
Grundeinkommen und Kontrolle
JAN SCHULZ-WEILING, 2. April 2025, 25 Kommentare, PDFViele Menschen sehen das bedingungslose Grundeinkommen (BGE) als Alternative zur traditionellen Sozialhilfe und Lösung vieler Probleme. Anstatt Geld nur an Bedürftige auszuzahlen, würden alle Bürger Leistungen erhalten. Unterstützer argumentieren, dass durch die wegfallende Bedürftigkeitsprüfung erhebliche Kosten eingespart würden. So lagen die Verwaltungsausgaben für die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland 2020 bei immerhin 40 Milliarden Euro.
Die Idee eines Grundeinkommens existiert seit langem. Berühmte Beispiele sind Thomas Morus´ Roman „Utopia“ (1516) sowie Thomas Paines Bericht „Agrarische Gerechtigkeit“ (1797), in dem argumentiert wird, dass es einer Kompensation bedürfe, um Privatbesitz zu rechtfertigen. Unter US-Präsident Nixon wäre in den 1970er Jahren beinahe schon einmal eine Art Grundeinkommen eingeführt worden: der sogenannte Family Assistance Plan – eine negative Einkommensteuer – scheiterte erst im Senat. Tatsächlich existiert bis heute keine volkswirtschaftliche Umsetzung der Idee. Die Vielzahl an Experimenten, die bislang versucht wurden, waren lediglich lokal und zeitlich begrenzt.
Die Einführung eines BGE wäre ein radikaler Bruch mit der mitteleuropäischen Auffassung eines Sozialstaats. Da vom Empfänger keine Gegenleistung erwartet wird, befürchten Kritiker, dass die Menschen davon faul würden. Außerdem sei es verschwenderisch, Menschen eine Leistung zu zahlen, die diese eigentlich gar nicht nötig haben.
Ursprünge des Wohlfahrtsstaates
Der erste moderne Sozialstaat entstand im deutschen Kaiserreich. Unter Otto von Bismarck wurden im Zuge der Industrialisierung verpflichtende Sozialabgaben eingeführt, welche die Folgen von Krankheit, Unfällen und Alter abmilderten. Dies geschah nicht aus altruistischen Motiven. Bismarck wollte die preußische Monarchie stärken und gegen egalitäre und sozialistische Bestrebungen schützen. „Geplagt vom Alptraum der Revolution“, so die Historikerin Heide Barmeyer, sei er Partnerschaften ohne Rücksicht auf Ideologie eingegangen, um den erstarkenden Sozialisten mit ihren Reformideen den politischen Wind aus den Segeln zu nehmen.
Auch für die Soziologen Frances Fox Piven und Richard Cloward leitet sich Sozialpolitik immer von den aktuellen Nöten der Regierung ab. Demnach funktionieren staatliche Wohlfahrtsprogramme zyklisch. Sie werden ausgebaut, wenn der Unmut in der Bevölkerung steigt und die Regierung in Bedrängnis gerät, beispielsweise durch Massenarbeitslosigkeit. Sobald sich die Lage entspannt, werden die Wohltaten wieder zurückgefahren, um die Arbeitsmoral zu steigern. Der Ansicht, dass Sozialpolitik im Laufe der Zeit immer verantwortungsbewusster, menschlicher und großzügiger werde, halten die beiden Soziologen entgegen, dass die Armen davon langfristig nie profitiert hätten. Die beiden Hauptfunktionen des Sozialstaats bestehen demnach in der Revolutionsprophylaxe, also der Verhinderung von Aufständen, und darin, die Menschen zum Arbeiten zu bewegen. Moral und christliche Vorstellungen von Nächstenliebe spielten eine untergeordnete Rolle.
