
Katastrophismus zur Verhaltenssteuerung
KATJA LEYHAUSEN, 7. März 2025, 20 Kommentare, PDFDie Pioniere der Corona-Gesellschaft haben mit sprachlichen Äußerungen in die Gesellschaft hineingewirkt, die man bis heute kaum glauben kann. So fragte, in der französischen Tageszeitung Le Monde Anfang Juli 2020, der damals 78-jährige Philosoph Jean-Pierre Dupuy: Sind „die Alten“ der Jugend etwas schuldig, weil diese sich hat aus- und einsperren lassen in den Corona-Lockdowns? Bei der Pariser Regierung, Universität und Medienlandschaft ist der studierte Ingenieur und emeritierte Professor für Sozialphilosophie, Politische Philosophie und Wissenschaftsethik an der École Polytechnique (Paris) sowie für Französisch und Italienisch an der Stanford University (USA) ein viel gefragter Mann. Die ausdrücklich konfrontative und undifferenzierte Gegenüberstellung von „den Alten“ und „den Jungen“ war eine Konstante in seinen öffentlichen Auftritten zur Corona-Epidemie. Die von ihm selbst aufgeworfene ethische Frage über eine moralische Schuld der einen gegenüber den anderen beschied er negativ. Denn: „Wenn jemand, der mir nach dem Leben trachtet, darauf verzichtet, mich umzubringen, habe ich dann ihm gegenüber eine Schuld?“
Die Katastrophe entmenschlicht
Katastrophismus heißt, an den entscheidenden Positionen in Politik und Öffentlichkeit ein Worst-Case-Szenario zu verbreiten, das aggressiver kaum formuliert sein kann, ganz offensichtlich realitätsverzerrend ist und die Grenzen der Vorstellung und des Sagbaren sprengt. Dem Regierungsberater aus dem Silicon Valley galten Kinder, Jugendliche, junge Menschen, die sich altersgemäß verhielten, als Mörder. Und nicht nur ihm: Die Kriminalisierung dieser Altersgruppen, wie auch ihre Pathologisierung („was die Ratten in der Zeit der Pest waren, sind Kinder zurzeit für Covid-19“, belustigte sich ein untalentierter Komiker im ZDF) war entmenschlichender Alltag in der westlich-demokratischen Corona-Gesellschaft.
Das war kein Zufall. Katastrophismus ist eine breit angewandte disruptive Technologie von Verhaltenssteuerung und Social Engineering. Katastrophensignale werden ausgesendet, mit denen die Protagonisten sich und andere effektiv auf einen Aktivismus des gesellschaftlichen Ausnahmezustands verpflichten. Überreaktionen werden systematisch eintrainiert. Von halluzinatorischen Worst-Case-Modellen angeleitet, schworen sich die Teilnehmer der Corona-Gesellschaft gegenseitig darauf ein, Kinder und junge Menschen für Zwecke benutzen zu müssen. Die gesellschaftliche Verantwortung war ausgesetzt.
Dabei fehlt Katastrophisten weder die begriffliche Unterscheidung noch die moralische Einsicht. Sie verzerren ihr Denken, Sprechen und Handeln absichtlich. Bereits vor über 20 Jahren nannte das der Philosoph Dupuy eine „Theorie der Entscheidung unter Bedingungen der Unsicherheit“. Die realitätsverzerrende und verunsichernde Intransparenz stellen die Katastrophisten aber selbst erst her, durch ihre Worst-Case-Szenarien sowie die Aggressivität, mit der sie sie propagieren und in Maßnahmen umsetzen. Ihre Katastrophengeschichte wollen sie sich von einem Ende her denken, das in diesem Fall ungefähr heißt:
„Bevor ich mich bei einem Kind oder Jugendlichen mit dem Virus anstecke, muss ich mir sagen: Es sind feige Mörder, sie trachten mir nach dem Leben. Danach richte ich mich. Dann werde ich im Nachhinein erfolgreich auf mein Epidemie-Verhalten zurückschauen und mir nichts vorwerfen müssen. Ich werde nicht leichtsinnig gewesen sein und mich immer von ihnen ferngehalten haben, sie werden mich nicht umgebracht haben können!“
Das menschliche Zeitgefühl wird manipuliert
Wir werden nicht leichtsinnig gewesen sein: Katastrophismus ist Sprechen und Denken im Futur II beziehungsweise Futurperfekt. Die Zeitenfolge wird pervertiert: Der Katastrophist versetzt sich angestrengt in die Zeit nach der vorweggenommenen Katastrophe, die er verhindern will. Er sieht nicht aus seiner Position der Gegenwart in eine ungewisse, offene Zukunft voller Möglichkeiten. Chancen und Risiken sowie die erfahrungsbasierten Wissenschaften ihrer Abwägung interessieren ihn nicht. Er blickt umgekehrt auf seine Gegenwart aus der Sicht einer als abgeschlossen betrachteten Zukunft, die er sich imaginativ als unübertreffliches Schreckensszenario ausmalt, mit der Idee, dieses Szenario am Ende überlebt haben zu müssen.
