Protestzug in Belgrad am 7. März 2025 | Foto: Rumen Milkow

Serbien: Neue „Farben-Revolution“?

In Serbien halten die Proteste gegen die Regierung an. Von Studenten ausgehend haben sie inzwischen breite Bevölkerungsschichten erreicht. Manche Beobachter – auch der serbische Präsident – mutmaßen eine weitere vom westlichen Ausland unterstützte „Farben-Revolution“. Multipolar-Autor Rumen Milkow war in Belgrad und sprach mit Demonstranten und Einwohnern.

RUMEN MILKOW, 11. März 2025, 1 Kommentar, PDF

Freitag, 7. März. Wieder bin ich früh vor Ort, diesmal nicht in Bukarest, wie am vorigen Wochenende, sondern in der serbischen Hauptstadt Belgrad. Seit dem Einsturz eines Bahnhofsdaches im November letzten Jahres in Serbiens zweitgrößter Stadt Novi Sad, bei dem 15 Menschen zu Tode kamen, gibt es von Studenten ausgehende landesweite Proteste in dem westlichen Balkanland. Seit Dezember sollen 65 von 80 Fakultäten im Ausstand sein. Der Regierung wird Korruption vorgeworfen.

Ich stehe vor der Belgrader Fakultät für Darstellende Kunst, die Studenten besetzt halten. Die Studenten sind aber noch nicht wach, wie ich von den beiden Pförtnern erfahre. Ich könne nicht zu ihnen und werde gebeten das Gebäude zu verlassen. Vor der Tür wartet Nikola (30) mit seinem Kleintransporter. Er hilft den Studenten bei ihrem Protest, kostenlos, wie er sagt. Dafür, dass er ihre Sachen, Ausrüstung und ähnliches transportiert, bekomme er Abzeichen von ihnen, die er stolz auf seiner Brust trägt. Von der Regierung hält er nicht viel, genau „Null“.

Hin und wieder tröpfeln Studenten einzeln oder zu zweit aus dem Gebäude. Alle sind sie übernächtigt. Das sei aber nicht der Grund, warum sie nicht mit mir sprechen wollen, genauso wenig wie sie mit Präsident Aleksandar Vučić noch zu reden wünschen. Es sei ein Prinzip, sagen sie. Sie wählen jemanden, der mit Pressevertretern spricht, beispielsweise mit Reuters oder der BBC. Sie wüssten auch nicht, wie viele Studenten sich im Gebäude befinden, oder wollen es mir nicht sagen. Nikola hat für die Verschwiegenheit der Studenten Verständnis, denn sie hätten auch Feinde: Vermeintliche Studenten, also Studenten, die gar keine richtigen Studenten seien.

Immerhin, sie haben englischsprachige Schilder mit Zitaten von innen an die Fenster der Fakultät angebracht. Darunter Sätze von Marx, Lenin und Bob Dylan, deren Bezug zur aktuellen Politik aber eher vage bleibt.

Eingangsbereich der Fakultät | Foto: Rumen Milkow

Eine Frau führt ihren Hund auf der Wiese vor der Fakultät aus. Sie heißt Sonja und ist 41 Jahre alt, also keine Studentin mehr, wie sie betont. Trotzdem unterstütze sie die Studenten. Serbien sei kein funktionierender Staat, überall gebe es Korruption, das Land sei dysfunktional. Präsident Vučić mag sie gar nicht. Dass er sich für Frieden in der Ukraine einsetzt, ist für sie kein Thema, ebenso wenig die Zukunft Serbiens, ob in der EU und der Nato, zumindest nicht zum jetzigen Zeitpunkt.

Der zufällig vorbeilaufende Milosh Pantelić (50) arbeitet als Sofwareentwickler für eine US-amerikanische Firma. Er berichtet davon, dass die Fakultät, vor der wir gerade stehen, ein Problem mit der serbischen Fortschrittspartei habe, deren ehemaliger Vorsitzer der aktuelle Präsident Vučić ist. Deswegen gehe der Protest von hier aus. Das eingestürzte Bahnhofsdach in Novi Sad wäre der bekannte Tropfen gewesen, der das Fass, das bereits zuvor im ganzen Land gebrodelt habe, zum Überlaufen brachte. Es könne so nicht weitergehen. Die Korruption sei allgegenwärtig, so Pantelić.

