Boris Pistorius und Friedrich Merz im Mai 2025 bei der Indienststellung der Bundeswehr-Brigade in Litauen | Bild: picture alliance/dpa | Michael Kappeler

Völkerrecht nach Wunsch

Mit ihrer Duldung des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs Israels gegen den Iran demontiert die Bundesregierung ihr politisches Hauptargument im Ukrainekrieg: das Völkerrecht. Entweder gilt es für alle – oder für keinen. Damit entfällt die rhetorische Grundlage der antirussischen Politik und der sogenannten „Zeitenwende“. Der 13. Juni markiert daher auch eine Zäsur in der deutschen Außenpolitik. Ein Kommentar.

PAUL SCHREYER, 16. Juni 2025, 12 Kommentare, PDF

„Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger! Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents. Mit dem Überfall auf die Ukraine hat der russische Präsident Putin kaltblütig einen Angriffskrieg vom Zaun gebrochen (…) Das ist völkerrechtswidrig. Das ist durch nichts und niemanden zu rechtfertigen. (…) Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor. Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf (…) Weltweit haben unsere Botschaften in den vergangenen Tagen gemeinsam mit Frankreich dafür geworben, die russische Aggression im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen als das zu benennen, was sie ist: ein infamer Völkerrechtsbruch. (…) Putin [hat] mit seinem Überfall auf die Ukraine eine neue Realität geschaffen. (…) Wir werden uns nie abfinden mit Gewalt als Mittel der Politik.“

Soweit der damalige Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner „Zeitenwende“-Rede, gehalten am 27. Februar 2022 vor dem Deutschen Bundestag. Die darin enthaltenen Botschaften prägten die deutsche Politik der vergangenen drei Jahre so stark, wie wenig anderes. Nach dem 13. Juni 2025 erhält diese Rhetorik nun ihre entscheidende Prüfung. Wird auch der völkerrechtswidrige Angriffskriegs Israels gegen den Iran in gleicher Weise bewertet und beantwortet? Die Antwort fällt deutlich aus:

„Israel hat in der Nacht begonnen, gezielte Militärschläge unter anderem gegen Einrichtungen des iranischen Nuklearprogramms durchzuführen. (…) Das Nuklearprogramm Irans ist eine Bedrohung für die ganze Region und insbesondere für Israel. Israel hat das Recht seine Existenz und die Sicherheit seiner Bürger zu verteidigen. (…) Es sind auch bedauerlicherweise zu wenig glaubwürdige Schritte der iranischen Seite in der Vergangenheit erfolgt, vom Nuklearprogramm Abstand zu nehmen.“ (Außenminister Johann Wadephul, 13. Juni)

„Wir bekräftigen, dass Israel das Recht hat, seine Existenz und die Sicherheit seiner Bürger zu verteidigen.“ (Bundeskanzler Friedrich Merz, 13. Juni)

„Ich habe das Recht Israels auf Selbstverteidigung und den Schutz seiner Bevölkerung bekräftigt.“ (EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, 13. Juni)

Der israelische Präsident reagierte auf solche Unterstützung am Folgetag, indem er den Iranern eine Fortsetzung des Angriffskrieges gegen ihr Land ankündigte: „Was sie bisher gespürt haben, ist nichts im Vergleich zu dem, was sie in den kommenden Tagen erleben werden.“ Der Iran meldete zu diesem Zeitpunkt bereits 100 Tote und 800 Verletzte. Israel griff nun zusätzlich auch iranische Öl- und Gasfelder an. Am Sonntag, dem 15. Juni, dem dritten Tag des Krieges, machte Verteidigungminister Boris Pistorius mit Blick auf den Iran dann nochmals klar:

„Zunächst müssen wir mal festhalten, wer hier die Bedrohung in der Region darstellt. (…) Man muss sehr klar sagen, die Israelis haben hier jedes Recht, sich zu verteidigen, auch präemptiv. Das ist, glaube ich, unbestritten.“

Das Argument eines „präemptiven“ – also „vorbeugenden“ – Angriffs wurde von US-Präsident George W. Bush im Zusammenhang mit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf den Irak 2003 populär gemacht. Pistorius´ Aussage negiert die UN-Charta, einen völkerrechtlich bindenden Vertrag, in dem es heißt: „Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.“ Die Bundesrepublik Deutschland unterzeichnete unter Kanzler Willy Brandt am 6. Juni 1973 die UN-Charta, die seither für Deutschland rechtsgültig ist. Auch Israel ist Unterzeichner.

