
Wenn das Volk gefährlich wird
WALTER VAN ROSSUM, 12. Februar 2025, 9 Kommentare, PDFIm US-Präsidentschaftswahlkampf 2016 hielt Hillary Clinton eine Rede vor Verfechtern von Homosexuellenrechten. Dabei nannte sie „die Hälfte der Anhänger von Trump (…) rassistisch, schwulenfeindlich, fremdenfeindlich, islamfeindlich“. Mark Schieritz zufolge hätten diese Worte für große Turbulenzen in der Öffentlichkeit gesorgt und „die Dynamik des Wahlkampfs verändert“. Die Rede sei in die Geschichte eingegangen. Ihretwegen habe Clinton die Wahlen verloren. Tatsächlich ist von dieser Rede kaum mehr eine Spur zu finden, mit Sicherheit spielte sie beim Ausgang der Wahlen so gut wie keine Rolle. Allein Donald Trump hoffte, dass diese Beleidigungen Hillary Stimmen kosten könnten.
Mark Schieritz, stellvertretender Ressortleiter Politik der ZEIT, mutmaßt weiter, diese Rede sei deshalb von historischer Bedeutung, da sie einen Paradigmenwechsel eingeleitet habe: „Die Grundregel der politischen Debatte lautet seither: Der Wähler hat immer recht.“ Und er nennt gleich einen Kronzeugen des Zeitenwandels: Olaf Scholz habe in Reaktion auf Clintons Rüpelei eine „Philosophie des Respekts“ entwickelt, und zwar in Anlehnung an die Schriften des amerikanischen Philosophen Michael Sandel. Allein die Vorstellung, Olaf Scholz habe eine Philosophie des Respekts erarbeitet, wirkt wie Satire. Doch nicht für Schieritz, der allen Ernstes glaubt, ein „neues“ Paradigma vom allmächtigen Bürger-Souverän bedrohe seither unsere Demokratie. Aber der Bürger habe nicht immer recht. Er irre schon mal und zuletzt immer häufiger – wie die steigende Zahl populistischer Regierungen beweise.
Beispielsweise habe es für die maßgeblichen Weichenstellungen in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg keine Mehrheiten gegeben: weder für die Mitgliedschaft in der Europäischen Währungsunion, noch die Wiedervereinigung oder die Westbindung. In dieser Deutlichkeit hat man das so noch nie festgestellt. Was womöglich damit zu tun hat, dass die Wähler nie zur Europäischen Währungsunion, zur Wiedervereinigung noch zur Westbindung um ihre Meinung gebeten wurden. Was dann allerdings auf essenzielle Fehler im Getriebe einer funktionierenden Demokratie hindeutet. Für Schieritz war damals wohl die Demokratie noch in Ordnung. Man verzichtete einfach darauf, die Wähler in zentralen Fragen zu konsultieren, und konnte so auf Maßnahmen verzichten, deren Einsatz Mark Schieritz heute unvermeidbar scheint: nämlich die Demokratie einzuschränken, um sie zu verteidigen.
Paradigmenwechsel im Demokratieverständnis
Ganz am Rande stellt sich einem allerdings die Frage, was wäre denn daran undemokratisch, wenn die Bürger tatsächlich Währungsunion, Wiedervereinigung und Westbindung abgelehnt hätten? Kein Zweifel, dass man in ZEIT-Kreisen diese Momente als große Errungenschaften feiert, aber Zweifel an deren Heiligkeit sind und waren sowohl legitim als auch demokratisch – und mit Sicherheit nicht dumm. Sie kurzerhand in das vage Reich undemokratischer populistischer oder extremistischer Dummheit zu verweisen, das zeugt von jenem Paradigmenwechsel im Demokratieverständnis, der sich in den letzten fünf Jahren immer schamloser Bahn bricht.
Schieritz scheint sich als publizistischer Arm jener neuen autoritären Demokratie zu verstehen. In dieser Sicht der Dinge sind Bürger dumm, die Extremisten, Populisten und natürlich Rechtsradikale wählen. Genauer wird’s leider nicht. „Wer Extremisten wählt, weil die Bahn ausfällt, der Eierpreis gestiegen ist oder im Dorf der Bäcker zumacht“, der ist untauglich für die Weihen der liberalen Demokratie. Solche Leute müssen von den richtigen Demokraten der Demokratie verwiesen werden. Weil sie dumm sind, fallen sie auf Populisten rein, die behaupten, sie seien das Volk. Gemeint ist natürlich die AfD. Und die sieht sich tatsächlich als Vertreter jenes Teils des Volkes, den die demokratische Chefetage gerne ausmustern würde. Als Beweis für den Populismus der AfD führt Schieritz ausgerechnet an, dass die Partei plebiszitäre Verfahren befürworte. Was natürlich gefährlich ist, weil erhebliche Teile der Wähler zu dumm für die Demokratie sind.
