
„Wer die Schulen ändert, ändert alles“
SUSANNE WOLF, 3. Mai 2025, 17 Kommentare, PDFMultipolar: Herr Leppe, Sie setzen sich seit vielen Jahren für eine grundlegende Reform des Schulunterrichts ein. Was genau tun Sie?
Leppe: Ich gründe Schulen, Lernprojekte, baue staatliche Schulen um, zeige alternative Möglichkeiten auf und stelle kostenlos Lerntechniken und Möglichkeiten für alle zur Verfügung.
Multipolar: Mit welchen Schulen arbeiten Sie zusammen?
Leppe: Aufgrund der Angriffe der Medien gegen mich nenne ich hier keine Namen und arbeite immer unter dem Radar.
Multipolar: Wie reagieren die zuständigen Schulämter? Stehen Sie mit denen in Kontakt?
Leppe: Ich habe Schulämter besucht, Bildungsminister und Beamte getroffen. Die meisten wollen nichts davon hören und schon gar nichts ändern. Viele berufen sich auf negative Medienberichte und sagen ab.
Multipolar: Ihnen wird eine Nähe zur Anastasia-Bewegung vorgeworfen, die im Verdacht steht, antisemitisch zu sein. Zudem stehen Sie auf der Liste der deutschsprachigen Sektenbeobachtung. Was sagen Sie dazu?
Leppe: Da ich die Antisemitismus-Vorwürfe bereits mehrmals gelesen habe, habe ich an diese Zeitungen geschrieben und sie um Aufklärung gebeten: Wo gibt es eine Aussage von mir, wo ich gegen Juden hetze? Ich würde sie sofort offline nehmen und mich entschuldigen. Ich habe keine Antwort erhalten. Diese Vorwürfe kommen übrigens zu 90 Prozent in Deutschland, obwohl ich weltweit in Schulen unterwegs bin. Auch von jüdischen Schulen werde ich zu Vorträgen und Projekten eingeladen.
Multipolar: Wie stehen Sie denn zur Anastasia-Bewegung?
Leppe: Ich habe die Bücher auf meiner Seite empfohlen, so wie viele andere auch, und habe darin nichts Antisemitisches gefunden. Ich habe mich mit vielen Schulmodellen beschäftigt und suche immer die Aspekte heraus, aus denen man etwas Neues machen kann. Das Anastasia-Schulmodell ist eines von vielen, das positive und negative Seiten hat. Die gute Seite ist beispielsweise, wie Schüler in Gruppen über Schaubilder lernen. Auf der anderen Seite ist diese Schule autoritär, es gibt viel Drill, an dem die Kinder zerbrechen. Ich würde niemandem empfehlen, Anastasia-Schulen zu bauen, das steht nirgendwo auf meiner Seite.
Multipolar: Und wie kommentieren Sie den Sekten-Vorwurf?
Leppe: Welche Sekte soll das sein? Ich hätte gerne das Geld dieser Sekte, aber bei mir
muss niemand etwas zahlen. Die Inhalte auf meiner Seite können gratis runtergeladen werden, auch ohne Anmeldung. Bei Sekten geht es darum, sich zu etwas zu verpflichten, etwas gemeinsam zu vertreten.
Multipolar: Was meinen Sie, woher die Vorwürfe gegen Sie kommen?
Leppe: Wenn eine Meinung nicht bequem ist, wird sie angegriffen. Und wenn man das, was getan wird, nicht angreifen kann, muss man den Menschen dahinter angreifen. Meine Inhalte werden nicht angegriffen, weil sie funktionieren – wie ich Schule oder Mathematik neu gestalten würde oder meine Art der Mathematik-Nachhilfe. Doch nichts davon wird in den Medien erwähnt, es geht immer nur um meine Person. Ich habe unzählige Fragen beantwortet zum Thema „rechtsradikal“, aber nur ein einziges Mal wurden diese Antworten abgebildet. Die letzten Male habe ich dann nicht mehr geantwortet. Ich erwarte nicht, dass alle meiner Meinung sind, aber als Journalist muss man sich die andere Seite anhören, bevor man jemanden angreift.
