Eve of destruction? Eine Mutmaßung
ULRICH TEUSCH, 3. April 2021, 15 KommentareHinweis: Dieser Beitrag ist auch als Podcast verfügbar.
Man kann grob drei Haltungen zur Coronakrise unterscheiden:
Position 1: Die Pandemie ist überaus gefährlich. Die Gegenmaßnahmen sind weitreichend, angemessen und verhältnismäßig. Die politisch und administrativ Handelnden werden von ehrenwerten Motiven geleitet. Sie sind Gute – und sie tun Gutes. Man kann zwar nicht übersehen, dass die Abwehrmaßnahmen gewisse Risiken und Nebenwirkungen mit sich bringen. Doch diese sind leider unvermeidbar und daher in Kauf zu nehmen.
Position 2: Die Pandemie ist real, wenn auch nicht derart gefährlich wie staatlicherseits behauptet. Die Gegenmaßnahmen laufen seit längerem aus dem Ruder. Sie sind oft unnütz, zum Teil schädlich, alles in allem unverhältnismäßig. Die Politik ist weithin beratungsresistent und streitet ihre Fehlleistungen und Versäumnisse ab. Sie hat sich in eine Sackgasse manövriert, aus der sie ohne Gesichtsverlust nicht mehr herauskommt. Darum hält sie stur Kurs – ein trotziges Weiter so.
Position 3: Die Pandemie ist zwar real, aber nicht das eigentliche Problem. Sie dient vielmehr als Vehikel, wird von interessierten Kreisen instrumentalisiert, um ganz andere Ziele zu verfolgen. Denen, die da unter falscher Flagge segeln, geht es nicht primär um das Virus und unser aller Gesundheit, sondern um den Abbau von Rechtsstaat und Demokratie zugunsten einer ausgefeilten Überwachungs- und Kontrollstruktur. Wichtigster Programmpunkt ist die Zurückdrängung des (National-) Staats. Man will die ganze Welt regieren – auch ohne Weltregierung – und nennt das „Global Governance“. Der Kapitalismus, so der Lockruf, soll anders und besser werden, nämlich grüner, sozialer, gesünder. Doch bevor man Neues schaffen kann, muss alles Hinderliche aus dem Weg geräumt werden. Das probate Mittel zur Erreichung dieser Ziele und zugleich der Zweck des Ganzen ist ein technokratischer Autoritarismus. Doch das sagt niemand so deutlich.
Alle drei Szenarien unterstellen mehr oder weniger explizit, dass diejenigen, die da handeln – ob so oder so oder anders – Herren der jeweiligen Lage sind, alles im Griff und unter Kontrolle haben. Gesetzt den Fall, dem wäre so: Warum erweisen sich die angeblich so souveränen Akteure dann immer wieder als unfähig und überfordert, warum richten sie allerhand Chaos und Kontraproduktives an, warum verlangen sie den Menschen Opfer ab, die alles in den Schatten stellen, was durch das Virus an Leid verursacht wird? Und warum bezeichnen sie die durch ihre Maßnahmen verursachten weitreichenden Zerstörungen mit einem zynischen Euphemismus als „Kollateralschäden“?
Ins offen Zerstörerische abgeglitten
Walter van Rossum spricht im Zusammenhang mit der Coronakrise von einer „Zerrüttungsstrategie“, die „nicht dem Schutz, sondern der Vernichtung von Millionen Existenzen“ diene.
„Warum quält man die Menschen weltweit mit einer offensichtlich nutzlosen, aber extrem kostspieligen Strategie? Wie kann es sein, dass kulturell, politisch und ökonomisch völlig unterschiedliche Staaten und Kulturen seit einem Jahr ihre Gesellschaften ökonomisch, psychisch und teilweise auch physisch systematisch ruinieren auf der Grundlage eines ziemlich unglaubwürdigen Gerüchts?“
Ganz ähnliche Vermutungen und Diagnosen finden sich auf der anderen Seite des politischen Spektrums. Dort illustriert Dirk Maxeiner die Misere am Beispiel der deutschen Kanzlerin. Deren Politik sei „längst ins offen Zerstörerische abgeglitten“. Nicht erst in der Coronakrise, auch schon früher (etwa beim Atomausstieg oder in der Flüchtlingskrise) habe sie „scheinbare oder tatsächliche Ausnahmezustände (genutzt), um im Endeffekt Verheerungen und Zerstörungen zu hinterlassen“. Die Führungskräfte ihres Systems gebärdeten sich mittlerweile – so Maxeiner wörtlich – wie eine bekiffte, tollwütige Soldateska. Es sehe aus, als wolle „die Abrissbirne aus der Uckermark (…) nur noch Staub hinterlassen“.