„Mehr Demokratie wagen“ heißt für Schieritz und die Seinen, die Demokratie gefährden.
Es ist – gelinde gesagt – nicht ganz einfach, dem Plädoyer des Autors für den Ausschluss der Dummen zu folgen. Zu fragen wäre deshalb mal umgekehrt, wessen Geisteszustand sich denn als wahlberechtigt erwiese für die Demokratie der „Happy Few“? Kurz gesagt, es ist der ZEIT-Leser, der weiß, dass „einfache und zumutungsfreie Lösungen immer seltener möglich sind“, und der nicht „bei der kleinsten Enttäuschung“ gleich Extremisten wählt. So sieht sie aus, die Welt aus der Sicht eines Hamburger Demokratiekapitäns. Der wahre Demokrat ist der rundum informierte liberale Bürger, der sich verantwortungsvoll an der Gewissheit von Fakten orientiert und deshalb weiß, wo es lang geht. Seine demokratischen Werte sind Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus und Gewaltenteilung, sonntags gibt’s vermutlich noch eine Extraportion Humanitäres obendrein. Seine Pflicht sieht er unter anderem darin, die, die nicht seiner Meinung sind, aus der demokratischen Arena zu verbannen. Und damit tut er genau das, was er den Dummen vorwirft. Die Demokratie der Chefdemokraten braucht offenbar eine Zitadelle, um sich nicht in den verwirrenden Weiten der demokratischen Tiefebene zu verlaufen.
Autoritärer Lordsiegelbewahrer der Demokratie
Das Regime der Zitadelle beherrscht seit fünf Jahren unser Leben: Der laue Konsens einer zusammengerauften Mitte gibt sich als autoritärer Lordsiegelbewahrer der Demokratie aus und wirft den ungehorsamen Rest in das Fegefeuer, wo Nazis & Co schmoren. Man muss den Hut ziehen: Die Nummer wurde grandios eingefädelt. Wer sich ab 2020 kritisch zu den Corona-Maßnahmen zu äußern wagte, wurde ohne Umschweife pathologisiert und kriminalisiert, gemobbt, in seiner beruflichen wie privaten Existenz gefährdet und gegebenenfalls strafrechtlich verfolgt. Diese Technik kam auch bei der Beurteilung des „völkerrechtswidrigen Angriffskriegs Russlands“ zum Einsatz und trifft selbstredend jeden Zweifler an den Thesen vom menschengemachten Klimawandel. Man erklärte all jene nicht nur zu debilen Verschwörungstheoretikern, sondern auch zu rechtsradikalen Antisemiten. Dabei spielte es keinerlei Rolle, ob es sich um ausgewiesene Linke handelte.
Es ist wahr, im parlamentarischen Raum vertrat einzig die AfD in unterschiedlicher Intensität die Sache der „Covidioten“, „Friedenstauben“ oder „Klimaleugner“. Aber was soll rechtsradikal etwa an der Kritik eines abwegigen Pandemie-Managements sein? Wurde je im Namen völkischer Werte protestiert? Wurden Juden verhöhnt? Es waren fast ausschließlich Partisanen, die sich auf den Geist des Grundgesetzes beriefen und sich über den Angriffskrieg gegen die Gewaltenteilung, die Erosion des Rechtsstaates, die Zerstörung des Pluralismus und die mediale Gleichschaltung entsetzten. Nichts an solchen Einwänden war oder ist „undemokratisch“. Im Gegenteil. Die Erosion der Demokratie, die Schieritz & Co pausenlos als Projekt der Rechten beschwören, ist längst Realität und zwar dank Schieritz & Co.