Dazu benutzt er Handlungs- und Vorgangsverben wie (jemanden) umbringen, töten, retten; siegen, sterben, überleben; (etwas) zerstören, gewinnen, verlieren, verhindern, mit denen er den perfektiven, abgeschlossenen Aspekt ausdrückt (Wir werden gestorben sein oder überlebt haben). Man kann nicht ein bisschen sterben. Gestorben und auch gesiegt wird nur total. Jedesmal ist es ein Ausdruck des vollkommenen Erfolgs oder des totalen Untergangs, das nur aus der Rückschau einen Wahrheitswert bekommt. Es geht um alles, es wird um alles gegangen sein!
Katastrophisten sprechen dafür meistens vereinfachend im Singular: Das Virus (im typisierenden Singular) wird in der Pandemie (mit dem neuen Kunstwort: als allumfassendes Kollektivereignis) die Welt (die es nur ein einziges Mal gibt) oder die Menschheit (das Kollektiv) mit Tod und Zerstörung (die ultimativ sind) überzogen haben, besonders die Alten (im typisierenden Plural). Schließlich ist es die Zukunft als solche, die den Menschen getötet haben wird, und das ist, was den Einzelnen betrifft, sogar wahr. (Ich werde irgendwann gestorben sein.) Doch der katastrophistische Singular steht nur als rhetorische Variation für den Einzelnen. Tatsächlich ist er so total, dass er regelmäßig durch Höchst- und Allquantifizierungen ersetzt wird: Alle (alle „Alten“) werden unwiederbringlich gestorben sein, es wird Millionen Tote geben und so weiter.
Dieses herbeiphantasierte Schreckensszenario sehen Katastrophisten nicht als eine Möglichkeit, die sich ereignen kann, bloß ereignen könnte oder eher nie. Sie manipulieren auch die Modalverben und zwingen sich dadurch zu denken, dass die totale Katastrophe mit Notwendigkeit ganz gewiss wird passiert sein müssen. Sie müssen sich folglich der Katastrophe unterwerfen – und was sie müssen, das müssen alle anderen auch. Die Kinder aus Schule und Gesellschaft auszusperren und in engen Wohnungen mit ihren überlasteten Eltern über Monate zusammenzusperren, war alternativlos.
Eine Korrektur des Menschen in der Hand der Beraterindustrie
Es war Jean-Pierre Dupuy, der diese Manipulationstechnik als Theorie entwickelt und bei der französischen Regierung mit dem Etikett des Katastrophismus – eines hochvernünftigen, rationalen, aufgeklärten Katastrophismus – gegen den gleichlautenden Ideologievorwurf trotzig beworben hat. Es sei ein „metaphysischer Umsturz“, der die Ethik der Risikogesellschaft revolutioniere. Katastrophismus müsse den Konsequentialismus ersetzen. Die konsequentialistische Handlungsmaxime Bedenke die schädlichen Folgen und Nebenfolgen deiner Handlungen und vermeide sie! habe ausgedient. Denn in der Gesellschaft neuer Technologien und „neuer Risiken“ ist der Mensch ohnmächtig und allmächtig zugleich: Er kann die Langzeitwirkungen seiner Eingriffe nicht beherrschen. Er kann deshalb alles vernichten – er muss alles vernichten. Für Katastrophisten und ihre Auftraggeber sind nie die Verantwortlichen verantwortlich, sondern immer nur der Mensch. Die relevanten öffentlichen Fragen werden entpolitisiert und moralistisch verzerrt.