Instrument für Soziale Kontrolle
Einmal auf den Weg gebracht, erfüllt Sozialpolitik noch weitere Funktionen. Einerseits werden natürlich Leistungen bereitgestellt, um soziale Härten auszugleichen. Andererseits bietet sich hier dem Staat auch die Möglichkeit, Einfluss auf das Verhalten der Menschen zu nehmen. Bereits der britische Sozialreformer und Liberale William Beveridge, der maßgeblich den britischen Wohlfahrtsstaat nach dem Zweiten Weltkrieg mitgestaltet hat, warnte davor, dass Sozialpolitik auch für soziale Kontrolle missbraucht werden könne. Peter Hartz, Namensgeber einer solchen Reform, bedauert in seinem Buch „Macht und Ohnmacht“, dass ein System herausgekommen sei, „mit dem die Arbeitslosen diszipliniert und bestraft werden.“
Auch im Zuge der Corona-Krise wurden Sozialleistungen immer mehr an Bedingungen geknüpft. Brasilien beispielsweise zwang Eltern dazu, ihre Kinder zu impfen, um weiterhin Gelder aus dem Sozialprogramm Bolsa Familia zu erhalten. Auch Österreich drohte ungeimpften Arbeitslosengeldempfängern mit der Sperrung von Leistungen, sollten sie eine Stelle ablehnen, für die eine Impfung vorgeschrieben ist. Es ist klar, dass der Staat finanziell von ihm abhängige Menschen leicht erpressen kann.
Gegenwärtig bezieht nur ein geringer Teil der Menschen in westlichen Industrienationen Sozialleistungen. Es ist also auch nur ein geringer Teil der Bevölkerung auf diese Weise erpressbar. Mit einem BGE würde sich das ändern. Zu Beginn wäre dies für viele Bezieher wahrscheinlich nur ein Bonus, auf den sie nicht zwangsläufig angewiesen wären. Wenn aber durch Krisen wie Lockdowns, Rezessionen oder auch durch künstliche Intelligenz viele Jobs vernichtet werden, geraten deutlich mehr Menschen in eine Abhängigkeit vom Staat und seinen Leistungen. Schon Jean-Jacques Rousseau bemerkte, es sei „unmöglich, einen Menschen zu versklaven, ohne ihn vorher in eine Lage der Abhängigkeit gebracht zu haben.“
Speziell die Lockdowns seit 2020 haben traditionelle Vorstellungen von Arbeit und der Rolle des Staates auf den Kopf gestellt. Faktisch wurde vielen Menschen verboten, arbeiten zu gehen. Teilweise wurden in der Folge Gelder ausgezahlt, um diese arbeitsfreie Phase überbrücken zu können. Damit hatte der Staat einen Paradigmenwechsel eingeleitet, denn die Menschen waren nicht durch eine Naturkatastrophe, einen Krieg oder Ähnliches in einen Zustand der Abhängigkeit gebracht worden – sondern durch eine politische Entscheidung.
BGE ist nicht gleich BGE
Wenn von einem bedingungslosen Grundeinkommen die Rede ist, meinen nicht alle dasselbe. Es existiert eine Vielzahl an Vorstellungen darüber, wie hoch es sein soll, ob es bestehende Leistungen ersetzt oder komplimentiert und wer es bekommen soll. Als Orientierung hilft die Definition des Basic Income Earth Network (BIEN). Die Organisation definiert fünf Schlüsselmerkmale:
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Regelmäßig: Die Auszahlung erfolgt zum Beispiel jeden Monat, nicht als einmalige Leistung.
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Cash: Die Auszahlung erfolgt bar, nicht als Sachleistung oder Gutschein, ohne Einschränkungen, wofür es ausgegeben werden kann.
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Individuell: Die Auszahlung erfolgt an Einzelpersonen, nicht an Haushalte oder Familien.
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Universell: Alle erhalten es.
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Bedingungslos: Das Einkommen ist an keinerlei Bedingungen gekoppelt. Es ist nicht nötig, eine grundsätzliche Bereitschaft zum Arbeiten oder ähnliches zu demonstrieren.