Gerade in jüngster Zeit konnte man sich kaum des Eindrucks erwehren, dass die Politik dieser Kanzlerin immer deutlicher narzisstische Züge annimmt: Sie fällt ihrer Partei und deren Ministerpräsidenten in den Rücken, schert sich weder groß um die Verfassung noch um die Frage, wie es nach ihrem in Aussicht genommenen Abtritt in Deutschland weitergehen könnte. Merkel steht im Zentrum einer desolaten Politik. Manche Beobachter sprechen von organisierter Verantwortungslosigkeit.
„Die deutsche Republik ist im freien Fall. Ihre Institutionen funktionieren nicht mehr. Der Bundestag ist ein Gremium von Abnickern und zu einer Spielwiese für kleine Geschäftemacher geworden. Die deutsche Regierungsgewalt zerfällt. Statt mutiger Regierungsentscheidungen herrscht föderale Anarchie.“
So Markus Kerber – und er fürchtet, dass „nur der Abgrund dieser Horde von Partei-Politikern Einhalt zu gebieten vermag“.
Zusammengefasst: Wir sind mit einer Politik konfrontiert, deren Protagonisten ohn‘ Unterlass versichern, stets nur das Beste zu wollen, nur zu schützen und zu retten. Doch wie immer man ihre (und damit unsere) vorläufige Bilanz dreht und wendet – sie ist desaströs. Blickt man auf Deutschland oder über Deutschland hinaus, fallen zahllose Schneisen der Verwüstung ins Auge. Die ökonomischen, politischen, rechtlichen, physischen, psychischen, medizinischen Verheerungen der Corona-Politik sind nicht mehr zu leugnen.
Besonders gebeutelt werden einzelne vulnerable Gruppen, allen voran Kinder und Jugendliche, und zwar weltweit – wobei es in vielen armen Regionen für sie buchstäblich um Leben und Tod geht. Sodann und beschämenderweise wird die Krise auf den schmerzenden Rücken der Alten und Pflegebedürftigen (teils in Heimen lebend, teils allein und einsam in ihren Privatwohnungen) ausgetragen; man hat sie nicht ausreichend gegen das Virus geschützt und setzt sie obendrein mit schockierender Eiseskälte den inhumanen Anti-Corona-Maßnahmen aus.
Destruktion um ihrer selbst willen?
In ihrem verbissenen Kampf gegen ein Virus, „das nicht locker lässt“ (Merkel) – wobei nicht ganz klar ist, ob wir uns in der „dritten Welle“ oder bereits in einer „im Grunde genommen neuen Pandemie“ (wieder Merkel) befinden – geht die Politik bislang ungekannte Risiken ein. Sie agiert ohne Rücksicht auf Verluste. Die Lebensleistungen von Millionen Menschen scheinen ihr nichts zu gelten. Sie setzt so viel aufs Spiel, dass ein immer größerer Teil der Bevölkerung die laufenden Ereignisse und stagnierenden Entwicklungen mit ungläubigem Staunen, purer Fassungslosigkeit oder schierer Verzweiflung verfolgt. In Leserforen der Medien (auch denen des Mainstreams) stößt man immer öfter auf eine Wahrnehmung, die da lautet: Offenkundig sind Kräfte am Werk, die an einem großen Zerstörungs- und Vernichtungsprojekt arbeiten. Man glaubt, eine Lust am Untergang zu erkennen, ein „Nach uns die Sintflut“.