Ursprünglich kommt die Methode allerdings nicht aus der Universität, sondern aus der vom US-amerikanischen Militär (RAND-Corporation), vom Wissens- und Changemanagement der globalen Multikonzerne (Royal Dutch/Shell) sowie von Umweltaktivisten (Robert Jungk) und -organisationen verwendeten, spekulativen Foresight-Futurologie. Hier heißt sie horizon scanning und scenario planning: Durch subjektive Intuition und Imagination, durch Visionen, Geschichten, Mythen, Wünsche, Ängste begibt man sich auf eine spekulative Zeitreise. Denn wie sonst „soll man die Zukunft studieren, wenn sie noch nicht stattgefunden hat?“.
Worst- und Best-Case-Modelle werden ausgearbeitet. Die Experten selbst nennen diese Szenarien „Irrlichter“, durch deren trickreiche Verwendung das von ihnen beratene Management „ungünstige Bedingungen erkennen, Politik lenken, Strategien gestalten, neue Märkte, Produkte und Dienstleistungen“ und „unkonventionelle“ Möglichkeiten der Organisationspolitik erschließen kann. Tatsächlich geht es darum, alle sogenannten Stakeholder auf ein vom Management vorbestimmtes Ziel einzuschwören, das am Ende nachhaltig wird vermieden oder erreicht worden sein müssen.
Seit Langem schon ist es üblich, dass auch die westlichen Regierungen, Parlamente und Behörden sowie Lobbyorganisationen, mit denen sie zusammenarbeiten, sogenannte Strategische Vorausschauorganisationen entweder selbst unterhalten (das EU-Parlament seit 1987 STOA als „Lenkungsgruppe zur Zukunft von Wissenschaft und Technologie”) oder einkaufen (seit den 1990er Jahren das Bundesministerium für Bildung und Forschung beim Fraunhofer Institut).
Bereits 1979 hat der deutsche Philosoph Hans Jonas versucht, das manipulativ-disruptive Organisations- und Regierungsprinzip intellektuell und ethisch zu legitimieren: Er erklärte es zur verantwortlichen Ethik. Von anderen wird es auch gerne als „politisch“ missinterpretiert oder als „methodisch“ und „pädagogisch“ beschönigt. Dem Menschen auf herkömmliche Weise zu vermitteln, was die Zukunft von ihm fordert, sei aussichtslos. Denn er habe einen wesentlichen Makel in seinem metaphysischen Umgang mit der Zeit, sagen Jonas und Dupuy: Selbst wenn der Mensch weiß, dass mit Sicherheit etwas auf ihn zukommt, das ihm „die Adern gefrieren lassen müsste“, und er nur das Datum noch nicht kennt, „schafft“ er es trotzdem „nicht, dieses Wissen in Glauben zu transformieren“. Man weiß, dass man sterben muss, aber man glaubt es nicht. Immerhin ist der Mensch programmierbar. Und da er so zerstörerisch wie unbelehrbar ist, heißt das nicht, dass er programmiert werden kann. Es heißt, dass er programmiert und umprogrammiert werden muss, der Mensch.
Die Katastrophe ist ein elitäres Projekt
Und doch ist der Mensch nicht ganz allein auf der Welt, es gibt immer noch andere Menschen. Die vom Club of Rome bezahlten Mitarbeiter des Massachusetts Institut of Technology (MIT) unterschieden 1972 in der Einleitung ihres Berichts über Die Grenzen des Wachstums (der bis heute als Forschungsarbeit gilt) zwei Menschengattungen: „Die meisten Menschen“ haben „ein schweres Leben (...). Dieser Teil der Menschheit (...) hat sich fast ausschließlich darum zu bemühen, sich und seine Familie über den nächsten Tag zu bringen (...). Andere wiederum können über den Tag hinaus denken und handeln. Sie empfinden nicht nur eigene, sondern auch Lasten der Gemeinschaft, mit der sie sich identifizieren. Ihre Handlungsziele erstrecken sich über Monate und Jahre“.