Es ließen sich noch zwei weitere Merkmale ergänzen, die ein „echtes“ BGE ausmachen würden. Es müsste hoch genug sein, um tatsächlich davon leben zu können. Nur so wäre gewährleistet, dass der Zwang zum Arbeiten wegfällt und Entscheidungen wirklich frei getroffen werden können. Es müsste außerdem dafür sorgen, dass die Schere zwischen Arm und Reich sich tendenziell eher schließt, als weiter aufzugehen, also einen Umverteilungseffekt erzielen.
„Grundeinkommen light“
Die Einführung eines solchen Grundeinkommens dürfte extrem unwahrscheinlich sein. Es wird bereits an der Verwässerung solcher Prinzipien gearbeitet. So hat auch das World Economic Forum das Grundeinkommen für sich entdeckt. Im April 2020 konnte man auf deren Website lesen, das Universal Basic Income (der englische Name des BGE) sei die Antwort auf eine durch Covid aufgedeckte Ungleichheit. Die Autoren, ranghohe Funktionäre beim Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen, waren jedoch nicht bereit, auf Instrumente der sozialen Kontrolle zu verzichten. So gibt es ihnen zufolge gute Argumente für Bedingungen – zum Beispiel, dass Empfänger ihre Kinder impfen lassen und zur Schule schicken. Damit wäre das Grundeinkommen zu einer an Bedingungen geknüpften Sozialleistung degradiert.
Auch scheint mehr als fraglich, ob die Auszahlung eines Grundeinkommens tatsächlich in bar oder per normaler Banküberweisung erfolgen würde. Deutschland testet seit Mai 2024 Bezahlkarten für Geflüchtete. Damit kann die Ausgabestelle kontrollieren, wofür das Geld ausgegeben werden darf – beispielsweise nur für Lebensmittel im Umkreis der Unterkunft, nicht jedoch für Alkohol. Es scheint absehbar, dass bei der Verfügung solcher Limitierungen als nächstes die Empfänger von Bürgergeld an der Reihe sind. Sollte erst das Bargeld weitgehend verdrängt oder ganz abgeschafft sein, wären dann alle betroffen. Digitales Zentralbankgeld ließe sich programmieren, um das Ausgabeverhalten der Bevölkerung zu steuern.
Warum diese Entwicklungen hochproblematisch sind, wird eindrücklich und ausdauernd vom Wirtschaftsjournalisten Norbert Häring beschrieben. Es fällt nicht schwer, hier die Brücke zu schlagen zu einem Sozialkreditsystem, bei dem die Regierung gewünschtes Verhalten belohnen und unerwünschtes bestrafen kann. Aufhorchen lässt, wie sehr die EU an der Evaluierung derartiger Regierungssysteme interessiert ist, die „von der chinesischen Regierung als sinnvolle Alternative zu liberalen Demokratien propagiert wird“, um eine „vertrauenswürdige Gesellschaft“ zu schaffen.