Nur: Welches Interesse könnten Politiker daran haben, sich bei ihren Bevölkerungen nicht mit Erfolgs-, sondern mit Schadensbilanzen um die Wiederwahl zu bewerben? Wer kommt auf die wahnwitzige Idee, einen Ausnahmezustand in Permanenz zu etablieren, also den temporären Notstand in einen Normalzustand zu überführen? Salopp gefragt: Warum tun die das? Warum handeln diese Leute wie sie handeln?
Hat der Dauer-Lockdown seine Gründe möglicherweise gar nicht – wie Peter Nowak vermutet – in wissenschaftlichen Erkenntnissen oder wie auch immer gearteten Interessen der Entscheider und ihrer Einflüsterer? Wurzelt er vielleicht und vielmehr im „tiefe(n) Pessimismus einer Weltgesellschaft, die sich eher das Ende der Menschheit als das Ende des Kapitalismus vorstellen kann“?
Könnte es sein, dass es sich bei dem nie gesehenen Schauspiel, das großen Teilen der Welt gerade geboten wird, um eine Destruktion um ihrer selbst willen handelt? Dass Kräfte wirken, die einfach nur auf Zerstörung und Verwüstung aus sind? Die auf die eigenen Bevölkerungen losgehen und diese in Geiselhaft nehmen? Werden wir etwa von Menschen regiert, die weder gut noch schlecht sind, sondern krank? Ist das vorstellbar? Ist das möglich?
Zum Beispiel Hitler
Betrachten wir einen Extremfall in Sachen Zerstörungswut! Gegen Ende seines Hauptwerks Anatomie der menschlichen Destruktivität stellt der Psychoanalytiker und Sozialphilosoph Erich Fromm (1900-1980) die Frage, „ob Hitler tatsächlich den Krieg gewinnen wollte oder ob er unbewußt und trotz all seiner scheinbaren Anstrengungen zu siegen auf die Katastrophe zusteuerte“.
Das scheint angesichts der enormen Kriegsanstrengungen Hitler-Deutschlands eine absurde, beinahe ungehörige Frage. Doch Fromms Akzent liegt auf dem Wort „unbewusst“. Adolf Hitler, so seine These, war von Hass geleitet, von einem intensiven, ihn absorbierenden Zerstörungsdrang besessen. War ein Mensch dieses Zuschnitts überhaupt in der Lage, etwas Konstruktives zu leisten? Konnte er die Aufbauarbeit, die ein Sieg im Zweiten Weltkrieg mit sich gebracht hätte, überhaupt wollen? Oder stand sein Wesen, sein Unbewusstes dem (und ihm) im Weg?
„Hitler war ein Spieler; er hat mit dem Leben aller Deutschen ebenso wie mit seinem eigenen Leben gespielt. Als das Spiel aus war und er verloren hatte, hatte er nicht allzu viel Grund, es zu bedauern. Er hatte gehabt, was er sich immer gewünscht hatte: Macht und die Befriedigung seines Hasses und seines Zerstörungsdranges. Seine Niederlage konnte ihm diese Befriedigung nicht nehmen. Der Megalomane und Zerstörer hatte in Wirklichkeit nicht verloren. Verloren hatten nur die Millionen von Menschen – Deutsche, Angehörige anderer Nationen und die rassischen Minderheiten –, für die der Tod auf dem Schlachtfeld noch die mildeste Form des Leidens gewesen war. Da Hitler mit niemand das geringste Mitgefühl hatte, verursachte ihm dieses Leiden weder Schmerz noch Gewissensbisse.“
Und heute? Oberflächlich und mit einer gewissen Naivität betrachtet, könnte man annehmen, angesichts von Corona, Klimawandel und Great Reset erlebten wir zurzeit das genaue Gegenteil des Hitlerschen Vernichtungswerks, nämlich eine geradezu altruistische, globale Rettungsaktion. Doch das ist nur die glatte, blendende Oberfläche. Schürft man etwas tiefer, sieht man auch hier gewaltige Destruktivkräfte am Werk – vermutlich unbewusst wirkende Kräfte. Und es beschleicht einen der Verdacht, dass uns – oder besser: den Regierenden – etwas entgleitet, dass etwas in großem Stil außer Kontrolle gerät und zu Ende geht.
