Bukarest, 1. März 2025 | Bild: Robert Ghement/EPA-EFE/Shutterstock

Nachtbus nach Bukarest

In der rumänischen Hauptstadt protestierten am 1. März Zehntausende – die Veranstalter sprechen von 300.000 – gegen die Anullierung des ersten Wahlgangs der Präsidentschaftswahlen. Der Sieger Călin Georgescu hatte sich für einen Ausgleich mit Russland, gegen Waffenlieferungen an die Ukraine, gegen die rumänische NATO-Mitgliedschaft sowie gegen den US-Raketenschild in Rumänien ausgesprochen. Multipolar-Autor Rumen Milkow war vor Ort und sprach mit den Demonstranten.

RUMEN MILKOW, 4. März 2025, 3 Kommentare, PDF

Es ist Freitagabend, der 28. Februar. Ich sitze auf dem Zentralen Busbahnhof in Sofia und warte auf den Nachtbus nach Bukarest. Vor genau einer Woche ist hier in der bulgarischen Hauptstadt der Protest gegen die Einführung des Euros eskaliert. 57 Prozent der Bulgaren sind gegen den Euro, trotzdem will man ihn einführen. In Rumänien wählten nicht ganz so viele, aber immerhin 23 Prozent und damit die relative Mehrheit, beim ersten Wahlgang den unabhängigen Kandidaten Călin Georgescu. Bei der für Anfang Dezember geplanten Stichwahl um das Amt des Präsidenten hätten es über 50 Prozent werden können, wenn sie nicht zuvor abgesagt worden wäre.

Am 26. Februar wurde Georgescu im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Verkehr gezogen. Auch wenn er nach mehrstündigem Verhör unter Auflagen wieder freigelassen wurde, ist immer noch unklar, ob er erneut kandidieren darf. Was erwartet mich unter diesen Voraussetzungen auf der Demonstration zur Unterstützung von Călin Georgescu am morgigen 1. März in Bukarest? Der Name des dortigen Busbahnhofes ist „Militari“, was zu unschönen Assoziationen in meinem Kopf führt. Hinzu kommt die Erinnerung an Nicolae Ceaușescu, den letzten Führer des sozialistischen Rumäniens, der zusammen mit seiner Frau vor 35 Jahren erschossen wurde. Genau war es der erste Weihnachtsfeiertag 1989. Ich war damals in Bulgarien, von wo aus ich jetzt anreise.

Busbahnhof Militari | Foto: Rumen Milkow

Ankunft um 6:30 Uhr am „Autogara Militari“. Die Demonstration soll um 13 Uhr beginnen. Genug Zeit also, sich umzusehen, erste Eindrücke zu sammeln und mit Menschen ins Gespräch zu kommen. Bereits Stunden vorher sind Hunderte auf dem Universitätsplatz zusammengekommen. Unter ihnen auch der viel gefragte George Simion, Chef der „Allianz für die Vereinigung der Rumänen“ (AUR) und Organisator des heutigen Protestes. Auf meine Frage, ob Călin Georgescu bei der Wahlwiederhloung im Mai antreten wird, sagt Simion: „Wenn wir noch eine Demokratie haben, ist er im Rennen.“

George Simion | Foto: Rumen Milkow

Dorina Somogyi (52) ist eine der Teilnehmerinnen des Protestes, mit denen ich ins Gespräch komme. Somogyi ist selbständig, hat 15 Jahre in Wien gelebt und ist 2018 nach Rumänien zurückgekehrt. Sie ist mit Freunden die ganze Nacht durch 650 Kilometer gefahren, um heute hier zu sein. Somogyi beklagt eine „falsche Berichterstattung“ und dass die 1989 errungene Freiheit sich jetzt als eine „falsche Freiheit“ herausstelle. Ihrer Meinung nach haben die Herrschenden deswegen eine so große Angst vor dem unabhängigen Kandidaten Georgescu, weil er ihr Fehlverhalten und die Korruption offen legen wolle. Europa gehe in eine „verkehrte Richtung“, in Richtung Krieg, aber sie wolle Frieden, auch für ihre elfjährige Tochter.

Dorina Somogyi | Foto: Rumen Milkow

Somogyi beklagt, dass in der Hauptstadt viele für den Staat arbeiten würden. Diese Menschen blieben lieber zuhause, weil sie für rumänische Verhältnisse ganz gut bezahlt seien. Deswegen sei es wichtig, dass Menschen von auswärts, aus anderen Landesteilen zum Protest in die Hauptstadt kämen. Auch weil Intellektuelle aus der Hauptstadt kaum auf dem Protest zu erwarten wären. Sie seien „zu feige“, sich offen zu Georgescu zu bekennen, obwohl viele von ihnen ihn gewählt hätten. Davon ist Somogyi überzeugt.