Von Milliardären unterstützt
In den letzten Jahren konnte sich eine steigende Zahl von Milliardären für die Idee eines BGE begeistern – vorrangig aus dem Tech-Sektor – darunter Bill Gates, Elon Musk oder die Facebook-Gründer Chris Hughes und Mark Zuckerberg, die im BGE offenbar eine Möglichkeit sehen, die Risiken der vierten industriellen Revolution und massiver Jobverdrängung abzufedern. Möglicherweise steckt aber auch der bereits angesprochene Bismarcksche Alptraum der Revolution dahinter. Bereits 2014 warnte der amerikanische Multimilliardär Nick Hanauer, dass es angesichts der wachsenden Ungleichheit nur eine Frage der Zeit sei, bis „die Heugabeln“ wiederkämen und es den Plutokraten an den Kragen ginge:
„Wenn wir jetzt nichts unternehmen, um den himmelschreienden Ungerechtigkeiten in unserer Wirtschaft zu begegnen, werden die Heugabeln uns heimsuchen. Keine Gesellschaft kann eine derartige Ungleichheit auf Dauer aushalten. Tatsächlich gibt es kein Beispiel in der Weltgeschichte, bei dem soviel Wohlstand konzentriert angehäuft wurde, und die Heugabeln nicht letztendlich zum Vorschein kamen. Zeig mir ein Beispiel einer hochgradig ungerechten Gesellschaft und ich zeige dir einen Polizeistaat. Oder einen Aufstand. Es gibt keinerlei Gegenbeispiele. Keine. Es geht nicht darum ob es passiert, sondern wann es passiert.“
Dazu passt der „Marie-Antoinette-Moment“ des Jeff Bezos. Im Zuge seines Weltraumtrips („you guys paid for all this“) gab es auf change.org eine satirische Petition, um seine Rückkehr zur Erde zu verhindern: „Millionäre sollten nicht existieren, weder auf der Erde, noch im Weltraum. Entschließen sie sich für letzteres, sollten sie auch dort bleiben.“ Die Petition wurde zweihunderttausend mal unterzeichnet.
Ein BGE, das den Status Quo der Oberschicht sichert, würde einen Neofeudalismus verfestigen. Die breite Masse wäre mit Almosen ruhiggestellt, möglicherweise ohne Perspektive auf Job, sozialen Aufstieg und politische Partizipation, während eine Milliardärskaste weiter reicher wird. Die Politikwissenschaftlerin Alyssa Battistoni schreibt dazu, die extrem ungerechte Gesellschaft, die Zukunftsforscher fürchten, käme nicht dadurch zustande, dass die Roboter auftauchen, sondern dadurch, dass die Roboter so wenigen Menschen gehören.
In einer Krise vollzieht sich manches schneller als gewohnt. Auch Ideen, die derzeit unrealistisch erscheinen – wie die des BGE – könnten innerhalb kurzer Zeit und mit der richtigen medialen Begleitung salonfähig gemacht werden. Einige Beobachter glauben, dass die Einführung eines BGE das Zuckerstückchen sein könnte, um eine bittere Medizin leichter verdaulich zu machen – wie beispielsweise die Einführung eines digitalen Euros bei gleichzeitiger Verdängung des Bargelds. Wahrscheinlicher erscheint, dass ein Grundeinkommen light, mit Bedingungen und Limitierungen, eingeführt würde. Dann würde aus dem vermeintlich rettenden Grundeinkommen, das viele ersehnen, ein scharfes Instrument der sozialen Kontrolle – nicht bloß für eine Minderheit, sondern für den Großteil der Bevölkerung.
Über den Autor: Jan Schulz-Weiling, Jahrgang 1989, hat Global Studies M.A. an der Universität Leipzig studiert. Nach vielen Stationen im Ausland lebt er in seiner Heimatstadt Freiburg im Breisgau. Als Stipendiat der Sylff-Stiftung forschte er zwei Jahre in Spanien zum bedingungslosen Grundeinkommen. Dieser Text basiert auf seinem 2024 im Journal für Kritische Gesellschaftsforschung veröffentlichten Artikel “Between Emancipation and Social Control: The Equivocal Potential of Universal Basic Income (UBI)”.
Literatur
Barmeyer, H. (2002). Bismarck and the origins of the modern welfare state in 19th-century Germany. In The Welfare State: Past, present and Future (pp. 87–110). Edizioni Plus – Universita di Pisa.
Hartz, P., & Kloepfer, I. (2007). Macht und Ohnmacht. Hoffmann und Campe.
Nettle, D., Johnson, E., Johnson, M., & Saxe, R. (2021). Why Has the COVID- 19 Pandemic Increased Support for Universal Basic Income? Humanities and Social Sciences Communications.
Piven, F., & Cloward, R. (1993). Regulating the poor: The functions of public welfare.
Rousseau, J.-J. (1762). The Social Contract or Principles of Political Right. Translated by G. D. H. Cole, public domain.
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