Welt in Auflösung
Entsprechend ist die Stimmung. Immer öfter kann man lesen oder hören, wir befänden uns in einem Zeitalter der Dekadenz, in einer absterbenden Welt. Die Neue Zürcher Zeitung, nicht unbedingt anfällig für apokalyptische Töne, sinnierte kürzlich über Weltuntergangsszenarien und erläuterte in diesem Zusammenhang wenig geläufige Termini wie „Omnizid“ (also die Selbstauslöschung der Menschheit), das existenzielle Risiko (im Englischen „x-risk“) oder die „doomer lit“ (so nennt man das zugehörige literarische beziehungsweise philosophische Genre).
Was lange Zeit stabil und unangreifbar war, scheint in Auflösung begriffen, nicht nur in Deutschland, sondern in weiten Teilen der Welt, insbesondere der westlich orientierten. Die USA etwa gelten inzwischen als tief gespaltenes Land. Einzelne Auguren sprechen ganz offen von der Gefahr eines Bürgerkriegs oder zumindest bürgerkriegsähnlicher Zustände. Und auch viele derjenigen, die in ihrem Urteil zurückhaltender sind, sehen den sozialen Zusammenhalt bedroht, fürchten um Rechtsstaat und Demokratie.
Zudem gerät das Land im globalen Maßstab immer mehr ins Hintertreffen und reagiert auf diesen Machtverlust geradezu erratisch – und wiederum (selbst-) zerstörerisch. Die globalen Gegenspieler China und Russland scheinen sich mittlerweile damit abgefunden zu haben, dass auf die bewährten Wege der diplomatischen Verständigung und Zusammenarbeit mit dem Westen kein Verlass mehr ist, dass die jahrzehntelang leidlich intakte „regelbasierte Ordnung“ von den USA und einigen ihrer Verbündeten mutwillig ruiniert wird. Und während all dies geschieht, rast – wie Matthew Ehret es ausdrückt – die Hindenburg des westlichen Finanzsystems ihrem flammenden Ende entgegen…
In diesen großen Krisen- und Zerstörungskontext gehören auch und nicht zuletzt die erbitterten und immer breiteren Raum einnehmenden Kontroversen über die Exzesse der „Wokeness“, der Cancel Culture, der politischen und sonstigen Korrektheit, die um sich greifenden Zensurpraktiken, das strenge Pochen auf politische Hygienevorschriften, die Diffamierung von Skeptikern und Zweiflern als „Leugner“ et cetera. Viele Beobachter fühlen sich angesichts dieses „Tugendterrors“ (Hermann Lübbe) an berühmt-berüchtigte historische Vorläufer erinnert, deren Anmaßungen und Zumutungen ebenfalls das soziale Zusammenleben zur Qual hatten werden lassen und Boten eines bevorstehenden Zusammenbruchs waren: etwa an den russischen Nihilismus oder den antizaristischen Terrorismus des 19. Jahrhunderts. Und an die großen literarischen Auseinandersetzungen mit derlei Strömungen und Geisteshaltungen, wie sie vor allen anderen Dostojewski in seinen „Dämonen“ geführt hat – mit Gültigkeit weit über Russland hinaus.
Ein großer Plan?
Ich will keineswegs bestreiten, sondern ausdrücklich konzedieren, dass es sehr wahrscheinlich starke Kräfte gibt, die an den eben skizzierten Polarisierungen ein Interesse haben, die sie befördern, sie intensivieren, die auch die aktuelle Coronakrise instrumentalisieren, also die durch sie geschaffene günstige Konstellation nutzen, um Pläne zu verwirklichen, die schon länger in der Schublade liegen. In diesem Sinne argumentiert beispielsweise Jens Wernicke, und er steht mit seiner Einschätzung nicht allein.