Katastrophismus ist ein elitäres Projekt. Eine besonders empfindsame und weitsichtig identifizierte Klasse von Menschen, die im interessierten Auftrag Worst- und Best-Case-Szenarien moderiert, produziert und verbreitet, weil sie es kann, muss diejenigen Menschen, die durch tägliche Arbeit an ihrer Mündigkeit gehindert werden, unter dem Titel der ultimativen Rettung der Menschheit, des Klimas oder „unserer“ Demokratie von oben herab für die Zukunft, das heißt für die Projekte ihrer Auftraggeber, radikal zurichten. Auch Regierungen stehen in diesem Verdacht, arbeiten zu müssen und unmündig zu sein. Die Aufgabe der Foresight-Experten ist es daher zuerst, die politischen Entscheider neu zu programmieren.
Raffinierte „Pflicht zur Bereitschaft“
Mit Horrorszenarien Panik zu schüren, das wäre freilich dem empfindsamen Geist nicht fein genug. Der Katastrophist Dupuy beruft sich wieder auf Hans Jonas, der sich 1979 für eine „Zukunftsethik“ der zerstörerischen Fernwirkungen menschlicher Zivilisation und, aus Verzweiflung über die menschliche Unzulänglichkeit, eine „Heuristik der Furcht“ ausgedacht hat. Es ist wie beim eigenen Tod: Was der Mensch nicht „erfahren“ hat und daher nicht glaubt, das fürchtet er auch nicht. Er schützt sich nicht davor. Die Furcht „muss“ also „absichtlich beschafft werden“, so Jonas.
Verfahren wird nach dem Prinzip, das die militärisch entwickelte Kybernetik für ihre Flugabwehrgeschütze als „vorlaufende Rückkopplung“ bezeichnet hat, und Hans Jonas als „vorwärtsgedachte Kausalität“. „Der vorgestellte Endeffekt soll zur Entscheidung führen, was jetzt zu tun und zu lassen ist“. Das Menschenbild dieser Philosophen könnte rationaler kaum sein: Der Mensch reagiert auf sinnlich-ästhetische Reize reflexhaft, wie der Rechner auf Signale. Wenn er also ausschließlich das fürchtet, was er selbst erlebt hat, dann müssen die weitsichtig Identifizierten ihn die kommende Katastrophe schon jetzt so deutlich spüren lassen, dass sie ihn prompt in die Furcht zwingt.
Diese Furcht ist aber kein Affekt, sondern „eine Furcht geistiger Art, die als Sache einer Haltung unser eigenes Werk ist“. Der Mensch hat die „Pflicht“ zur „Bereitschaft“, sich durch „die passende Furcht“ von der Katastrophe „affizieren zu lassen“, so Jonas. Unmündige, arbeitende Menschen, die weder globale Weltwirtschafts-Clubs noch akademische Seminare besuchen und die neue Metaphysik nicht kennen, mögen also vielleicht bei Betrachtung schlimmster Klima- oder Viren-Modelle Angst bekommen. Die elitäre Identifikation mit dem Katastrophismus gelingt dem, der es schafft, ihn zu praktizieren und zu verbreiten, ohne selbst Angst zu haben. Auch über die offensichtliche Boshaftigkeit, Lächerlichkeit, Unsachlichkeit vieler Worst-Case-Best-Case-Szenarien sieht er souverän hinweg. Wer sich angstfrei, bewusst und initiativ auf den Katastrophismus einlässt, hat verstanden, dass er bei einem Projekt mitmacht, das nicht auf dem Wahrheitsgehalt von Aussagen beruht. Er macht mit, weil er zu den Raffinierten aus dem Gesellschaftsmanagement gehören will.
Jeder, der sich ab März 2020 von dieser Vorstellung hat kriegen lassen, wurde Teil der Katastrophe. Man las und hörte angestrengt über die Betrugssignale hinweg, man schottete sich kraftvoll gegen Zweifel, Fragen und Kritik ab. Eine eingeschworene Gemeinschaft entstand, die für Wissenschaft und Erkenntnis, Deliberation und Demokratie nicht mehr zugänglich war.
