Istanbul, 9. April 2025 | Bild: picture alliance / ZUMAPRESS.com | Tolga Uluturk

Türkei-Proteste: Es geht um Gerechtigkeit

Immer Mittwochs soll es sie in Istanbul geben, aber kaum jemand weiß davon. Nach dem brutalen Vorgehen der Polizei und zahlreichen Verhaftungen haben viele Menschen Angst. Den meisten geht es, so zeigen Gespräche vor Ort, nicht um Personen, sondern um Gerechtigkeit. Multipolar-Autor Rumen Milkow berichtet aus Istanbul.

RUMEN MILKOW, 15. April 2025, 0 Kommentare, PDF

Sein Konterfei hängt noch neben Atatürk am Istanbuler Rathaus und an einigen anderen Gebäuden der Stadt. Er selbst sitzt seit dem 19. März in Untersuchungshaft. Seinen Universitätsabschluss ist er darüber hinaus auch los, und ohne ihn kann er nicht zum Präsidenten gewählt werden. Die Rede ist von Ekrem İmamoğlu, seit 2019 Bürgermeister der 16-Millionen-Metropole am Bosporus und Mitglied der Republikanischen Volkspartei CHP, die auf den Staatsgründer Atatürk zurückgeht.

Auch Recep Tayyip Erdoğan von der konservativen AKP war vor seiner Präsidentschaft Bürgermeister von Istanbul gewesen. Er, der im Jahr 1999 selbst für vier Monate inhaftiert war, soll nun hinter der Verhaftung seines schärfsten Konkurrenten bei der nächsten Präsidentschaftswahl stecken, die für 2028 geplant ist. Seine Nominierung drei Jahre vor der nächsten regulären Wahl sollte İmamoğlu eigentlich schützen. Doch dieser Plan seiner Partei ist nicht aufgegangen. Nachdem die CHP die Kommunalwahlen im vergangenen Jahr gewonnen hatte, gingen Beobachter davon aus, dass İmamoğlu die Wahlen um das Amt des Präsidenten gewinnen würde – auch, weil Erdogan laut Verfassung nicht noch einmal antreten darf.

Manche sehen in der Verhaftung İmamoğlus den Versuch der Regierung, vorgezogene Neuwahlen durchführen zu lassen. In diesem Fall dürfte Erdogan noch einmal antreten. Laut einer aktuellen Meinungsumfrage würden derzeit rund 30 Prozent der Befragten die CHP wählen und 28 Prozent die AKP von Staatspräsident Erdoğan. Müsste die CHP einen anderen, unbekannteren Kandidaten aufstellen, könnte sich das Meinungsbild ändern.

Transparente am Istanbuler Rathaus zeigen den Staatsgründer Atatürk neben İmamoğlu | Bild: Rumen Milkow

Der Fall weist einige Parallelen auf zur Verhaftung des aussichtsreichsten Kandidaten auf das Präsidentschaftsamt in Rumänien, Călin Georgescu (Multipolar berichtete). Ein Unterschied jedoch: Über die Ereignisse in der Türkei wird ausführlich berichtet, mit deutlicher Kritik an Erdoğan. Dieser hatte sich früh für Friedensverhandlungen im Ukrainekrieg eingesetzt, die nur wenige Wochen nach Kriegsbeginn auch in Istanbul stattfanden, wenngleich erfolglos. Nach den aktuellen Zerwürfnissen zwischen den USA und der Europäischen Union, auch wegen des Krieges in der Ukraine, wird die Rolle der Türkei, das über die zweitgrößte Armee innerhalb der Nato verfügt, immer wichtiger.

Nach der Verhaftung İmamoğlus ist es nun zu den größten regierungskritischen Proteste in der Türkei seit Jahren gekommen. Die Polizei geht teils brutal gegen Demonstranten vor, Tränengas kam zum Einsatz, Menschen wurden verhaftet, darunter auch Journalisten. Angst hat man auch wegen der Gesichtserkennung, weswegen viele sich maskieren. Die Opposition will nun jeden Mittwoch in Istanbul demonstrieren.

Vor allem deswegen bin ich am Mittwoch, dem 9. April, in der Mega-Stadt, die ich vor 30 Jahren das erste Mal besucht habe und wo ich seither immer wieder war. Mein erster Weg führt mich zur Universität, denn Studenten spielen, ähnlich wie in Serbien, eine bedeutende Rolle bei den Protesten. Nicht alle wollen mit mir reden, und nicht jeder spricht englisch. Alle jedoch verbindet, dass sie keine Zeit haben, denn gerade sind Prüfungen, noch bis Ende der folgenden Woche. Dass es heute einen Protest in der Stadt geben soll, davon weiß keiner der Studenten auch nur irgendetwas.