„Es darf inzwischen als gesichert angesehen werden, dass der ganze ‚Corona-Wahnsinn‘ nur als Cover für den globalen Umbau von Staaten und Gesellschaften dient, an dessen Ende sich die Mehrheit der Weltbevölkerung auf Dauer entrechtet und in einer neuen Art von Leibeigenschaft wiederfinden soll.“
Ähnlich sieht es Walter van Rossum:
„Ich gehe davon aus (…), dass eisige Technokraten seit Jahrzehnten an einem globalen Reset arbeiten, gewissermaßen an einer notwendigen Reparatur der von den Exzessen des Neoliberalismus verwüsteten Welt. Dazu gehört auch die Exekutivmacht einer Global Governance. Die kann nicht durch einen Putsch erworben werden, sondern nur durch kontrollierte Zerrüttung der bestehenden Weltgesellschaft, die am Ende des Prozesses sich denen ergibt, die ein Ende der Auflösung versprechen. Die Pandemie bietet die Benutzeroberfläche für diese kontrollierte Zerrüttung. So, und in meinen Augen nur so, lässt sich erklären, warum die so uneffektive wie zerstörerische Lockdownpolitik sich weltweit durchgesetzt hat beziehungsweise weltweit durchgesetzt wurde.“
Wer, wie die beiden zitierten Autoren, auf solche global ausgreifenden Pläne und Initiativen der Reichen und Mächtigen verweist, wird von herrschaftsnahen Medien merkwürdigerweise und reflexartig als Verschwörungstheoretiker abgekanzelt. Das ist insofern verwunderlich, als die Protagonisten der in Rede stehenden Weltveränderungspläne ja keineswegs im Geheimen agieren. Im Gegenteil, die führenden Akteure des Great Reset machen keinen Hehl aus ihren Absichten. Sie tragen fast alles auf offenem Markte aus. Sie betreiben gleichsam eine „offene Verschwörung“ (um einen Buchtitel von H.G. Wells aus dem Jahr 1928 aufzugreifen), was wiederum darauf hindeutet, dass sie sich ihrer Sache (immer noch) recht sicher sind und sich unangreifbar fühlen.
Wer die maßgeblichen Kräfte namhaft machen will, wer nach Hintermännern und Drahtziehern fahndet, der wird also mit ziemlicher Sicherheit fündig werden: Individuen, Gruppen, Organisationen, denen die Zerstörung möglicherweise zupasskommt, die sich aktiv an ihr beteiligen und sie vorantreiben. Und doch bleibt eine Unsicherheit: Treiben sie die Entwicklung bewusst voran? Oder sind sie selbst Getriebene, Krisengeschüttelte, Angstbesetzte? Verfügen diejenigen, die es sich im System komfortabel eingerichtet haben, tatsächlich über die Macht, die Fäden zu ziehen, also das System als solches zu steuern?
Und auch die Frage, die Erich Fromm mit Blick auf Hitler aufgeworfen hatte, taucht in diesem Zusammenhang wieder auf: Kann es sein, dass die Protagonisten des Great Reset und ähnlich weitreichender Projekte sich zwar Großes auf ihre Fahnen geschrieben haben, dass sie aber unterschwellig, unbewusst destruktive Energien ausleben und gar nicht (mehr) imstande sind, etwas nachhaltig Konstruktives zu leisten?
Simone Weil und das Phänomen der Macht
Die französische Philosophin Simone Weil (1909-1943) hat in immer neuen Anläufen und immer neuen, einprägsamen Formulierungen darauf beharrt, dass der Macht (sei sie politisch, ökonomisch, technisch) etwas Schicksalhaftes eigne, das auf den Befehlenden ebenso unerbittlich laste wie auf den Gehorchenden. So steht es vielfach in ihrer 1934 entstandenen Schrift Über die Ursachen von Freiheit und gesellschaftlicher Unterdrückung – ein erhellender Text von brennender Aktualität.
Da heißt es: Auch die Mächtigen sind Gefangene der Macht, wenn auch auf andere Weise als die Ohnmächtigen. Das Streben nach Macht und der Wettlauf um die Macht – beide für Weil historische Konstanten – unterjochen alle Beteiligten. Die menschliche Geschichte ist eine „Geschichte der Knechtung“; sie degradiert die Menschen zu bloßen Spielbällen der von ihnen selbst produzierten Herrschaft. Die lebendige Menschheit verkümmert zum Gegenstand lebloser Dinge. Es entstehen demütigende Abhängigkeiten, und die Schwachen wie die Mächtigen werden „von den blinden Erfordernissen des kollektiven Lebens versklavt“. Auf beiden Seiten wird „das Herz und der Geist beeinträchtigt“.