Milosh Pantelić | Foto: Rumen Milkow

Korruption spielt im Privatleben des 46-jährigen Bankers, mit dem ich als nächstes ins Gespräch komme und der nicht namentlich genannt werden möchte, keine Rolle. Er sorgt sich um die Zukunft des Landes und um die seiner Kinder. Da Serbien kein Geld aus Fonds der EU erhalte, müsse es Kredite vor allem aus China annehmen, die man seiner Meinung nach nur schwer zurückzahlen könne. Korruption finde eher im Großen statt, so der Finanzexperte. Die Sanierung des Bahnhofes in Novi Sad sollte ursprünglich 16 Millionen Euro kosten, am Ende wurden 65 Millionen Euro ausgegeben. Eine Schätzung habe aber ergeben, dass der Gesamtwert des Umbaus nur drei Millionen Euro hätte betragen sollen. Dass ähnliche Kostenexplosionen auch in Deutschland Alltag seien, interessiert ihn weniger.

Für Präsident Vučić – Premierminister Miloš Vučević ist bereits vor Wochen zurückgetreten – sind die Proteste Teil einer westlichen Verschwörung, einer „Farben-Revolution“, die ihn stürzen wolle. Er sei Opfer eines „verfassungswidrigen“ Versuchs ihn zu stürzen oder gar zu töten, westliche Geheimdienste seien beteiligt. Die Ziele der Proteste bezeichnete er als „erfundene, im Grunde nicht existierende Forderungen“ einer Minderheit der Bevölkerung des Landes.

Wie das Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien in Berlin schreibt, fordern die Studenten an erster Stelle, alle Unterlagen im Zusammenhang mit dem Wiederaufbau des Bahnhofs von Novi Sad zu veröffentlichen. Verlangt werde außerdem, dass die Mittel für staatliche Universitäten um 20 Prozent erhöht werden. Inzwischen seien die Proteste zu einem Mittel geworden, um Unmut auszudrücken über Themen wie mutmaßlichen Wahlbetrug und die Wiederaufnahme eines großen Lithium-Bergbauprojekts. Die Studenten würden eine „starke Botschaft“ an die serbische Gesellschaft senden, dass die jüngere Generation entschlossen sei, einen „Systemwandel“ herbeizuführen, so das Forschungszentrum, das vom Auswärtigen Amt mitfinanziert wird.

Wie das serbische Nachrichtenmagazin „Vreme“ berichtet, hat Vučić mittlerweile mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin telefoniert und „über den angeblichen Revolutionsversuch“ gesprochen. Der serbische Präsident erklärte anschließend, dass „Russland gut versteht und klar sieht, was passiert“ und dass es „die legal und legitim gewählte Regierung Serbiens weiterhin unterstützen wird“. Laut einer Umfrage ist die Mehrheit der Serben allerdings für seine Absetzung, weswegen Vučić ein konsultatives Referendum über seinen Verbleib im Amt vorschlug. Die damit verbundenen Zugeständnisse, beispielsweise Wohnungen für junge Menschen und die Einführung kostenloser Verkehrsmittel in der Hauptstadt, wurden von vielen als Akt der Verzweiflung aufgenommen.

Protestierende Schüler | Foto: Rumen Milkow

Allerdings war die Stimmung in der serbischen Bevölkerung zuletzt nicht einheitlich. So genießt Vučić bei den Älteren, den über 60-jährigen, die laut Frankfurter Allgemeine (FAZ) „40 Prozent derjenigen Serben ausmachen, die tatsächlich regelmäßig wählen gehen“, weiterhin mehrheitlich Vertrauen, wie Umfragen zeigten, so die Zeitung im Februar unter der Überschrift „Auf die Rentner kann sich Vučić verlassen“. In der jungen Generation (18 bis 29 Jahre) seien „fast 60 Prozent der Ansicht, Serbien bewege sich in die falsche Richtung“, bei der „numerisch bedeutenderen und stetig wachsenden Gruppe der Menschen ab 60 stimmen hingegen fast drei Viertel (72 Prozent) der Ansicht zu, das Land steuere in die richtige Richtung“, heißt es dazu im Bericht des FAZ-Südosteuropakorrespondenten Michael Martens.