Multipolar: Wie stellen Sie sich die Schule der Zukunft vor?
Leppe: Ich habe in vielen Gesprächen mit Schülern gemeinsam ein Modell erstellt, das aus drei Schritten besteht. Erstens: Wir belassen den staatlichen Schulstoff, wie er ist, aber können mit Lerntechniken viel schneller und effizienter lernen. In der Grundschule wird dafür ungefähr eine Stunde am Tag benötigt, später zwei Stunden pro Tag. Die gewonnene Zeit kann für Sport, Musik und Kunst genützt werden sowie für Dinge, die man im Alltag braucht, wie kochen, Reifen wechseln, Atemtechniken, einen Garten anlegen und so weiter. Im zweiten Schritt werden Lehrpläne umgebaut und Veränderung findet statt. Wir entscheiden gemeinsam mit den Kindern über den Schulstoff, der wegfällt wie binomische Gleichungen oder unnütze Details aus der Geschichte. Wenn sich ein Schüler doch dafür interessiert, unterstützen wir das natürlich. Aber wie viele interessiert das im Vergleich zu Musik, Sport oder Zwischenmenschlichem? Im zweiten Schritt gibt es mehr projekt- und praxisbezogenes Lernen, wie etwa ein Baumhaus zu bauen. Das beinhaltet Geometrie, Mathematik und Geologie. Kinder wollen das richtig bauen, nicht nur auf dem Papier. Ausschlaggebend ist, dass Kinder mehr eingebunden werden und den Lehrern auch Feedback geben dürfen. Es kann nicht sein, dass wir sagen, Schule ist für Kinder, aber sie dürfen nicht mitbestimmen.
Multipolar: Und der dritte Schritt?
Leppe: Der dritte Schritt bedeutet Dezentralisierung: Es gibt keine Vorgaben mehr von oben und wir entscheiden dezentral, wie wir leben wollen. In Bezug auf Bildung bedeutet das, Lernorte losgelöst von Strukturen zu kreieren. Wichtig ist: Dort darf man hingehen, muss aber nicht. Und diese Lernorte sind für alle gedacht, unabhängig vom Alter. Vielleicht gibt es einen 70 jährigen, der sich für Glücksunterricht interessiert? Die Menschen, die dort lehren, sind weise Menschen. Sie wissen nicht alles, haben aber Erfahrung und setzen keine Begrenzungen mehr. Dann heißt es nicht mehr: Mathe ist so und nicht anders, sondern: Schön, dass du dich für das Thema Heilkräuter interessierst, das sind meine Quellen. Wenn es dich interessiert und mit Herz und Verstand resoniert, nimm es als Basis und entwickle es weiter, hinterfrage es. Abgesehen von den Lernorten lernen Kinder auch am Leben mit, bei den Eltern, beim Tischler oder Gärtner.
Multipolar: Wie soll diese Entwicklung konkret funktionieren?
Leppe: Die kleinste Einheit, nämlich die Schule, soll wieder selbst entscheiden. Eltern und Lehrer, Schüler und Direktoren haben gemeinsam die Macht. Dazu kommt die freie Bildungsentscheidung: Wir wissen selbst, was wir gerade brauchen, es sollten keine Anordnungen von oben kommen. Jeder soll selbst entscheiden und Basisbildung muss für jeden frei zugänglich sein.
Multipolar: In der Realität werden Schulen von Schulämtern und Bildungsministerien beaufsichtigt. Welche Spielräume sind vor Ort überhaupt möglich?
Leppe: Schulen können fast gar nichts entscheiden; in Österreich nicht einmal darüber, welche Lehrer angenommen werden. Allerdings pfeifen immer mehr Schulleiter auf das, was von oben kommt. Veränderung geschieht von unten, in diesem Fall sind es vor allem die Mütter, die zu meinen Vorträgen kommen und sich Inhalte von meiner Seite herunterladen. Viele wissen schon, dass es etwas Neues gibt. Ich mache das seit zehn Jahren, damalige Schüler haben schon eigene Kinder und setzen das gelernte Wissen jetzt um.