Stefan Alexandru | Foto: Rumen Milkow

Stefan Alexandru (34) ist bereits zum vierten Mal zu einem Protest extra aus Stuttgart gekommen, wo er seit zehn Jahren lebt. Er hofft, dass sich heute etwas ändert, denn so dürfe es „nicht weitergehen in Rumänien“. Es könne nicht sein, „dass die Menschen sich nicht mehr trauen, offen ihre Meinung zu sagen“. Dann sei es „keine Demokratie mehr, sondern eine Diktatur“, betont Alexandru.

André Pitic | Foto: Rumen Milkow

André Pitic (34) ist aus der 500 Kilometer entfernten Region Moldau an der Grenze zur Ukraine angereist. Die Zugfahrt dauerte neun Stunden, was seiner Meinung nach ein Unding ist. Er sei hier, damit die Rumänen „endlich eine Wahl“ haben, denn diese hatten sie bei der abgebrochenen Abstimmung nicht. Die aktuelle Regierung habe das eigene Volk, die Rumänen, vergessen. Er unterstütze Georgescu, weil er in ihm eine Person „mit Motivation und Moral“ sieht, und weil er versprochen habe aufzuräumen und Rumänien an die erste Stelle zu setzen.

Călin und Laura Ursu | Foto: Rumen Milkow

Laura Ursu (40), Mutter von drei Kindern, ist zusammen mit ihrem Mann Călin vier Stunden aus Sibiu (Hermannstadt) angereist. Die Inflation und hohe Steuern machen ihnen zu schaffen. Sie beklagen sich auch über die Schulen in Rumänien, die „den Kindern die nationale Identität nehmen“ und die „Geschichte tilgen“, dazu auch die Religion. Mit einem selbst gestalteten Plakat kritisieren sie die Praktik der Sozialdemokratischen Partei (PSD), die vor Wahlen die Abstimmung beeinflusst, indem sie auf den Dörfern Lebensmittel verteilt.

Der Abmarsch vom Universitätsplatz, an dem es keine größeren Ansprachen gibt, verzögert sich, weil immer noch Busse eintreffen. Diese werden von der Polizei möglichst nah an den Protestzug herangeleitet, so dass die Insassen keine weiten Wege zurücklegen müssen. Die Zusammenarbeit der Gendarmerie, der Polizei und ihren Dialog-Teams mit den Organisatoren und deren Ordnungskräften wirkt respektvoll. Die von den Veranstaltern verteilten rumänischen Fahnen werden auch von einigen Polizisten an ihrer Uniform befestigt.

Polizisten sichern den Demonstrationszug ab | Foto: Rumen Milkow

Die wichtigsten Slogans der Demonstranten betonen „Freiheit“, „Nationale Einheit“, sprich Überwindung der Spaltung der Gesellschaft, „Rücktritt der Regierung“ unter Premierminister Marcel Ciolacu, die nach Meinung der Menschen korrupt und verantwortlich für die Lage im Land sei, darüber hinaus „Georgescu, Präsident!“ und auch „Georgescu, Mann Gottes!“. Während am Universitätsplatz einige Tausend Demonstranten anwesend waren, vergrößert sich, kaum dass der Zug losgezogen ist, ihre Zahl nun rasch, fast exponentiell. Dieser Umstand bestimmt auch die Geschwindigkeit des Marsches. Für die knapp drei Kilometer zum Siegesplatz braucht er mehr als eine Stunde. Dort warten bereits zahlreiche Menschen und weitere strömen aus dem U-Bahnhof am Platz. Sprachen die Veranstalter zuvor von 100.000 Teilnehmern, sollen es nun bis zu 300.000 sein.

Der Demonstrationszug | Foto: Rumen Milkow

Beim Eintreffen des Demonstrationszuges auf dem Platz wird es deswegen eng, auch weil sich dort der Regierungssitz befindet. Das Gebäude, das weiträumig und mit doppelten Barrieren abgesperrt ist, wird von zahlreichen Uniformierten gesichert. Aufgrund der plötzlichen Enge kommt es zu kleineren Rangeleien und Wortgefechten mit den Ordnungskräften, die aber in aller Regel friedlich bleiben. Die Polizei spricht später lediglich von einzelnen Festnahmen, zum Beispiel wegen Mitführung eines unerlaubten Gegenstandes.