Für diese Haltung der Furcht, die in der Öffentlichkeit erzeugt werden soll, eignen sich bislang am allerbesten die mathematischen Modellierungen. Der Meadows-Bericht des MIT hat es 1972 vorgemacht. „Wer sich mit numerischen Simulationen auskennt, der weiß, dass man mit geschickter Manipulation der Parameter eine große Bandbreite an Lösungen produzieren“ kann, so der Mathematiker Bernd Simeon. Aber „wir finden ein Paradox des blinden Vertrauens vor, bei dem diejenigen, die nichts von der Sache verstehen, den Zahlen und bunten Animationen hilflos sehr viel Glauben schenken – schließlich ist die Mathematik exakt, eindrucksvoll, tatsächlich sogar einschüchternd. Selbst Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft vertrauen in aller Regel einer sehr stark verkürzten und verdichteten zahlenmäßigen Argumentation, die einer sorgfältigen Abwägung von Folgen und Risiken zuwiderläuft“, erklärt Simeon.
Pandemie-Katastrophismus als Kommunikationsmaßnahme
Zu erinnern ist an den offenen Betrug und den ungehemmten Zwang der Corona-Maßnahmenpolitik. Betrogen wurde mit anlasslosen, in keine Relation gesetzten Testungen und einem unsachlichen Begriff der Inzidenz. Man testete, wen man kriegen konnte, insbesondere die in der Schule ausgelieferten Kinder und Jugendlichen. Nach jedem Schulbeginn, der genehmigt worden war, wurde wegen schlagartig erhöhter Inzidenzen medial und politisch Alarm geschlagen. Betrogen wurde auch mit den pauschalen Hochrechnungen der willkürlichen Testergebnisse nach dem unpassenden mathematischen Modell exponentiellen Wachstums. Die Zahlen wurden katastrophistisch in die Höhe getrieben, ein nützliches Trugbild entstand.
Gesorgt hatten dafür im März 2020 die Foresight-Experten. Nachdem am 11. März 2020 die WHO eine Pandemie ausgerufen hatte, beauftragte Staatssekretär Markus Kerber aus Seehofers Innenministerium am 18. März ein „vertrauliches Strategiepapier“, das, mit Kerbers Worten, schnell „den Weg in das Krisenkabinett der Bundesregierung fand“. Kerber verglich gegenüber seinem „Freund und Nachbarn Lothar Wieler die Situation mit Apollo 13“. Diesen Vergleich hat Kerber aus der Foresight-Szene. Mariana Mazzucato bewirbt ihr (an Vietnam und China orientiertes, auf einen „funktionstüchtigeren Kapitalismus“ gerichtetes) „missionsorientiertes“ Polit-Management ebenfalls mit dem Apollo-Programm, diesem „Akt des Glaubens und der Vision“.
Die Experten des Strategiepapiers gaben für ihre raffinierte Mission der Bereitschaft zur Furcht dem Innenministerium detaillierte Anweisungen zum PCR-Testen. Mit Extremmodellierungen „exponentiellen Wachstums“ taten sie so, als ob 1,2 Prozent der Infizierten am Coronavirus würden sterben müssen (Fallsterblichkeit) oder sogar 2 Prozent (Infektionssterblichkeit) oder sogar 3 Prozent (durch „Überlastung bei Durchseuchung“). Schon bei der Fallsterblichkeit von 1,2 Prozent überboten diese Experten die Zahlen des RKI um nicht weniger als das Doppelte, internationale Prognosen um ein Vielfaches. Die 1,2 Prozent wurden als Planziffer und Ziel des Testens behandelt. Im Papier hieß es: „So viele Fälle müssten wir finden. (…) Wenn die Fallsterblichkeit“ (Tote geteilt durch „bestätigte Fälle“) unter dem Wert von 1 Prozent liegt, „muss davon ausgegangen werden, dass die Anzahl der Toten nicht richtig gezählt wurde“, mit der praktischen Anleitung: Man brauche zwanzigmal „mehr Tests als die Anzahl Fälle, die man finden möchte“, ausgehend von der geschätzten „tatsächlichen Anzahl der Toten“.