Multipolar: Wie sieht Ihre Rolle dabei aus?
Leppe: Ich gehe in die Schulen und mache den ersten Schritt, bringe Lehrern und Schülern Lerntechniken bei. Dann gibt es zum Beispiel einen Mathelehrer, der nach zwei Jahren nur noch die Hälfte der Zeit braucht, um seinen Stoff den Schülern beizubringen. Die restliche Zeit hört er ihnen zu, sie singen gemeinsam, gehen hinaus. Wenn das nur ein Lehrer pro Schule macht, macht das schon einen großen Unterschied.
Multipolar: Welche Lerntechniken meinen Sie?
Leppe: Beispiele sind das Einmaleins mit den Fingern, Vokabeln lernen durch Körperbewegungen oder die indisch-vedische Mathematik. Es gibt viele Videos auf meiner Website dazu – wie etwa auf der Startseite das Video „Das kleine 1 mal 1 spielend leicht lernen“.
Multipolar: Woher nehmen Sie dieses Wissen?
Leppe: Ich wurde einige Jahr zuhause unterrichtet und habe mich schon früh mit Lerntechniken beschäftigt, manche von ihnen sind uralt. Später habe ich als Zauberer gearbeitet und dadurch viel gelernt. Manche Techniken habe ich auch mit Kindern erarbeitet.
Multipolar: Wäre es aus Ihrer Sicht sinnvoll, den Kindern beizubringen, kritisch zu hinterfragen, warum sie manche Inhalte überhaupt lernen müssen?
Leppe: Natürlich, aber nicht im ersten Schritt, der darauf abzielt, was wir im Bestehenden verbessern können. Der erste erzeugt Fragen, das weitere ergibt sich im zweiten und dritten Schritt. Wir forcieren nichts, brauchen sanfte Übergänge. Wenn Kinder kritische Fragen stellen in der Schule, kriegen sie Probleme. Ich war auch so ein Kind. Kinder, die gelernt haben zu hinterfragen, wissen, wer sie sind. Und sie wissen, dass sie grundsätzlich alles lernen können. Wenn ich mit Kindern arbeite, ist danach die Hauptaussage der Kinder: Ich dachte ich bin blöd, aber ich bin eigentlich ein Genie. Wenn du mit diesem Wissen durchs Leben gehst, lässt du dich nicht mehr klein machen und dich in irgendeinen Beruf reinstecken. Daher habe ich den Verein „Wissen schafft Freiheit“ gegründet.
Multipolar: Was hat Sie selbst als Schüler am meisten gestört?
Leppe: Wenn ein Lehrer mir auf eine kritische Frage geantwortet hat: Weil es so ist, weil es immer schon so war, weil es so im Schulbuch steht. Dann war ich im Kriegsmodus. Wenn die Antwort Sinn gemacht hat, war ich der beste Freund und habe Lehrer auch vor der Klasse verteidigt.
Multipolar: Wie erklären Sie sich, dass gerade in Deutschland der Widerstand gegen Neuerungen im Bildungssystem so groß ist?
Leppe: Deutschland hat eines der striktesten Schulsysteme auf dem ganzen Planeten, es gibt nur Schule – staatlich oder privat – alle anderen Formen sind nicht existent. In Ländern wie den USA oder Großbritannien gibt es Freilernen, in Österreich ist zumindest Homeschooling erlaubt, auch wenn es zunehmend erschwert wird. In Deutschland stammt die Anwesenheitspflicht in der Schule noch aus dem preußischen Schulsystem, wo es darum ging, Soldaten zu rekrutieren. Immer mehr Menschen sind unzufrieden damit. Es kann nur funktionieren, solange es keine Alternative gibt.
Multipolar: Wie schwer ist es in Deutschland oder Österreich, eine freie Schule zu gründen?
Leppe: In Deutschland ist es komplizierter, da der Widerstand größer ist. Zugleich ist hier der Leidensdruck größer, daher gibt es mehr alternative Projekte.