Woraus Pistorius ableitet, ein „Recht“ zum vorbeugenden Angriff sei für Israel „unbestritten“, ließ er offen. Abschwächend ergänzte der Minister allerdings, der Angriff auf den Iran sei „völkerrechtlich nicht so ohne weiteres zu beurteilen“. Auch CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen erklärte am 16. Juni, es gebe „eine gewisse völkerrechtliche Grauzone“. Er „verstehe“ aber „die Reaktion“ Israels. Iran habe mit seinem Willen Atommacht zu werden, „den Krieg verursacht“.

Dass die Bundesregierung und führende Politiker der Regierungsparteien das Völkerrecht bei Angriffskriegen je nach Wunsch bemühen oder ignorieren, ist nicht neu. Bereits die Angriffe Israels in den vergangenen Monaten gegen Libanon und Syrien, inklusive des Einmarschs und der Okkupation von Grenzregionen sowie der laufende Krieg in Gaza waren und sind ebenfalls völkerrechtswidrig, ohne dass Berlin dies so benannt hätte. Ursächliche Zäsur für die Akzeptanz solcher Rechtsbrüche ist fraglos die deutsche Teilnahme am völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Serbien 1999 unter Bundeskanzler Gerhard Schröder und Vizekanzler Joschka Fischer. Seither ist das internationale Völkerrecht in Deutschland mehr oder weniger freie politische Verfügungsmasse, je nach den aktuellen parlamentarischen Mehrheiten.

Die aktuelle Positionierung im Krieg gegen den Iran ist daher keine Überraschung. Aufgrund der Dimension dieses Konfliktes und der Schärfe der Kriegsführung ist die Duldung des jetzigen Völkerrechtsbruchs durch Deutschland dennoch besonders schwerwiegend. Diese Duldung entzieht zudem der gesamten antirussischen Politik der vergangenen drei Jahre und der sogenannten „Zeitenwende“ ihre rhetorische Grundlage. Die „Zeitenwende“ – zuletzt eskaliert bis zur diskutierten Lieferung deutscher Raketen, die Moskau erreichen können – wurde bekanntlich hundertfach begründet mit der „neuen Realität“ nach dem „infamen Völkerrechtsbruch“ (Scholz) des russischen Angriffskrieges.

Wer das Völkerrecht allerdings so offenkundig den jeweiligen politischen Interessenlagen unterordnet (Ukraine-Krieg, Scholz: „durch nichts und niemanden zu rechtfertigen“ / Iran-Krieg, Pistorius: „völkerrechtlich nicht so ohne weiteres zu beurteilen“) der demontiert sein eigenes Argument. Solange große Medien diesen Widerspruch nicht ins Zentrum rücken, wird er politisch dennoch von geringer Bedeutung bleiben – wenn auch die Zahl der Bürger zunimmt, die solche Völkerrechtsrhetorik als zynisches Theaterspiel erkennen.

Diskussion

12 Kommentare
SCHOLLE, 16. Juni 2025, 23:05 UHR

Ich verstehe eine Sache immer noch nicht: Warum dürfen Israel, Indien, Pakistan, Nordkorea Atomwaffen haben, aber der Iran nicht?

ELKE SCHENK, 17. Juni 2025, 14:10 UHR

Hintergrund ist der Atomwaffensperrvertrag (Nonproliferation Treaty, NPT). Länder, die ihn unterzeichnet haben, verpflichten sich, keine Atomwaffen zu erlangen. Allerdings gestattet der NPT die friedliche Nutzung der Kernenergie. Wer den Vertrag unterzeichnet hat, muss Kontrollen der IAEO zulassen. Der Umfang hängt davon ab, ob auch diverse Zusatzprotokolle ratifiziert wurden.