So auch Dogan (23), der erste Student, der mit mir redet. Er ist für die Proteste. Es gehe ihm aber nicht um die Person İmamoğlu, von dem er kein Fan sei, sondern um Gerechtigkeit. Dann muss er los, zu seinen Prüfungen. Eine vorbeilaufende Angestellte der Universität unterstützt die Proteste ebenfalls. Sie selbst möchte sich aber nicht dazu äußern, weil sie sonst ihren Job verliere. Auch sie weiß nichts über einen Protest am heutigen Tag.

Student Dogan vor dem Portal der Istanbuler Universität | Bild: Rumen Milkow

Geht es nach Mehrub (22), dann unterstützen knapp 90 Prozent der Dozenten die Studenten bei ihren Protesten. Mehrub, der nicht fotografiert werden möchte, studiert Business-Logistik und lebt seit 16 Jahren in der Türkei. Sein Vater ist Perser, seine Mutter Türkin. Die aktuellen Geschehnisse hält er für einen von der Regierung kontrollierten Protest. Er sagt, dass der Blick von außen ein anderer sei. Von innen betrachtet liege der wahre Grund im täglichen Leben, das immer beschwerlicher werde, an erster Stelle wegen der Inflation. Diese lag im Januar bei 42 Prozent, im März pendelte sie sich offiziell bei 38 Prozent ein. Deswegen würden die Menschen auf die Straße gehen – wegen hoher Preise, die immer weniger von ihnen bezahlen können. Er selbst unterstütze niemanden und er wähle auch nicht, denn Wahlen würden seiner Meinung nach nichts ändern können.

Für einen 45-jährigen Geschäftsmann, der seinen Namen nicht nennen und auch nicht fotografiert werden möchte, sind die Proteste vorbei. Diese seien auch eine große Show für die Medien gewesen. Immerhin, es seien ein paar ikonische Bilder entstanden, beispielsweise das von dem gelben Pokemon und dem tanzenden Derwisch mit Gasmaske. Falls es ein Ziel war, Menschen davon abzuhalten, nach Istanbul und in die Türkei zu kommen, so wurde dies nur bedingt erreicht, so der Geschäftsmann abschließend.

Dies bestätigt mir ein junges Touristenpaar aus England, das zum ersten Mal in der Türkei ist. Eine Woche seien sie nun schon in der Stadt, die voll von Besuchern ist, von den Protesten hätten sie außer aus dem Internet nichts mitbekommen. Es gefalle ihnen gut in Istanbul, sie fühlten sich sicher.

Der Allgemeine Deutsche Automobilclub sieht das anders. Auch wenn es von Seiten des Auswärtigen Amtes zwar keine offizielle Reisewarnung für die Türkei gibt, wurden einige Sicherheitshinweise für Reisende veröffentlicht, so der ADAC. Demonstrationen und größere Menschenansammlungen solle man meiden und in deren Umfeld äußerst vorsichtig zu sein.

Ich nutze die Mittagszeit und gehe zu der Pension unterhalb der Blauen Moschee, die ich seit fast 30 Jahren kenne. Einer der Söhne, der bei meinem ersten Besuch im Jahr 1996 noch ein Teenager war, weiß Positives zu berichten. Man sei expandiert, sein Bruder habe jetzt seine eigene Pension mit Restaurant praktisch gegenüber. Angesprochen auf die Proteste lautet seine Antwort, Politik sei „nicht unsere Angelegenheit“.

Zurück an der Universität spreche ich mit Gokhan Yalvin (49). Er ist Journalist und arbeitet als solcher gelegentlich auch in Köln. Er ist mit seinem Sohn unterwegs. Für ihn hat die Türkei ein Regierungsproblem. Er mag weder Erdogan noch İmamoğlu. Der Protest richte sich an erster Stelle gegen das System, in dem jeder korrupt sei. Seiner Meinung nach braucht es einen Systemwechsel.

Journalist Gokhan Yalvin mit seinem Sohn | Bild: Rumen Milkow

Aisha (23) ist Master-Studentin und hält İmamoğlus Verhaftung für einen Fehler, ebenso die Aberkennung seines Hochschulabschlusses. Sie sagt, sie unterstütze İmamoğlu und habe ihn auch gewählt. Ihrer Meinung nach wird er an den nächsten Präsidentschafts-Wahlen teilnehmen und diese gewinnen, denn die Mehrheit sei für ihn. Aisha hat auch nichts dagegen, fotografiert zu werden.

Studentin Aisha | Bild: Rumen Milkow

Anders Azra (20), sie studiert Wirtschaft und Recht. Angesichts der 300 festgenommenen Studenten hat sie Angst. Die Polizei würde nur auf einen Anlass warten, weitere Studenten festzunehmen. Im Moment habe sie keine Hoffnung, dass sich etwas ändert. Das heiße aber nicht, dass es auch so bleibt. Ähnlich denken ihre beiden Kommilitoninnen, die zustimmend nicken, während sie mit mir spricht.