Was die Geopolitik angeht, so hat Serbien sich als eines der wenigen Länder Europas den Sanktionen gegen Russland nicht angeschlossen. Beide Länder arbeiten bis heute eng zusammen, etwa auf dem Energiesektor. Anfang des Jahres drängten die USA Serbien dazu, die Beteiligung eines von US-Sanktionen betroffenen russischen Teileigentümers des serbischen Mineralölkonzerns NIS zu beenden. Aus diesem Grund hatte die Regierung Serbiens die USA in einem Brief gebeten, gegen Serbien geplante Sanktionen aufzuschieben. Dieses Dokument wurde auch von der ungarischen Regierung unterzeichnet, mit der Begründung, dass die Energiestabilität in diesem Teil Europas bedroht sei.

Um selbst nicht in monetäre Bedrängnis zu kommen, begebe ich mich auf die Suche nach einer Wechselstube. Beim Geld tauschen komme ich mit der 20-jährigen Studentin ins Gespräch, die in dem kleinen Office in einer Shopping-Mall arbeitet. Sie hält den Protest für gerechtfertigt, er sei aber zu lang. An wirkliche Veränderungen glaubt sie nicht. Sie befürchtet, ein Semester zu verlieren, was nicht nur ein längeres Studium, sondern auch weitere Kosten für sie bedeute. Sie steht mit dieser Meinung nicht alleine. Kommilitonen, so genannte Pro-Vučić-Studenten, haben deswegen kürzlich Zelte vor dem Präsidentensitz aufgeschlagen. Sie fordern die normale Fortsetzung des Studiums und ein Ende der seit Monaten andauernden Blockaden der serbischen Universitäten.

André (53) ist Taxifahrer und will eigentlich nicht über Politik reden. Als ich mich als ehemaliger Berliner Kollege zu erkennen gebe, spricht er dann doch über das Thema. Er kennt Korruption auch im privaten Bereich. So müsse er beispielsweise beim Arzt dazuzahlen, oder bei Medikamenten. Auch in Bulgarien ist dies durchaus üblich. Von Vučić ist auch er kein Fan. Plötzlich sperren Polizisten die Straße vor uns, der gesamte Verkehr kommt zum erliegen. Es ist 11:52 Uhr, der Zeitpunkt des Einsturzes des Bahnhofsdachs in Novi Sad am 1. November vergangenen Jahres. Zum Gedenken an die Toten finden seither täglich 15-minütige Mahnwachen statt.

Meine nächste Station ist das „Neunte Gymnasium“ in der Neustadt Belgrads, von wo aus an diesem Tag ein Protest in die Innenstadt startet. Neben den etwa 200 Gymnasiasten sind auch Grundschüler, Lehrer und Eltern anwesend. Letztere sind die bisher Empörtesten, auf die ich traf. Sie wollen die Regierung nur noch weghaben. Ein Lehrer fordert die Herausgabe der Akten über die Bahnhofssanierung in Novi Sad, was bisher nicht geschehen sei. Die knappe Antwort eines Vaters, warum er heute hier auf dem Protestes sei, lautet: „This is the end!“. Gemeint ist damit die Regierung.

Der Protestzug | Foto: Rumen Milkow

Auf dem acht Kilometer langen Weg ins Zentrum stoßen weitere Schüler und Abiturienten zum Protestzug dazu, so dass dieser beim Überqueren der Brücke über die Save auf mehrere Tausend angeschwollen ist. Zum Slavija-Platz, dem zentralen Treffpunkt, ist es nun nicht mehr weit. An dem Kreisverkehr, einer der meistbefahrenen Straßenkreuzungen Belgrads, wo sieben Straßen aufeinandertreffen, gibt es eine kleine Erhöhung, von wo aus man die Menschenmassen überschauen kann. Spätestens jetzt ist klar, dass dieser Protest den in Bukarest eine knappe Woche zuvor zwar nicht in den Schatten stellt, ihm aber ebenbürtig ist. Berichtet wird von 20.000 Demonstranten.

Es sind nunmehr alle Altersklassen und Gesellschaftsschichten vertreten, nicht mehr nur Schüler und Studenten. Ansprachen gibt es im Gegensatz zu Bukarest keine, auch keine Polizisten in Kampfausrüstung. Die Polizei regelt hier nur den Verkehr. Das die Protestierenden vereinende Ziel scheint klar zu sein: Die Regierung und der Präsident sollen weg, und das möglichst rasch. Für den 15. März wird deswegen bereits mit Plakaten und über Megaphon zum nächsten Protest aufgerufen, einem Generalstreik.