Länder, die den NPT nicht unterzeichnet haben, dürfen Atomwaffen entwickeln. Das gilt für Indien und Pakistan und Israel, obwohl Israel offiziell die Existenz seiner Atomwaffen bestreitet. Mal ganz informativ bei https://de.wikipedia.org/wiki/Atomwaffensperrvertrag "Im Jahr 2024 gab es 191 teilnehmende „Parteien“, davon haben 93 den NVV ratifiziert. [...] Nur vier Staaten wurden nicht Unterzeichner des Atomwaffensperrvertrags: Indien, Israel, Pakistan und (als einzige Nichtatommacht) der Südsudan. Nordkorea trat mit Bezug auf sein militärisches Atomprogramm im Januar 2003 aus dem Vertrag aus und dessen endgültiger Status wird seither von der NVV-Gemeinschaft offen gehalten."

Bedingung, dass nicht Atomwaffen-Staaten den Vertrag unterzeichnet haben, war, dass die Atommächte sich verpflichten in Verhandlungen einzutreten, mit dem Ziel der vollständigen Abrüstung von Atomwaffen. Wir wissen, wie es um diesen Teil der Vertragserfüllung steht. Der Iran plant nach Medienmeldungen ein Gesetz, das den Austritt aus dem Atomwaffensperrvertrag vorsieht.

SE, 18. Juni 2025, 11:15 UHR

Da nichtverstehen Sie korrekt: das ist nicht verstehbar, weil JEDE Begründung auf einen Widerspruch in sich hinausläuft. Egal wie absurd kompliziert die Bürokraten und Priester es machen.

PAUL SCHREYER, 17. Juni 2025, 12:05 UHR

Eine Ergänzung, heute gemeldet: „G7-Staaten einigen sich auf Erklärung zu Iran und Israel (...) Direkte Kritik am israelischen Vorgehen gegen den Iran findet sich in der Erklärung der Gruppe führender demokratischer Wirtschaftsmächte nicht.“

https://www.tagesschau.de/newsticker/liveblog-nahost-dienstag-258.html#G7-Staaten-einigen-sich-auf-Erklaerung-zu-Iran-und-Israel

JÖRG G, 17. Juni 2025, 12:45 UHR

Danke für den Artikel. Mich ärgert es, dass jetzt wieder in allen großen Medien und auch auf Alternativen wie Tichy, apollo, Ansage oder Achgut die Behauptung auftaucht, Iran wolle Israel von der Landkarte tilgen. Das ist eine schon längst widerlegte Falschbehauptung. Ursprung hat diese Behauptung in einer Aussage von Ahmadinejad bei einer Rede 2005. Er sagte: „Das Regime, das als Israel bekannt ist, wird aus der Seite des Zeitenlaufs (bzw. der Geschichtsschreibung) getilgt/gelöscht werden.“ Dabei drückt (Safhe-ye Ruzgar) eher die Vorstellung aus, dass das betreffende Regime in der Geschichte keinen Platz mehr haben wird.

Dieser Satz ist nun seit 20 Jahren als „Iran möchte Israel von der Landkarte tilgen“ im Umlauf oder in der Form, dass Iran den Staat Israel auslöschen wollen würde. Und diese Behauptung ist ja auch immer das Argument dafür, dass sich Israel präemptiv verteidigen müsse.

SE, 18. Juni 2025, 11:35 UHR

Ich bin mittlerweile zur Erkenntnis gelangt, dass derartig sture Wiederholung sehr viel mit dem psychologischen Schaden zu tun hat, den u.a. Eingottglauben im Gehirn anrichtet. Beten ist praktisch ein Training der Disziplin "stur Wiederholen". "Tradition" wirkt genauso aufs Gehirn. "Kultur" ... Ich denke, die Menschheit wird da nicht mehr rauskommen.