Azim (22) ist Student und verweist darauf, dass seit seiner Geburt Erdogan die Türkei regiere, er aber nicht gut sei für das Land. Seit der Aberkennung von İmamoğlus Abschluss, den dieser an der hiesigen Universität erwarb, habe er Angst, dass ihm irgendwann ähnliches passieren könne. Er erzählt vom aktuellen Kaufboykott, beispielsweise von Nahrungs- und Genussmitteln. Die Opposition hat dazu aufgerufen, bei Firmen, die der Regierung nahestehen, nichts mehr zu kaufen. Seine Zigarette, die er in der Hand hält, hat er schon gestern gekauft. Azim kann sich vorstellen, dass die Proteste nach dem Ende der Prüfungen erneut beginnen. Sicher ist er aber nicht.

Ich begebe mich zum Istanbuler Rathaus, das nur wenige Minuten von der Universität entfernt liegt und bewacht wird. Auf dem Bürgersteig stehen Absperrgitter bereit. Vor jedem Eingang der beiden Gebäude steht ein Uniformierter mit Maschinengewehr. Jemand, der mir Fragen beantworten könnte, ist auf die Schnelle nicht ausfindig zu machen. So frage ich die vier Mitarbeiter am Empfang nach den heutigen Protesten in Istanbul. Die erste Antwort ist: Nein, die gebe es nicht. Nach kurzer Beratung schaut man noch einmal im Internet nach – und wird fündig.

Am Abend, um 20:30 Uhr, starte ein Protest im knapp zehn Kilometer entfernten Stadtbezirk Şişli. Hintergrund ist, dass am 19. März nicht nur Imamoğlu, Oberbürgermeister von Istanbul, verhaftet wurde, sondern auch die Bürgermeister zweier weiterer Stadtbezirke: Resul Emrah Şahan vom Stadtbezirk Şişli, (mit dem der Berliner Stadtbezirk Charlottenburg-Wilmersdorf eine Partnerschaft pflegt), und Mehmet Murat Çalık vom Stadtbezirk Beylikdüzü.

Um ein Zeichen gegen Imamoğlus Verhaftung zu setzen, sind am Vortag auch mehrere Amtskollegen aus Deutschland nach Istanbul gereist, unter ihnen Bremens Regierungschef Andreas Bovenschulte (SPD), Hannovers Oberbürgermeister Belit Onay (Grüne) und Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker (parteilos). Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner (CDU) hat eine für Anfang April geplante Türkei-Reise angesichts der Inhaftierung seines Amtskollegen abgesagt.

Um 19 Uhr sind zahlreiche CHP-Anhänger auf dem von der Partei organisierten Protest in Şişli. Später erscheinen auch Prominente wie Mustafa Sarıgül von der CHP, der von 1999 bis 2014 Bürgermeister des Stadtbezirks war. Darüber hinaus sind Vertreter anderer Parteien und Organisationen präsent, außerdem Bürger und Bürgerinnen Istanbuls, die den Protest der CHP unterstützen. Am Ende werden es einige Tausend Menschen sein, vom Alter her ab 30 aufwärts. Unter ihnen kein gelbes Pokemon, kein Joker, kein tanzender Derwisch mit Gasmaske und auch kaum Studenten.

Demonstration am 9. April im Stadtteil Şişli, gefilmt von regierungskritischem TV-Sender | Bild: Rumen Milkow

Lediglich eine Studentin treffe ich auf dem Protest an, die allerdings nicht fotografiert werden möchte. Sie zeigt ihr Schild mit der Aufschrift „Wir werden mit Weisheit tun, was die Unwissenheit zerstört hat“. Was sie genau damit meint, bleibt im Unklaren. Fakt ist, dass die junge Frau wie ein Fremdkörper wirkt auf dieser Veranstaltung. Die meisten Teilnehmer gehören einer anderen Generation an.

Ich frage mich, inwieweit die Studenten, die sich, bei aller Kritik an der Regierung, aktuell mehr um ihre Prüfungen kümmern als um Proteste, benutzt werden. Viele von ihnen sind offenbar nicht gegen Erdogan und für İmamoğlu, sondern an erster Stelle für Gerechtigkeit. Außerdem ist die Frage offen, warum kaum ein Student etwas von einem Protest wusste, obwohl es Mittwochs immer welche in Istanbul geben soll – und man selbst im Rathaus des verhafteten Bürgermeisters erst im Internet nachschauen musste.

Derweil hat der Prozess gegen diesen begonnen. Am vergangenen Freitag sagte er vor Gericht, er sei „hier, weil ich die Wahlen in Istanbul dreimal gewonnen habe“. Der nächste Prozesstag wurde für den 16. Juni angesetzt. Welche Dynamik die Proteste noch entfalten, bleibt abzuwarten.

Über den Autor: Rumen Milkow, Jahrgang 1966, wuchs als Sohn eines Bulgaren und einer Berlinerin in Ostdeutschland auf. Er ist examinierter Krankenpfleger, ehemaliger Berliner Taxifahrer und „Eselflüsterer“. Als freier Autor und Journalist lebt er in Berlin und Bulgarien. Für Multipolar berichtete er bereits von den Protesten in Rumänien und Serbien.

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