Nachdem das Strategiepapier am 22. März 2020 über Frag-den-Staat geleakt worden war, beeilte sich die Süddeutsche Zeitung, den Menschen den Schwindel zu erklären. Solche absichtlich in die Höhe getriebenen Zahlen müssten jetzt veröffentlicht werden; es sei „notwendig, die Menschen noch stärker als bisher vom Ernst der Lage zu überzeugen“. „Bei Planspielen dieser Art“ sei es „üblich, dass Experten das schlimmste Szenario durchspielen“, denn „die Fachleute wollten alle Deutschen auf das gemeinsame Ziel einschwören“, dieses „Worst-Case-Szenario zu vermeiden“.
Die Strategie-Experten selbst appellierten in ihrem Papier an den Minister: „Der Worst-Case“ sei „mit allen Folgen für die Bevölkerung in Deutschland unmissverständlich, entschlossen und transparent zu verdeutlichen“. Zur Risikohochstufung durch das RKI, die am 17. März 2020 folgte und ab sofort als politische und juristische Voraussetzung nicht nur für die Schulschließungen genommen worden war, erklärte der damalige stellvertretende und heutige RKI-Leiter Lars Schaade am 3. September 2024 als Zeuge in einem Prozess vor dem Verwaltungsgericht Osnabrück: Die Hochstufung des Risikos von mäßig auf hoch habe „normativen Charakter“ gehabt und zum Bereich des politischen „Managements“ gehört.
Es war Foresight-Management, weder Politik noch Wissenschaft. Die Maßnahmen gehörten zur katastrophistischen Kommunikation, die in die gesellschaftliche Breite wirken sollte. Je mehr Leute mitmachten, desto glaubwürdiger wurde die Katastrophe. Daher musste das Mitmachen der arbeitenden Bevölkerung vom Management rituell und strafbewehrt moderiert werden. Alle katastrophistischen Maßnahmen mussten mit allen Mitteln – politisch-gesetzgebend, polizeilich, medial, juristisch, pädagogisch, freundschaftlich – als Botschaften überall und ständig verbreitet werden, damit alle an sie glaubten.
Die Maßnahmen hatten den Vorteil, dass der Mensch sie noch unmittelbarer spürte als die mathematischen Zahlen und die Bilder aus Bergamo. Wer nicht an die Atemnot einer Lungenentzündung glaubte, weil er sie noch nicht selbst erleben oder bei Angehörigen miterleben musste, der bekam per Ausnahmeverordnung eine OP- oder Staubschutz-Maske verpasst. So erfuhr er, was Atemnot ist. Und da alle anderen dieselbe Maßnahme erduldeten, sogar die Kinder in Schule und Hort, wenn sie mal zugelassen wurden, von 8 bis 17 Uhr, musste es sich doch um einen sinnvollen Eingriff handeln, und vor allem: um eine Jahrhundertepidemie!
In seiner Theorie hat Dupuy diese Katastrophen-Moderationstechnik ausführlich entwickelt. Er bezieht sich dabei ausdrücklich auf „Gerüchte“ – diese gesellschaftlichen Irrlichter, die er von der Worst-Case- und Maßnahmenkommunikation nicht unterscheidet, weil alles dieselbe Wirkung hat und denselben Zweck erfüllt: Sie bestätigen und bewahrheiten sich selbst. Die „absurdesten Gerüchte könnten eine Masse von Menschen in dieselbe, völlig unerwartete Richtung treiben“. Katastrophisten wissen: Gerüchte wirken in einem geschlossenen System von Leuten, die sich gegenseitig imitieren. Und sie wissen: Es sind nicht die Gerüchte, die die Masse antreiben und zu einem Haufen zielgerichtet zusammentreiben können, sondern diejenigen, die mit ihrer medialen und politischen Macht die Gerüchte absichtsvoll streuen.