RALLE, 17. Juni 2025, 12:50 UHR

Das ist die "regelbasierte Weltordnung". Die USA und manchmal (nach Erlaubnis durch die USA) ihre EU Vasallen, stellen Regeln auf, die international bindend zu sein haben (für den Rest der Welt). Sie selbst halten sich nur solange daran, wie es ihnen nützt. Beim Iran gab es doch wegen des Atomprogramms vor Jahren Sanktionen, die zurückgenommen wurden, als der Iran Abstand davon nahm. Einige Jahre später wurden die Sanktionen wieder eingeführt (ich glaube, in der ersten Amtszeit von Trump). Nun regt sich der Westen (oder soll man besser vom Deep State, also der Großindustrie und Finanzwelt reden?) darüber auf, dass der Iran darauf sein Atomprogramm wieder startete. Regelbasierte Ordnung = Doppelstandards nach Lust und Laune. Angebrachtes Unrechtsbewußtsein in der Bevölkerung kommt nicht auf, da ÖRR und Staatsmedien brav auf Linie sind.

DIETER R., 17. Juni 2025, 13:15 UHR

So ist es. Man muß ergänzend hinzufügen, das schon bei der einseitigen Verurteilung Rußlands 2022 mit 2-erlei Maß gemessen wurde. Davor waren u.a. der Angriff der USA /Alliierten auf den Irak, die Bombardierung Libyens und die erwähnte Bombardierung Serbiens, die auch nicht konform mit dem Völkerrecht waren. Eine so klare Verurteilung der Angreifer, insbesondere der USA durch Deutschland, (wobei Deutschland ja unter Schröder und Fischer in Serbien sogar mitbeteiligt war) habe ich damals nicht vernommen. Schon damals hätte jedem klar sein müssen, das der Westen 2-erlei Maß anlegt oder anders gesagt, nicht glaubwürdig ist.

MICHAEL KARI, 18. Juni 2025, 07:10 UHR

Die Überschrift sagt schon alles und ein Blick auf den DAX zeigt: Alles richtig gemacht. Völkerrecht gilt in der westlichen Wertegemeinschaft nur dann, wenn es dem Geschäft von Nutzen ist, denn Völkerrecht ist dem Handelsrecht in der Praxis offensichtlich untergeordnet. Hier bedarf es Staats-und Völkerrechtler, die der Sache mal auf dem Grund gehen.

SE, 18. Juni 2025, 11:20 UHR

Bloß nicht. Die machen es nur komplizierter, also schlimmer. Mit "Du sollst nicht töten" ist alles gesagt. Aber das haben die Tarngefleckten noch nie einsehen wollen und die Christen, insbesondere Priester, schon gar nicht. Die sind wahre Großmeister im Kollektiv-aushebel-Rhetorisieren dieses einfachen Satzes, den sie gleichzeitig zu ihrem Gebot behaupten.

MICHAEL KARI, 18. Juni 2025, 12:35 UHR

Drei Gedanken kamen mir gerade. Erstens! Ist im Handelsrecht das Völkerrecht überhaupt anwendbar? Und, um welche Völker handelt es sich? Laut Habeck gibt es kein Deutsches Volk! Also sind wir "deutsche" (Adjektiv) ohne Staat. Vermutlich Thüringer oder Sachsen oder Hessen oder Preußen usw. (Indiz). Was die 10 Werbegebote der Kirchen betrifft, kann ich auch nur vermuten, denn es heißt: Du sollst und nicht Du darfst... z.B. nicht töten. Der Gestaltungsspielraum ist da auch riesig. Je nach Lage und Bedarf.

STRESSTEST, 18. Juni 2025, 14:50 UHR

"Man muss sehr klar sagen, die Israelis haben hier jedes Recht, sich zu verteidigen, auch präemptiv. Das ist, glaube ich, unbestritten.“

@Boris Pistorius: Der Staatschef des NATO-Mitglieds Türkei ist einer anderen Meinung: "Die Welt muss Israels Banditentum stoppen."

https://www.hurriyetdailynews.com/world-must-stop-israels-banditry-erdogan-urges-after-iran-attack-210262

Des Weiteren: "Israel macht für uns alle die Drecksarbeit" (Friedrich Merz, Juni 2025). "Der Russe muss sterben, damit wir leben." (Die stramme 6. Kompanie, Oktober 1941) https://x.com/wladsan/status/1935044575883661534

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