Mensch zwar körperlich von Unterdrückung befreit haben, werde aber trotzdem weiterhin unfrei bleiben, wenn er seinen Geist nicht befreie und dieser von Gewohnheiten und Haltungen, die seine Menschlichkeit beschränkten, behindert bleibe. Daher müsse Erziehung sowohl den Körper als auch den Geist eines Menschen befreien. Erst wenn er tief verankerte Glaubenssätze von Unter- oder Überlegenheit überwunden habe, könne er mit anderen Menschen gleichberechtigt für gemeinsame Ziele zusammenarbeiten.
Eine Bildung, die einem Individuum vermittle, seine Eigeninteressen entkoppelt von denen der Gesellschaft zu verfolgen sowie sich selbst als Ware anzusehen, deren Wert auf akademischen Titeln und Zeugnissen basiere, stelle die Gegenthese zum gemeinwohlorientierten Bildungskonzept im Afrikanischen Sozialismus dar. Zum einen werde in diesen Menschen der Glaube erzeugt, dass ihre Ausbildung sie zu einer vermarktungsfähigen Ware gemacht hätte. Zum anderen zeigten sie, dass die erhaltene Bildung ihre Menschlichkeit verringert habe – anstatt sie so „freizusetzen“, dass sie sich stärker „zum Ausdruck bringt“. Sie hätten sich selbst ökonomisiert, da ihnen eine Sichtweise gelehrt worden sei, sich selbst und andere als Handelsware zu betrachten.
„Mit einer solchen Haltung wird ein Mensch unvermeidlicherweise sein Leben lang von der Gesellschaft das Maximum absaugen, ihr das Minimum dessen, was er geben könnte, geben und so leben, wie er gerne leben möchte. (...) Eine solche Person ist kein befreiter Mensch.“
Ujamaa-Dörfer – der Afrikanische Sozialismus in der Praxis
Ohne nennenswerte Industrie und Produktionsanlagen war Tansania ein von der Landwirtschaft geprägter Staat, in dem die Bewohner überwiegend Subsistenzwirtschaft betrieben. Dementsprechend lag Nyereres wirtschaftliches Hauptaugenmerk auf dem Agrarsektor. Die Entwicklung, die dafür in den ländlichen Gebieten notwendig war, sollte jedoch nicht allein durch den Staat erfolgen, sondern müsse die Aufgabe der gesamten Bevölkerung sein, wie er 1968 selbstkritisch erklärte.
In den Jahren zuvor waren Siedlungsprojekte begonnen worden, welche die ländlichen Gebiete strukturieren und die Grundlage für eine industrielle Produktion schaffen sollten. Dafür wurden auf der einen Seite teils enorme Investitionen getätigt – für die Versorgung mit modernen Maschinen sowie für Anreiz gebende Sozialleistungen. Auf der anderen Seite wurden junge Menschen mit Versprechungen, schnell reich oder durch die Regierung mit Ausrüstung und Dienstleistungen versorgt zu werden, dazu überredet, die Städte zu verlassen und sich den Siedlungsprojekten anzuschließen. Jedoch geschah es sehr häufig, dass die großen Kapitalinvestitionen ins Leere liefen und keine Produktionssteigerung erzielt werden konnte, sodass die Siedlungsprojekte nach wenigen Jahren fehlschlugen. Nyerere hatte daraufhin verstanden, dass der Regierungsfokus rein auf der Produktionssteigerung und der technischen Entwicklung gelegen hatte, nicht aber auf der menschlichen. Aus dieser Einsicht heraus entstand ein neues Konzept: die Ujamaa-Dörfer.
Sie waren eine Weiterentwicklung der fehlgeschlagenen Siedlungsprojekte. Diese sollten „vom Volk geschaffene, sozialistische Organisationen sein“, regiert von den Menschen, die in ihnen lebten und arbeiteten, aus intrinsischer Motivation heraus. Niemand dürfe in ein solches Dorf gegen seinen Willen gezwungen werden, ebenso wenig könne die Regierung den Mitgliedern Vorschriften von außen diktieren.