Die Katastrophe von ihrem Ende her denken
Das historische Ergebnis des Corona-Katastrophismus war am Ende die dokumentierte psychische und physische Gewalt nicht nur gegen die Kinder und jungen Menschen, sondern auch gegen die Senioren, die in abgesperrten Heimen ohne ihre Angehörigen verwahrlosten und keine Interviews gaben. Das hat aber Dupuy ebensowenig wahrgenommen wie seine ureigenste Irrtumstragödie. Wie Ödipus wollte er aus der Geschichte aussteigen, wie Ödipus hat er sie am Ende bloß verfehlt:
Den Katastrophismus hatte Dupuy ursprünglich dafür gedacht, den Einsatz von technologischen Hochrisiko-Innovationen zu verhindern, deren Langzeitwirkungen sich niemand vorstellen kann. Gefahrenprävention mit dem Mittel sachlicher Risikoabwägungen käme bei den gefährlichen Gen-, Bio- und Nano-Technologien, Informations- und Kognitionstechnologien nur „Risikoverwaltern“ in den Sinn, höhnte Dupuy gegenüber der französischen Regierung im März 2001. Um es besser zu machen, propagierte er mit dem Katastrophismus eine Kognitions- und Verhaltenssteuerungs-Technologie – in deren Ergebnis mit den modRNA-Stoffen eine neue, hochriskante Gen- und Nano-Technologie hektisch und vermutlich auf Dauer eingeführt worden ist. Sogar für Kinder und Jugendliche gab die STIKO die Empfehlung, und zwar ausdrücklich nicht, weil sie eine Pandemie erlitten, eine mörderische Gefahr darstellten und der Stoff in ihnen irgendjemanden rettete. Schon bei Erscheinen der Empfehlung war klar: Die STIKO reagierte auf den Druck aus dem Politmanagement. Die Gesellschaft hatte genau die Furcht gegenüber den Kindern und Jugendlichen, die von den Foresight-Katastrophisten beschafft worden war. Ohne mRNA-Kampagne hätten viele Lehrer und Eltern die Schulen am liebsten nie wieder geöffnet.
Eine Gesellschaft, die sich einmal auf diese grundstürzend verkehrte Metaphysik, ihre Trugbilder und Maßnahmenhysterie hat festlegen lassen, findet kaum zurück. Verantwortliche sind ein für alle mal nicht zu erwarten, denn die Verblendung war, ist und bleibt absichtlich. „Die Festgelegtheit kann man nicht so einfach aufgeben. Das ist, wie wenn man einen Krieg führt“, so erläuterte es noch im Januar 2024 Heinz Bude, einer der Foresight-Experten des Innenministeriums. Vor der Epidemie hatte er als Soziologe gearbeitet. Nun, in der Folge seines Expertentums, sitzt er auf öffentlichen Podien, um die epidemischen Maßnahmen nachträglich als „wissenschaftsähnliche“ Tricks zu belächeln und sich als „charismatisch“ selbst zu loben.
Im Krieg dieser Experten um ihre Zukunft werden solche Grenzüberschreitungen sogar alltäglicher. Die katastrophistische Furcht, etwa vor „Alltagsrassismus“ oder „Hass und Hetze im Internet“, wird von ihnen weiter eifrig beschafft. Aber niemand muss sich täuschen. Atemwegsinfekte, Umweltschäden und ideologischen Extremismus bekämpft man mit dem Kriegs-Katastrophismus nicht. Es werden nur Misstrauen und Zwietracht gesät, Freunde und Familienangehörige einander entfremdet, demokratische Institutionen und Grundrechte schwer beschädigt. Foresight-Katastrophismus ist Krieg für alle. Wie wäre es also, die berechnete Sprache der Beraterindustrie wieder durch eigenes, mündiges und historisch bewährtes Sprechen zu ersetzen?
Über die Autorin: Katja Leyhausen, Jahrgang 1971, Germanistin/Romanistin, hat unter ihrem vollständigen Namen Katja Leyhausen-Seibert in der germanistischen Sprachwissenschaft promoviert und in verschiedenen Vertragsverhältnissen als Hochschuldozentin gearbeitet, zuletzt 2022. Sie forscht institutionell unabhängig und publiziert im Bereich der germanistischen Sprachgeschichte, Sprachkritik sowie satzsemantischen Text- und Diskursanalyse. Politisch publizistisch ist sie als Katja Leyhausen u.a. auf 1bis19.de aktiv. Der vorliegende Text erschien zuerst in einer längeren Version in Heft 87/88 der Zeitschrift „kultuRRevolution“.
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