
Völkerrecht nach Wunsch
PAUL SCHREYER, 16. Juni 2025, 12 Kommentare, PDF„Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger! Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents. Mit dem Überfall auf die Ukraine hat der russische Präsident Putin kaltblütig einen Angriffskrieg vom Zaun gebrochen (…) Das ist völkerrechtswidrig. Das ist durch nichts und niemanden zu rechtfertigen. (…) Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor. Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf (…) Weltweit haben unsere Botschaften in den vergangenen Tagen gemeinsam mit Frankreich dafür geworben, die russische Aggression im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen als das zu benennen, was sie ist: ein infamer Völkerrechtsbruch. (…) Putin [hat] mit seinem Überfall auf die Ukraine eine neue Realität geschaffen. (…) Wir werden uns nie abfinden mit Gewalt als Mittel der Politik.“
Soweit der damalige Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner „Zeitenwende“-Rede, gehalten am 27. Februar 2022 vor dem Deutschen Bundestag. Die darin enthaltenen Botschaften prägten die deutsche Politik der vergangenen drei Jahre so stark, wie wenig anderes. Nach dem 13. Juni 2025 erhält diese Rhetorik nun ihre entscheidende Prüfung. Wird auch der völkerrechtswidrige Angriffskriegs Israels gegen den Iran in gleicher Weise bewertet und beantwortet? Die Antwort fällt deutlich aus:
„Israel hat in der Nacht begonnen, gezielte Militärschläge unter anderem gegen Einrichtungen des iranischen Nuklearprogramms durchzuführen. (…) Das Nuklearprogramm Irans ist eine Bedrohung für die ganze Region und insbesondere für Israel. Israel hat das Recht seine Existenz und die Sicherheit seiner Bürger zu verteidigen. (…) Es sind auch bedauerlicherweise zu wenig glaubwürdige Schritte der iranischen Seite in der Vergangenheit erfolgt, vom Nuklearprogramm Abstand zu nehmen.“ (Außenminister Johann Wadephul, 13. Juni)
„Wir bekräftigen, dass Israel das Recht hat, seine Existenz und die Sicherheit seiner Bürger zu verteidigen.“ (Bundeskanzler Friedrich Merz, 13. Juni)
„Ich habe das Recht Israels auf Selbstverteidigung und den Schutz seiner Bevölkerung bekräftigt.“ (EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, 13. Juni)
Der israelische Präsident reagierte auf solche Unterstützung am Folgetag, indem er den Iranern eine Fortsetzung des Angriffskrieges gegen ihr Land ankündigte: „Was sie bisher gespürt haben, ist nichts im Vergleich zu dem, was sie in den kommenden Tagen erleben werden.“ Der Iran meldete zu diesem Zeitpunkt bereits 100 Tote und 800 Verletzte. Israel griff nun zusätzlich auch iranische Öl- und Gasfelder an. Am Sonntag, dem 15. Juni, dem dritten Tag des Krieges, machte Verteidigungminister Boris Pistorius mit Blick auf den Iran dann nochmals klar:
„Zunächst müssen wir mal festhalten, wer hier die Bedrohung in der Region darstellt. (…) Man muss sehr klar sagen, die Israelis haben hier jedes Recht, sich zu verteidigen, auch präemptiv. Das ist, glaube ich, unbestritten.“
Das Argument eines „präemptiven“ – also „vorbeugenden“ – Angriffs wurde von US-Präsident George W. Bush im Zusammenhang mit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf den Irak 2003 populär gemacht. Pistorius´ Aussage negiert die UN-Charta, einen völkerrechtlich bindenden Vertrag, in dem es heißt: „Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.“ Die Bundesrepublik Deutschland unterzeichnete unter Kanzler Willy Brandt am 6. Juni 1973 die UN-Charta, die seither für Deutschland rechtsgültig ist. Auch Israel ist Unterzeichner.
Woraus Pistorius ableitet, ein „Recht“ zum vorbeugenden Angriff sei für Israel „unbestritten“, ließ er offen. Abschwächend ergänzte der Minister allerdings, der Angriff auf den Iran sei „völkerrechtlich nicht so ohne weiteres zu beurteilen“. Auch CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen erklärte am 16. Juni, es gebe „eine gewisse völkerrechtliche Grauzone“. Er „verstehe“ aber „die Reaktion“ Israels. Iran habe mit seinem Willen Atommacht zu werden, „den Krieg verursacht“.
Dass die Bundesregierung und führende Politiker der Regierungsparteien das Völkerrecht bei Angriffskriegen je nach Wunsch bemühen oder ignorieren, ist nicht neu. Bereits die Angriffe Israels in den vergangenen Monaten gegen Libanon und Syrien, inklusive des Einmarschs und der Okkupation von Grenzregionen sowie der laufende Krieg in Gaza waren und sind ebenfalls völkerrechtswidrig, ohne dass Berlin dies so benannt hätte. Ursächliche Zäsur für die Akzeptanz solcher Rechtsbrüche ist fraglos die deutsche Teilnahme am völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Serbien 1999 unter Bundeskanzler Gerhard Schröder und Vizekanzler Joschka Fischer. Seither ist das internationale Völkerrecht in Deutschland mehr oder weniger freie politische Verfügungsmasse, je nach den aktuellen parlamentarischen Mehrheiten.
Die aktuelle Positionierung im Krieg gegen den Iran ist daher keine Überraschung. Aufgrund der Dimension dieses Konfliktes und der Schärfe der Kriegsführung ist die Duldung des jetzigen Völkerrechtsbruchs durch Deutschland dennoch besonders schwerwiegend. Diese Duldung entzieht zudem der gesamten antirussischen Politik der vergangenen drei Jahre und der sogenannten „Zeitenwende“ ihre rhetorische Grundlage. Die „Zeitenwende“ – zuletzt eskaliert bis zur diskutierten Lieferung deutscher Raketen, die Moskau erreichen können – wurde bekanntlich hundertfach begründet mit der „neuen Realität“ nach dem „infamen Völkerrechtsbruch“ (Scholz) des russischen Angriffskrieges.
Wer das Völkerrecht allerdings so offenkundig den jeweiligen politischen Interessenlagen unterordnet (Ukraine-Krieg, Scholz: „durch nichts und niemanden zu rechtfertigen“ / Iran-Krieg, Pistorius: „völkerrechtlich nicht so ohne weiteres zu beurteilen“) der demontiert sein eigenes Argument. Solange große Medien diesen Widerspruch nicht ins Zentrum rücken, wird er politisch dennoch von geringer Bedeutung bleiben – wenn auch die Zahl der Bürger zunimmt, die solche Völkerrechtsrhetorik als zynisches Theaterspiel erkennen.
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