Teilt man diese Perspektive, dann erscheint eine Analyse, die sich auf die Absichten und Aktivitäten mächtiger Gruppen und Individuen kapriziert, notwendig defizitär. Macht sei „soziologisch amorph“, also instabil und kaum fassbar, hatte Max Weber gesagt. So argumentiert auch Simone Weil – und sieht sich einer Welt gegenüber, die der irrigen Auffassung anhängt, man könne Macht eindeutig verorten oder begrenzen. Was sie 1934 notierte, könnte auch heute aufgeschrieben worden sein:
„… jeder glaubt, dass die Macht auf geheimnisvolle Weise in einem jener Kreise liegt, die ihm verschlossen sind, weil kaum jemand begreift, dass sie nirgendwo liegt, so dass das vorherrschende Gefühl überall jene abgründige Angst ist, die durch den Verlust des Bezugs zur Realität entsteht. Jedes soziale Milieu stellt sich von außen als Gegenstand eines Albtraums dar. In den Kreisen, die mit der Arbeiterbewegung verbunden sind, gehen mythische Schreckgespenster namens Finanzkapital, Industrie, Börse oder Banken um, die Bürger träumen von anderen Gespenstern, die sie Aufwiegler, Agitatoren oder Demagogen nennen, die Politiker sehen in den Kapitalisten übernatürliche Wesen, die als einzige den Schlüssel zur Lösung haben, und umgekehrt; jedes Volk sieht im anderen ein kollektives Schreckgespenst, beseelt von teuflischer Niedertracht. In einer solchen Situation kann jeder Hohlkopf für einen König gehalten werden und allein durch diesen Glauben auch dafür herhalten; das gilt nicht nur für die Menschen, auch für die herrschenden Kreise.“
Das repressive System und sein Todeskeim
Simone Weil sieht das Leben und die historische Entwicklung als einen immerwährenden Kampf um Macht. Doch zum Wesen der Macht gehört es, dass sie niemals endgültig zu besitzen ist. Sie ist stets instabil. Ihre Instrumente – „Waffen, Gold, Maschinen, magische oder technische Mysterien“ – sind ihr äußerlich. Andere können dieser Instrumente habhaft werden und den Spieß umdrehen. So muss die Macht immer neu verteidigt, gefestigt, ausgeweitet werden, um weiterhin Bestand haben zu können.
Und verteidigt werden muss sie an zwei Fronten: zum einen gegen die Rivalen, die ihrerseits nach Macht streben, zum anderen gegen die Unterdrückten, die sich der Macht nicht länger unterwerfen wollen. Beide Kämpfe sind unauflöslich miteinander verquickt, der eine wird ständig durch den anderen entfacht.
„Sie [die Macht, U.T.] kann (…) nicht haltmachen, der Stachel der Rivalität zwingt sie dazu, weiter und immer weiter zu gehen, die Grenzen zu überschreiten, in denen sie sich wirksam ausüben lässt. Sie erweitert sich über das hinaus, was sie kontrollieren kann, sie herrscht über das hinaus, was sie durchsetzen kann, sie verausgabt sich über das hinaus, was sie aufbieten kann. Das ist der innere Widerspruch, den jedes repressive System wie einen Todeskeim in sich trägt; er entsteht durch den Gegensatz zwischen der notwendigen Begrenztheit der materiellen Machtgrundlagen und der notwendigen Grenzenlosigkeit des Wettlaufs um die Macht als einem Verhältnis zwischen Menschen.“
Was zunächst (und oft lange Zeit) erfolgreich verläuft, also zur kontinuierlichen Machtsteigerung führt, schlägt ab einem bestimmten Punkt um, wird immer kostspieliger und am Ende kontraproduktiv. Das Unmaß der Mächtigen wird bestraft, obwohl doch auch sie, die Mächtigen, nur Getriebene sind.