Man hat also systematisch und sehenden Auges jene „Extremisten“ geschaffen, die man heute als Bedrohung der Demokratie wahrnimmt und deretwegen man leider, leider die demokratischen Spielräume mal ein wenig verknappen muss. Der Autor spinnt diesen perfiden Faden munter weiter. Die demokratische Zitadelle hat eine große Zahl von Bürgern extra muros – nach außerhalb der Stadtmauer – verwiesen. Unvermeidlicherweise bekamen die Exilierten Zweifel an den Organen und den Verwaltern dieser Demokratie. Deshalb müssen sie heute von der Zitadelle als Populisten, Rechtsradikale, Demokratiegefährder oder kurz: als Dumme ins Visier genommen werden. So sehen argumentative Kurzschlüsse aus.

2017 veröffentlichte der frühere ZDF-Chefmoderator Claus Kleber ein Büchlein mit dem Titel „Rettet die Wahrheit!“. Seitdem gilt: Wenn Journalisten und Politiker mit selbstgebackenen Wahrheiten hausieren gehen und pausbäckig von der Gewissheit von Fakten schwadronieren, die nur Qualitätsjournalisten liefern können, dann ist Gefahr im Verzug angesagt. Ganz wie Kleber hat auch Schieritz gleich die größte Bedrohung der Demokratie ausgemacht: das Netz, das Inferno der unkontrollierbaren globalen Kommunikation. Dieser Qualitätsjournalist sieht im WWW vor allem die Quelle absurder Verschwörungstheorien, Fake News und Desinformation. „Wenn sich eine Gesellschaft nicht einmal mehr verständigen kann, was eigentlich die Fakten sind, dann erodiert das Fundament legitimer Herrschaft.“ Welche Gesellschaft hätte sich denn je über ihre Fakten verständigen können? Vermutlich müsste man dafür weit in die Vormoderne zurückgehen oder bestimmte Stammesrituale untersuchen. Heute muss man einem leitenden Journalisten der ZEIT offenbar erst mal klarmachen, dass „echter“ Journalismus stets bloß das Ringen um Fakten im Gewölk volatiler Deutungen sein kann. Das ist gut so und der Sinn des Pluralismus, den Schieritz offenkundig verachtet. Denn er fordert strengere Regulierung, schärfere Zensur und mehr von der Sorte „Digital Services Act“.
„In seriösen Redaktionen bieten journalistische Qualitätsstandards einen gewissen Schutz vor einer zu großen Einseitigkeit – oder gar objektiven Falschdarstellung – bei der Nachrichtenproduktion“, behauptet einer, der es besser wissen müsste. Wie ist es dann zu erklären, dass man in fast jeder Ausgabe der ZEIT in den letzten Jahren lesen kann, wie fabelhaft die sogenannten mRNA Impfungen sind, hätten sie die Menschen doch vor Ansteckung und vor Infektiosität geschützt? Das war von Anfang an eine „objektive Falschdarstellung“. Viele Extremisten wussten das besser und wurden deshalb zu „Extremisten“.
Die ganze Argumentation des Buches ist anekdotisch getupft und gehupft. Als intellektuelles Konstrukt trägt es kaum die eigene Gesinnungslast. Allein als Auskunft über die Zustände der Zitadelle hat es eine gewisse Bedeutung. Es erzählt viel über die immer mehr ins offen Aggressive mutierende Ratlosigkeit ihrer Bewohner. Ganz unverhohlen enthält es die Aufforderung zur verschärften Maßregelung von Kritikern, zur Verwinzigung von Debattenräumen, zur Ausweitung der Gesinnungsdiktatur.
Mark Schieritz, Zu dumm für die Demokratie? Wie wir die liberale Ordnung schützen, wenn der Wille des Volkes gefährlich wird. Droemer Verlag, 160 Seiten, 14 Euro
Über den Autor: Walter van Rossum, Jahrgang 1954, schloss seine Studien der Romanistik, Philosophie und Geschichte in Köln und Paris 1988 mit einem Doktortitel ab. Er arbeitete als freier Autor unter anderem für den Deutschlandfunk, die ZEIT und die FAZ. 2004 erschien „Meine Sonntage mit Sabine Christiansen“, 2007 „Die Tagesshow: Wie man in 15 Minuten die Welt unbegreiflich macht“. 2021 folgten „Meine Pandemie mit Professor Drosten: Vom Tod der Aufklärung unter Laborbedingungen“ sowie „Die Intensiv-Mafia: Von den Hirten der Pandemie und ihren Profiten“. Bis 2021 moderierte er die Buchsendung „Gutenbergs Welt“ im WDR-Hörfunk.
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