Multipolar: Was wünschen Kinder und Jugendliche sich Ihrer Erfahrung nach von der Schule?
Leppe: In den vielen Gesprächen, die ich mit Schülern geführt habe, haben sich zwei Dinge herauskristallisiert: Sie wollen Freude am Lernen haben und sie möchten Dinge lernen, die sie später im Leben brauchen können. Alle Kinder wollen lernen, viel mehr, als wir ihnen anbieten, aber ohne Zwang und in ihrem eigenen Tempo. Nicht am Montag um 8.30 Uhr Mathematik lernen, weil es im Stundenplan steht, obwohl sie gerade viel lieber etwas anderes machen würden.
Multipolar: Das sind Wünsche, die sich im derzeitigen Schulsystem kaum erfüllen lassen.
Leppe: Es hat sich bei mir noch kein Kind beschwert, dass es lesen lernen soll. Aber wie lange muss ich suchen, bis ich jemanden finde – außer einen Mathelehrer –, der Oberstufenmathematik braucht? Vielleicht gibt es pro Klasse einen Schüler, der sich für Mathematik begeistert, für die anderen ist es sinnlos. In dieser Zeit könnten wir ihnen Kochen beibringen, wie man ein Formular ausfüllt oder einen Reifen wechselt. Was nützt es dir, eine Gleichung mit zwei Unbekannten zu lösen, wenn du nie gelernt hast, mit dem anderen Geschlecht zu kommunizieren? Oder eine Bewerbung zu schreiben, dich vor jemandem zu präsentieren? Ein eigenes Geschäft aufzubauen oder zu verstehen, wie Zinsen funktionieren? Zu mir hat mal ein Schüler gesagt: Ich weiß, was 328 vor Christus an einem Montag Vormittag unter irgendeinem Kaiser passiert ist, aber ich kenne mich nicht mit einem Mietvertrag für eine Wohnung aus.
Multipolar: Nun gibt es den schönen Satz „Das Leben ist kein Ponyhof“ und das Argument, in der Schule müsse man lernen, den späteren Leistungsdruck auszuhalten.
Leppe: Dazu kann ich nur sagen: Wenn du musst, dann lebe es für dich. Ich erschaffe mir eine Welt, in der ich nichts muss und wo auch meine Kinder nicht müssen, sondern wollen. Ich selbst habe Zaubertricks gelernt, weil ich Spaß daran hatte. Ich stelle gerne eine Frage an die Eltern: Würdest du freiwillig nochmal in die Schule gehen? Warum sagst du deinem Kind: Da musst du durch, ich hab’s auch überlebt? Wenn wir irgendetwas anderes so beschreiben würden wie die Schule, würden wir uns denken, um Gottes Willen, das mache ich auf gar keinen Fall!
Multipolar: Wie können Eltern ihre Kinder unterstützen?
Leppe: Je mehr ich an mir arbeite, an meinen Ängsten und Themen, desto schneller habe ich Erfolge bei den Kindern. Kinder machen das, was man ihnen vorlebt. Kinder brauchen starke Vorbilder und bedingungslose Liebe. Und wir können Entfaltungsräume für sie schaffen, wie etwa Klavierunterricht.
Multipolar: Veränderungen scheinen nur langsam zu passieren. Was macht Sie so optimistisch, dass es funktionieren kann?
Leppe: Wir selbst haben den aktuellen Zustand erschaffen, aktiv oder passiv, mit Steuergeldern. Wir haben alle mitgemacht. Wer das Alte kann, unter Druck, Angst und Strafe, der kann das Neue mit Liebe im Herzen erst recht. Mit einer Vision im Kopf und den Kindern an den Händen. Wenn du die Schulen, die Bildung änderst, änderst du automatisch alles. Solange du aber meckerst, bist du Teil des Problems.
Titelfoto: Screenshot aus einem Interview von Flavio von Witzleben mit Ricardo Leppe
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- Bildung ohne Schule (Susanne Wolf, 18.12.2023)
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