Ein System, ganz auf Zerstörung angelegt
Im Zuge des historischen Prozesses kann der Kampf um die Macht seinen Charakter völlig verändern. Ging es zum Beispiel für den ökonomisch Ehrgeizigen noch im 19. Jahrhundert vorrangig darum, ein Geschäft florieren zu lassen, dessen Eigentümer er war, so bestand das Ziel im 20. Jahrhundert darin, einen möglichst großen Bereich wirtschaftlicher Aktivität unter seine Kontrolle zu bringen. Nunmehr war der Kampf um die wirtschaftliche Macht weniger vom Aufbau als von der Eroberung geprägt. Und da Eroberung stets zerstört, ist, so Simone Weil, auch das kapitalistische System ganz auf Zerstörung ausgerichtet. Die Mittel des ökonomischen Kampfs tendieren allesamt dazu, die Grundlagen des Wirtschaftslebens nicht auszuweiten, sondern auszuhöhlen. „Es scheint, als sei der ökonomische Kampf von einer Konkurrenz zu einer Art Krieg geworden.“
Krieg ist das Stichwort. Schon vor nunmehr fast hundert Jahren beobachtete Weil zwei weitere Tendenzen, die sich seither – ungeachtet temporärer Abschwächungen – verfestigt haben und uns heute wieder in besonderer Weise beschäftigen: Zum einen rückt der Staat zunehmend ins Zentrum des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens (übernimmt also eine staatskapitalistische Funktion), zum anderen wird das Ökonomische immer mehr dem Militärischen untergeordnet. Da der Staat die stärksten Zwangsmittel bei sich konzentriert, wird er durch sein eigenes Gewicht nach und nach zum zentralen Faktor beim Erobern und Zerstören. Und hinter dem diffusen Wirtschaftskrieg tritt der wirkliche Krieg in Erscheinung.
„… da der Krieg die eigentliche Form des Machtkampfs ist, wenn die Konkurrenten Staaten sind, hat jeder Fortschritt in der Kontrolle des Staates über die Wirtschaft eine noch stärkere Ausrichtung der Industrie auf die Kriegsvorbereitung zur Folge, während umgekehrt die ständig wachsenden Erfordernisse der Kriegsvorbereitung das gesamte wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben jedes einzelnen Landes von Tag zu Tag stärker der Macht der Zentralgewalt unterwerfen.“
Das liest sich fast wie eine Beschreibung der aktuellen Verhältnisse in den USA. Und Weils Analyse ist damals wie gegenwärtig beunruhigend, denn die Folge dieser Entwicklung besteht darin, „dass die heutige Menschheit fast allenthalben zu einer totalitären Gesellschaftsorganisation tendiert“. Wobei freilich für die totalitären Systeme das Gleiche wie für alle anderen gilt: sie sind instabil, zerstörerisch, selbstzerstörerisch. Wenn Chaos und Zerrüttung eine bestimmte Grenze überschreiten, wenn nichts mehr funktioniert, droht der zivilisatorische Kollaps.
Repression, Ohnmacht, Angst
In einer auf den ersten Blick unscheinbaren, aber äußerst durchdachten und fruchtbaren Definition charakterisiert Weil die „am wenigsten schlechte Gesellschaft“ als diejenige
„in der der gemeine Mann am häufigsten beim Handeln nachdenken muss, die größten Möglichkeiten hat, das kollektive Leben als Ganzes zu kontrollieren, und die größte Unabhängigkeit besitzt.“
Nimmt man diese Definition als Maßstab, dann sticht der Gegensatz zur Realität des Jahres 1934 ins Auge – und erst recht der schroffe Kontrast zur Realität des Jahres 2021. Denn:
„Nie war der einzelne so vollständig einer blinden Kollektivität ausgeliefert, und nie sind die Menschen weniger dazu imstande gewesen, nicht nur ihr Handeln ihrem Denken zu unterwerfen, sondern überhaupt zu denken. Die Begriffe von Unterdrückern und Unterdrückten, der Klassenbegriff, all das verliert nahezu jede Bedeutung, so sehr ist die Ohnmacht und Angst aller Menschen angesichts der sozialen Maschinerie deutlich geworden, die zu einer Maschinerie der Zerstörung der Seelen und Köpfe geworden ist (…). Die Ursache dieses qualvollen Zustands liegt auf der Hand. Wir leben in einer Welt, in der nichts menschlichem Maß entspricht. Es besteht ein ungeheures Missverhältnis zwischen dem menschlichen Körper, dem menschlichen Geist und den Dingen, die gegenwärtig das menschliche Leben ausmachen; alles ist aus dem Gleichgewicht.“
Oder anders: Zweck und Mittel haben sich verkehrt. Und diese Verkehrung, so Weil, ist „das Gesetz jeder repressiven Gesellschaft“, „dieser fundamentale Wahn erklärt alles, was es in der Geschichte an blutigem Irrsinn gab.“
Während Marx noch überzeugt war, das repressive System werde seine eigenen Totengräber hervorbringen, konnte Simone Weil an eine solch wundersame Wendung nicht glauben. In einem System der Knechtung, sagte sie, könnten sich keine freien Menschen herausbilden, im Gegenteil.