Călin Georgescu (Bildmitte) | Foto: Rumen Milkow

Gegen 15 Uhr trifft auch Georgescu auf dem Siegesplatz ein. Mit der rechten Hand stützt er sich nach einer Knie-OP auf eine Gehhilfe, in der linken hält er die Hand seiner Frau. Sicherheitsleute und unzählige Menschen umringen ihn. Auf seinem Weg zur Bühne kommt er nur langsam voran, auch weil er zahlreiche Interviews gibt und immer wieder Fragen der Teilnehmer beantwortet. Dem rumänischen Nachrichtensender Realitatea TV sagt er, dass das rumänische Volk „gezeigt habe, dass es weiß, was Demokratie bedeutet“ und dafür kämpfen werde. Das Wichtigste sei, so Georgescu weiter, dass das rumänische Volk erkannt habe, dass es „würdevoll leben“ möchte. Er kündigte an, in der kommenden Woche seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahl einzureichen.

Plakate auf der Demonstration | Foto: Rumen Milkow

Auf dem Siegesplatz tauchen zum ersten Mal Plakate auf englisch auf, insgesamt acht. Die Rechtsanwältin Alexandra Ursanu (34) hat sie privat und auf eigene Kosten professionell drucken lassen. Sie möchte damit die Welt von der aktuellen Lage in Rumänien wissen lassen, wie sie sagt. Georgescu sei den Menschen wegen seiner kritischen Einstellung zur Impfung während der Corona-Zeit in Erinnerung, so Ursanu. Im letzten Jahr hätten sich zudem viele von seiner Forderung nach Frieden in der Ukraine angesprochen gefühlt, und auch von dem, was sie „Rumänien zuerst“ nennt. Damit sei gemeint, dass ausländische Firmen nicht länger in Rumänien Gewinne erwirtschaften sollten, die aus dem Land abfließen, auf die sie aber keine Steuern bezahlen würden.

Die in Bukarest lebende Rechtsanwältin nennt drei Ideen Georgescus, die viele Menschen überzeugt hätten: Die Forderung nach sauberem und bezahlbarem Wasser für alle, nach sauberem Essen – ein Thema, mit dem er sich auch als UN-Beauftragter für Gifte beschäftigt hätte –, sowie das Ziel, bei der Energieerzeugung zuallererst auf den eigenen Bedarf zu achten, um nicht teure Energie aus dem Ausland kaufen zu müssen, die dann vom Staat subventioniert werden müsse, damit sich die Einheimischen sie überhaupt leisten könnten. Wichtig ist ihr auch zu erwähnen, dass sich viele Rumänen von der Gläubigkeit Georgescus, eines orthodoxen Christen, angesprochen fühlten.

Ursanu war am Mittwoch auch vor dem Gerichtsgebäude gewesen, wo Georgescu über mehrere Stunden verhört worden war. Sie spricht von mehreren tausend Protestierenden und nicht nur von hunderten, wie offiziell berichtet worden war. Die Menschen wären über die Festnahme sehr aufgebracht gewesen. Ursanu findet aber auch kritische Worte für Georgescu. So soll er nach der Annullierung der Wahl Ende 2024 die Menschen dazu aufgefordert haben, zu Hause zu bleiben. Dies sei ein Fehler gewesen, so Ursanu.

Bald darauf beginnen die Redner auf der Tribüne mit ihren Ansprachen. Die drei wichtigsten Protagonisten sind Călin Georgescu, George Simion und Anamaria Gavrilă, Vorsitzende der Jungen Volkspartei (POT) und Mitorganisatorin des Protestes. Auch Kostadin Kostadinow, Chef der bulgarischen Partei „Wiedergeburt“, der am Samstag zuvor den Protest gegen die Einführung des Euros in der Hauptstadt Sofia angeführt hatte, ist mit auf der Bühne. Er spricht Georgescu bereits mit „zukünftiger Präsident Rumäniens“ an, was nicht so recht zu dessen ruhigem, fast demütigem Auftreten zu passen scheint.

George Simion beginnt seine Rede mit: „Wir sind viele, wir sind vereint, wir sind stark!“ Man sei hier, weil man ihnen die Stimme gestohlen habe, weil die Demokratie mit Füßen getreten wurde, und weil derjenige, der der Präsident der Rumänen sein sollte, nicht an seinem rechtmäßigen Platz sei. Simion weist darauf hin, dass Abgeordnete nicht nur aus Bulgarien, sondern auch aus Spanien und Polen anwesend seien.

Dann spricht Georgescu. Er betont, dass er wisse, wie viel Mühe sich die Teilnehmer gegeben haben, um aus allen Teilen des Landes und aus dem Ausland anzureisen. Heute, am 1. März, seien sie alle mit Gott vereint. Er habe seine Gesundheit und die seiner Familie riskiert, um hier zu sein. Ohne Einigkeit könne man nicht frei sein. Gemeinsam mit allen Rumänen, die „genug von der Korruption“ haben, werde man das Land zurückerobern. Die Menschen hätten das Recht, frei zu wählen, wen sie wollen.