„Ein Ujamaa-Dorf ist ein freiwilliger Zusammenschluss von Menschen, die frei entscheiden, dass sie für ihr gemeinsames Wohl zusammenleben und zusammenarbeiten wollen. (...) Wenn die Mitglieder eines Ujamaa-Dorfes dessen Zweck und dessen sozialistischen Grundgedanken nicht von Anfang an verstehen, wird das Dorf seine anfänglichen Schwierigkeiten nicht überleben. Denn niemand kann garantieren, dass dem Dorf im ersten oder zweiten Jahr keine Missernte beschert wird – auch kann es Dürre oder Überschwemmungen geben. Die größere, für die Gemeinschaftsarbeit notwendige Selbstdisziplin wird sich aber nur einstellen, wenn die Menschen begreifen, was sie tun und warum sie es tun.“
Scheitern der politischen Visionen
Die von Nyerere geforderte Selbst- und Arbeitsdisziplin hatte ab 1971 aber spürbar abgenommen, wie er 1975 feststellte. Dies sei zum Teil dadurch zu erklären, dass das Arbeitspensum zuvor auf einem Niveau gewesen sei – zum Beispiel durch die stetige Angst vor dem Verhungern –, das nicht dauerhaft aufrechterhalten werden konnte. Jedoch seien ebenso Korruption und zunehmende Disziplinlosigkeit für den Rückgang der Produktivität mitverantwortlich gewesen, was er kritisierte.
Trotz all seiner Visionen und seiner Errungenschaften war seine Politik durch Fehlschläge und Niederlagen gekennzeichnet. Dies hatte verschiedene Ursachen: So kam es häufig zu ineffizientem Einsatz der finanziellen Ressourcen sowie zu Fehlinvestitionen. Die Staatsausgaben waren hoch und flossen verstärkt in wenig exportfähige Bereiche wie die Förderung der Landwirtschaft, die Gesundheits-, Strom- und Trinkwasserversorgung sowie die Bildung. Die Ujamaa-Dörfer wurden nicht wie gewünscht angenommen und brachten auch nicht die erhofften Produktionserträge. Zudem war Kritik aus den eigenen Reihen unerwünscht: 1968 hatte Nyerere beispielsweise 300 Studenten, die in Daressalam gegen die politischen Zustände demonstrierten, einfach exmatrikulieren lassen.
Auch sein Ziel von „self-reliance“ – wirtschaftliche Unabhängigkeit und Eigenverantwortlichkeit – konnte während seiner Amtszeit, die fast ein Vierteljahrhundert währte, nicht erreicht werden, im Gegenteil. Tansania zählte zu den Ländern, die am meisten Entwicklungshilfe erhielten, besonders aus der BRD. Mit 11 Milliarden Mark bekam kein anderer afrikanischer Staat mehr.
Zwei teure Kriege gegen Uganda (1971/72 und 1978/79) schwächten die Wirtschaft enorm; die ostafrikanische Gemeinschaft geriet in die Krise. Weitere Belastungen waren die schnell voranschreitende Inflationsrate in der Welt, der plötzliche Anstieg der Preise für Erdölprodukte sowie mehrere Dürren, die große Ernteausfälle und ein Viehsterben zur Folge hatten.
Obwohl Nyerere um die Notwendigkeit des Wirtschaftswachstums, um den Lebensstandard im Land wenigstens zu erhalten, wusste, floss ein Großteil der Staatsfinanzen in gemeinwohlorientierte Bereiche, womit er einen Sozialstaat schuf, dem jedoch im Laufe der Zeit die wirtschaftliche Basis verloren ging. In einem Interview kurz vor seinem Tod sagte er dazu:
„Ich halte das Bruttosozialprodukt nicht für den maßgeblichen Indikator für Entwicklung. Aber was wir während der sozialistischen Phase erreichten, hat Tansania noch nicht wieder erreicht, seit die Weltbank und der Internationale Währungsfonds vor 14 Jahren die Führung der tansanischen Wirtschaft übernommen haben.“
Nyerere zwischen West und Ost
Als blockfreier Staat, der sich aus dem Kalten Krieg heraushalten und seinen eigenen afrikanischen Weg gehen wollte, befand sich Tansania stets zwischen den Stühlen der Mächtigen. Aus diesem Grund hatte es Nyerere mit seinem Afrikanischen Sozialismus in der internationalen Politik nicht einfach – sowohl im Westen als auch im Osten.
„Er [Mobuto Sese Seko – ehemaliger Herrscher im Kongo, der 1997 entmachtet wurde] diente den Amerikanern, er diente bedeutenden Mächten in Europa als Werkzeug im Kalten Krieg. (...) Ich dagegen bin von den Amerikanern nie akzeptiert worden und auch nicht von den Russen. Für die Amerikaner war ich zu sozialistisch, für die Russen war ich kein Sozialist. Wenn man versuchte, die Probleme der Armut ernsthaft anzugehen, war man nicht akzeptiert. Blockfrei zu sein, galt als unmoralisch.“
Aus dem kommunistischen China erhielt Nyerere mehr Unterstützung als von der Sowjetunion, so Erhard Eppler, von 1968 bis 1974 Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit der BRD. Auch das Konzept der Ujamaa-Dörfer war durch die chinesische Agrarpolitik beeinflusst. Laut Eppler, dessen 45. Geburtstag mit dem 10. Jubiläum Tansanias zusammenfiel, und der daraufhin zu den Feierlichkeiten von Nyerere eingeladen wurde, besaß dieser kein besonders großes Vertrauen zu den Sowjets. Man habe stets aufpassen müssen, dass man nicht in Abhängigkeiten gerate. Bei den Chinesen sei das anders, diese hätten damals „noch lange nicht die Macht, einem Land wie Tansania vorzuschreiben, was es zu tun habe“.