„Die Wahrheit ist, dass die Knechtschaft (…) den Menschen so weit erniedrigt, bis er sie liebt, dass die Freiheit nur denen kostbar ist, die sie wirklich besitzen, und dass ein ganz und gar unmenschliches System wie das unsere nicht etwa Menschen hervorbringt, die eine menschliche Gesellschaft aufbauen können, sondern alle, die ihm unterworfen sind, Unterdrückte wie Unterdrücker, nach seinem Bild formt.“
Mit Gasmasken, Luftschutzkellern oder Alarmsirenen könne man elende Herden verängstigter Wesen züchten, aber keine Bürger, schreibt Weil. Auf heute bezogen, müsste man formulieren: Mit obligatorischem Mund-Nasen-Schutz, Abstandsregeln, Ausgangssperren, Kontaktverboten, Bußgeldkatalogen, Psychoterror, Existenzvernichtung, einem „Test-Regime“ und faktischem Impfzwang – mit alledem kann man elende Herden verängstigter Wesen züchten, aber keine Bürger.
Ich bin im Zweifel, ob es sich bei der gegenwärtig zu beobachtenden Destruktivität bereits um eine voll ausgebildete „Nekrophilie“ handelt (in der Definition Erich Fromms), also um „die Leidenschaft, das, was lebendig ist, in etwas Unlebendiges umzuwandeln; zu zerstören, um der Zerstörung willen, (…) lebendige Zusammenhänge zu zerstückeln“. Sicher bin ich mir allerdings, dass wir uns im Laufe der Coronakrise der gegenteiligen, positiven Lebenseinstellung, die Fromm „Biophilie“ nennt, sichtlich entfremdet haben.
„Die Biophilie ist die leidenschaftliche Liebe zum Leben und allem Lebendigen; sie ist der Wunsch, das Wachstum zu fördern, ob es sich nun um einen Menschen, eine Pflanze, eine Idee oder eine soziale Gruppe handelt. Der biophile Mensch baut lieber etwas Neues auf, als daß er das Alte bewahrt. Er will mehr sein, statt mehr zu haben. Er besitzt die Fähigkeit, sich zu wundern, und er erlebt lieber etwas Neues, als daß er das Alte bestätigt findet. Das Abenteuer zu leben ist ihm lieber als Sicherheit. Er hat mehr das Ganze im Auge als nur die Teile, mehr Strukturen als Summierungen. Er möchte formen und durch Liebe, Vernunft und Beispiel seinen Einfluß geltend machen – nicht durch Gewalt und dadurch, daß er die Dinge auseinanderreißt, nicht dadurch, daß er auf bürokratische Weise die Menschen behandelt, als ob es sich um tote Gegenstände handelte. Da er Freude am Leben und allen seinen Manifestationen hat, ist er kein leidenschaftlicher Konsument von frisch verpackten ‚Sensationen‘.“
Von dieser konstruktiven Haltung beziehungsweise Lebenseinstellung haben sich viele Menschen weit, sehr weit entfernt. Und es sieht so aus, als würden die Abstände täglich größer.
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