Nach Georgescus Rede löst sich der Protest nur langsam auf, auch aufgrund der Massen an Menschen. Viele bleiben noch auf dem Platz, um sich auszutauschen. Im Hintergrund sind patriotische Lieder zu hören. Die umliegenden Cafés sind voll, ebenso die Eingänge zur U-Bahn. Die letzten werden den Platz erst nach Einbruch der Dunkelheit verlassen.

Einen so großen Massenprotest habe ich seit den Demonstrationen im Herbst 1989 in der DDR nicht mehr gesehen. Nicht nur ich habe die Assoziation zu dieser Zeit. Serin Tanagescu (53) ist mit einer Original-Fahne von 1989 mit herausgeschnittenem sozialistischem Symbol zum Protest gekommen. Eine solche Fahne hatte ich damals bei meiner Rückreise aus Bulgarien Ende 1989 in ganz Rumänien gesehen.

Serin Tanagescu | Foto: Rumen Milkow

„Militär“ heißt nicht nur der Busbahnhof, von dem aus kurz vor Mitternacht meine Rückreise nach Sofia startet, sondern der gesamte Stadtbezirk im Westteil der rumänischen Hauptstadt. Schon im 19. Jahrhundert gab es an dieser Stelle Militäreinrichtungen. Zuvor lagerte die österreichische Armee hier, auf ihrem Marsch in den Russisch-Osmanischen Krieg. Doch Militär kam am Samstag in Bukarest nicht zum Einsatz. Der Massenprotest verlief friedlich.

Korrektur 8.3.: Die beiden Demonstranten André Pitic und Stefan Alexandru waren zunächst in Bild und Text vertauscht. Der Fehler wurde korrigiert.

Über den Autor: Rumen Milkow, Jahrgang 1966, wuchs als Sohn eines Bulgaren und einer Berlinerin in Ostdeutschland auf. Er ist examinierter Krankenpfleger, ehemaliger Berliner Taxifahrer und „Eselflüsterer“. Als freier Autor und Journalist lebt er in Berlin und Bulgarien.

MATTHIAS BARON, 5. März 2025, 11:45 UHR

Wenn Wahlen was ändern würden, dann wären sie verboten. Als ich im Februar mein Kreuzchen machte, war ein Bleistift in der Wahlkabine. Ein Schelm wer Böses dabei denkt. Die letzten 40 Jahre konnte oft die FDP mit knapp über 5 Prozent das Zünglein an der Waage spielen. Jetzt ist das BSW mit weniger als 5 Prozent ohne Bundestagsmandat geblieben, genauso wie eine Reihe gewählter Direktkandidaten. Eine regierungskritische Demonstration in diesem Ausmaß ist hierzulande nicht mehr vorstellbar. Und wenn sie doch geschähe, wäre die Reaktion vorhersehbar: Ein rechter Mob bedroht unsere Freiheit und Demokratie.

Ein bisschen erinnert das an die großen Friedensdemonstration Anfang der 80er, wo noch Veteranen des 2. Weltkrieges mitliefen. Umso wichtiger, dass von solchen Protesten berichtet wird. Ich hätte das sonst nicht gewusst. Dass von dieser Großdemo wenig in den gleichgeschalteten Medien war, ist vielsagend.

CETZER, 5. März 2025, 12:05 UHR

"die Praktik der Sozialdemokratischen Partei (PSD/SPD), die vor Wahlen die Abstimmung beeinflusst, indem sie auf den Dörfern [und in den No-Go-Zonen !?) Lebensmittel verteilt"

Tolle Idee! Habe ich sofort an die SPD-Zentrale in Berlin (1) übermittelt und warte jetzt auf mein (üppiges !?) Lebensmittel-Paket als Dank für diese zukünftig viel effizientere Wahlwerbung als z.B. Plakate. Die kann man schließlich nicht essen, genauso wenig wie Panzerketten-Fett (2).

Der Artikel ist gut, transportiert auch etwas der Atmosphäre vor Ort.

(1) Seltsamerweise nach Willy Brandt benannt, nicht nach Gustav Noske
(2) Panzerketten-Fett (PanzerkettenlaufwerksSchmierungsHilfsstoffe) statt Butter lautet die neue Parole, die auch in EU-Verordnungen eine gute Figur macht

MICHAEL KARI, 5. März 2025, 18:20 UHR

Es ist schlicht egal, welche Partei man wählt, sondern einzig die Wahlbeteiligung ist maßgeblich für die Legitimation einer Regierung in der BRD. Der Rest (Parteien) ist Kino!

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