Julius Nyerere und Willy Brandt 1976 | Bild: picture alliance / ZUMAPRESS.com | Keystone Pictures USA
Aber auch in Europa fand Nyereres Modell einige wenige Unterstützer, so Eppler weiter, insbesondere die skandinavischen Länder und die Niederlande. Auch in Deutschland – sowohl in der BRD als auch in der DDR – schätzte man Nyerere. Aus beiden Staaten erhielt Tansania große Summen an Entwicklungshilfe. Im Verlauf des Kalten Kriegs kam es zu einem Wettkampf zwischen der BRD und der DDR, welches der beiden Länder Tansania mehr Hilfe zukommen lassen würde. Unter anderem schenkte die DDR Anfang der 60er Jahre der frisch gegründeten Volksrepublik Sansibar einen Plattenbaukomplex, der noch heute in der Hauptstadt Stonetown steht.
Zurück zu den Wurzeln?
Was kann die Welt vom Afrikanischen Sozialismus, wie ihn Julius Nyerere vorgedacht hat, lernen? Ist sie überhaupt bereit, etwas von Afrika zu lernen? Für Afrika selbst wäre seine Einführung eine Rückbesinnung auf das eigene kulturelle Erbe, wenn auch in veränderter Ausprägung, da die Welt heutzutage eine andere ist als vor 60 Jahren.
Und für den Westen? In der aktuellen Wirtschaftsordnung ist die Krise ein untrennbarer Bestandteil. Sie ist systemimmanent. Am Ende eines Zyklus sind die Märkte weitestgehend gesättigt, Wachstum, wie es das System verlangt, ist nicht mehr möglich, wodurch das Geldsystem schließlich zusammenbricht. Die Folge dieser zyklischen Krisen waren bislang oft verheerende globale Kriege, mitunter begleitet vom Wechsel hegemonialer Kräfte. Aktuell befindet sich die Welt wieder am Ende eines solchen Zyklus – inmitten einer globalen Krise.
In dieser Zeit kann der Afrikanische Sozialismus Denkanstöße liefern – und das Bewusstsein dafür öffnen, Ordnungen nach abstrakten politischen Aufbauten hinter sich zu lassen und stattdessen eine echte soziale Gesellschaft zu errichten. Mit den Worten von Nyerere:
„Der Bereich der Familie, zu der wir alle gehören und wie wir sie uns vorstellen, muss noch ausgedehnt werden – über den Stamm, die Gemeinschaft, die Nation oder sogar den Kontinent hinaus –, um die ganze Menschheit miteinzubeziehen. Das ist die einzige logische Konsequenz des echten Sozialismus.“
Leseempfehlung:
Nyerere, Reden und Schriften aus drei Jahrzehnten, Horlemann Verlag, 2001
Weiterer Artikel zum Thema:
„Wie viel Zeit, denkt ihr, haben wir?“ – Thomas Sankara kam 1983 mit 33 Jahren infolge einer Revolution im westafrikanischen Land Burkina Faso an die Macht und wurde vier Jahre später durch seinen engsten Vertrauten ermordet. Unter Sankaras Führung entwickelte sich Burkina Faso für kurze Zeit zu einem Zentrum des internationalen Widerstandes gegen koloniale Strukturen, wodurch Sankara für die Großmächte zur Bedrohung wurde. Nach seinem Tod kehrte die neokoloniale Ausbeutung nach Burkina Faso zurück. Für viele Afrikaner ist Sankara bis heute ein Symbol für Freiheit, Gerechtigkeit und Selbstbestimmung. (Paul Soldan, 3.5.2022)
Über den Autor: Paul Soldan, Jahrgang 1988, war nach seiner Ausbildung zum Kaufmann für Versicherungen und Finanzen bis zum Jahr 2017 für verschiedene Finanzdienstleistungs-unternehmen in Hamburg tätig. Von 2018 bis 2021 arbeitete er am Volkstheater Rostock, unter anderem als Regieassistent. Seit 2022 ist er als freier Autor und Onlineredakteur tätig und lebte zuletzt mehrere Monate in Afrika. Im Januar 2024 erschien sein Debütroman "Sheikhi - Ein afrikanisches Märchen" im Anderwelt Verlag.
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