Bald darauf ziehen die Menschen durch die Innenstadt von Belgrad an verschiedenen Institutionen vorbei. Zu den acht Kilometern kommen noch einmal ähnlich viele dazu, am Ende laufen ich und viele andere Teilnehmer knapp 20 Kilometer. An einer Stelle lasse ich den Zug komplett an mir vorbeiziehen, was über eine halbe Stunde dauert. Neben vereinzelten Sprechchören wird vor allem gepfiffen und getrötet. Mit einem Mal aber ist es mucksmäuschenstill, kein Handy klingelt und auch kein Flüstern ist zu hören. Aus dem, was sich Sekunden vorher noch wie ein Karnevalsumzug anhörte, wird nun ein Trauermarsch. Viele Teilnehmer schalten das Licht ihres Smartphones an, Menschen an Fenstern und auf Balkonen tun es ihnen gleich. Das ganze wieder für 15 Minuten. Die Anteilnahme und das Gedenken an die Opfer sind echt, sowohl bei den Teilnehmern des Protestes, als auch bei den Passanten.

Ob die Proteste gleichzeitig eine von außen gesteuerte „Farben-Revolution“ sind, das eine schließt das andere nicht aus, diese Frage stellen sich manche. Die Farbe des serbischen Protestes ist Rot – Blut an den Händen der Regierung. Eine Passantin zeigt mir dazu die Rückseite ihres Handys. Die rote Hand sage, dass es kein Unfall sondern Mord gewesen sei.

Protestsymbol | Foto: Rumen Milkow

Ein ähnliches Symbol gab es schon einmal in Serbien, und zwar eine geballte schwarze Faust der Organisation „Otpor!“ (auf Deutsch: Widerstand!). „Otpor!“ wurde hauptsächlich von Studenten der Universität Belgrad gegründet, bestand von 1998 bis 2004, ab 2000 auch als politische Partei, und spielte eine maßgebliche Rolle bei den Protesten in Serbien, die im Oktober 2000 zum Sturz Slobodan Miloševićs führten. „Otpor!“ unterstützte später auch Oppositionsparteien und -gruppen bei den politischen Umwälzungen durch „Farbrevolutionen“ in Nachfolgestaaten der Sowjetunion, beispielsweise in der Ukraine und in Georgien. Gelder für ihre Tätigkeit erhielt die Organisation aus den Vereinigten Staaten, unter anderem vom National Endowment for Democracy (NED) und der US Agency for International Development (USAID), die beide aktuell ins Visier der Trump-Administration geraten sind.

Vučić hatte im Dezember erklärt, in den vergangenen vier Jahren seien insgesamt 426 Millionen Euro „in Gruppen gepumpt worden, die Serbien destabilisieren und die Regierung stürzen wollen“. Ende Februar gab es Razzien der Polizei in den Hauptquartieren mehrerer Nichtregierungsorganisationen in Belgrad, um die Verwendung der von USAID erhaltenen Gelder zu überprüfen. Während das Europäische Parlament das Vorgehen der Behörden in Belgrad als „beängstigend“ bezeichnete, sieht US-Präsident Trump USAID selbst als kriminell an.

Der für den 15. März angekündigte Generalstreik wird den Druck auf Präsident Vučić weiter erhöhen. Im Nachbarland Bulgarien kam es 2020 nicht zum Machtwechsel. Hier war Ministerpräsident Boiko Borissow auch nach zwei Monaten des Protests noch im Amt. In Serbien hat gerade der fünfte Monat begonnen und Serbien hat, so scheint es mir, eine andere Energie als Bulgarien – sowohl was die Mobilisierung von Menschenmassen angeht, als auch ihre Entschlossenheit. Dies hat sich an diesem Freitag in Belgrad eindrucksvoll gezeigt.

Über den Autor: Rumen Milkow, Jahrgang 1966, wuchs als Sohn eines Bulgaren und einer Berlinerin in Ostdeutschland auf. Er ist examinierter Krankenpfleger, ehemaliger Berliner Taxifahrer und „Eselflüsterer“. Als freier Autor und Journalist lebt er in Berlin und Bulgarien.

MICHAEL KARI, 11. März 2025, 17:10 UHR

Warum kommt mir das so bekannt vor? Sind Studenten besonders lebenserfahren oder einfach nur gut manipulierbar? Woher stammt das Geld und die Materialien der sogenannten Protestler? Fragen über Fragen?

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