Wladimir Putin im Gepräch mit Oliver Stone im Juli 2019 | Foto: picture alliance/EPA-EFE | Alexey Druzhinyn / Sputnik/Kremli

Die Putin-Interviews und der Krieg

Zwischen Juli 2015 und Februar 2017 führte der Oscar-gekrönte US-amerikanische Regisseur Oliver Stone ausgedehnte Interviews mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Veröffentlicht wurden die Gespräche als vierstündige Filmdokumentation sowie als Abschriften in Buchform. Stone bot Putin reichlich Gelegenheit, seine Weltanschauung und sein Politikverständnis zu erläutern, von seinen Erfahrungen, Einsichten und Überzeugungen zu berichten. Ob man den Interviews als Zuschauer oder als Leser folgte: Alles in allem ergab sich aus ihnen ein interessantes, freundliches, relativ umfassendes und wohl auch einigermaßen authentisches Porträt des russischen Präsidenten. Zumindest schien es so. Spätestens seit dem 24. Februar 2022 steht all dies in Zweifel. Seit diesem Tag agiert und agitiert Wladimir Putin für jedermann erkennbar in einer Art und Weise, die vielen seiner zentralen Aussagen und Maximen aus den Stone-Interviews diametral widerspricht. Die Fragen lauten: Wo genau liegen die Unterschiede zwischen damals und heute? Und: Wie ist die Wandlung zu erklären?

ULRICH TEUSCH, 26. März 2023, 20 Kommentare, PDF

In diesem Beitrag konzentriere ich mich auf die erste Frage: Ich rekapituliere und systematisiere wichtige Aussagen Putins aus den Interviews und arbeite die angesprochenen Widersprüche zwischen seiner damaligen Haltung und seinen heutigen Handlungen heraus. In einem demnächst erscheinenden zweiten Artikel werde ich mich an einer Erklärung dieser Wandlungen versuchen.

Um den allfälligen Missverständnissen vorzubeugen, die mit den Themen Putin und Russland fast unvermeidlich einhergehen, schicke ich einige grundsätzliche und klärende Bemerkungen voraus.

Zunächst will ich einräumen, dass ich vom russischen Angriff auf die Ukraine überrascht wurde. Noch am 23. Februar 2022 hätte ich kategorisch ausgeschlossen, dass es zu einer solchen Entwicklung kommen könnte. Für möglich gehalten hatte ich lediglich ein massives russisches Eingreifen im Donbass für den Fall, dass Kiew zu einer großen militärischen Offensive ansetzen würde, um die abtrünnigen „Volksrepubliken“ zurückzuerobern. Putin hatte in den vergangenen Jahren immer wieder betont, dass Russland dies „nicht zulassen“ beziehungsweise „nicht erlauben“ würde.

Die russische Invasion hat zweifellos ihre Vorgeschichte. Von einem Krieg in der Ukraine kann man – wie u.a. NATO-Generalsekretär Stoltenberg konzedierte – seit 2014 sprechen. Auch eine mehr oder weniger offene russische Kriegsbeteiligung lässt sich schon seit Jahren beobachten. Umgekehrt kann man gut belegen, dass die Eskalation im Februar 2022 nicht „unprovoziert“ zustande kam. Es gab „Gewalt vor der Gewalt“, wie Ted Snider es ausdrückte. Mit diesen Hinweisen ist das russische Vorgehen allerdings in keiner Weise gerechtfertigt. „Putins Krieg“ ist und bleibt eindeutig völkerrechtswidrig.

Wie fällt das Urteil auf einer anderen, auf einer im engeren Sinne politischen Ebene aus? Hierauf würde ich in Anlehnung an den französischen Staatsmann Talleyrand (respektive seinen Zeitgenossen Fouché) antworten: Dieser Krieg ist mehr als ein Verbrechen, er ist ein Fehler. Selbst wenn er nicht geradewegs in einer nuklearen Katastrophe endet, wird er doch für keinen der an ihm direkt oder indirekt Beteiligten einen positiven Ausgang nehmen: für die Ukraine ganz gewiss nicht, für Russland auch nicht, ebenso wenig für die Europäer, und selbst für die USA nicht. Es mag sein, dass der Krieg das Tor zu einer multipolaren Weltordnung weit aufstoßen wird. Aber ob diese Ordnung einen manifesten Fortschritt mit Blick auf Frieden, Menschenrechte, Demokratie und soziale Gerechtigkeit bringen wird, darf man aus heutiger Sicht bezweifeln. Nach meiner Überzeugung sind in diesem Krieg vielmehr jene Destruktivkräfte am Werk, die ich an früherer Stelle ausführlich beschrieben hatte.

In den vergangenen Jahren habe ich mich um ein zwar kritisches, aber immer auch sachliches, faires und differenziertes Urteil über Russland und Putin bemüht – etwa hier und hier. Davon habe ich nichts zurückzunehmen. Derzeit ist oft davon die Rede, „wir“ im Westen hätten uns in Sachen Russland und Putin Illusionen hingegeben, seien leichtgläubig und naiv gewesen. Triumphierend und obenauf sind nunmehr die Hardliner, die es angeblich immer schon gewusst haben, aber auf die man nicht hatte hören wollen.

Das ist purer Unsinn – richtig ist das Gegenteil. Seit mindestens anderthalb Jahrzehnten gefällt sich der Westen bei jeder sich bietenden Gelegenheit in einem zügellosen Russland- und Putin-Bashing. Die Liste der Vorwürfe und Anschuldigungen ist lang. Sie reicht von Magnitzky bis Litwinenko, von Politkowskaja bis Nemtsow, von Skripal bis Nawalny, von der Krim-Annexion bis zu MH 17, vom Staatsdoping bis zur Homophobie, von Grosny bis Aleppo. Putin wird schon seit langem gerne als neuer Zar, neuer Hitler oder neuer Stalin stigmatisiert – oder einfach als „Killer“ (so Joe Biden). Obwohl ohne Zweifel demokratisch legitimiert, gilt er als Diktator, als beratungsresistenter Tyrann, als rückwärtsgewandter Autokrat, als Imperialist, als Faschist, als Kriegsverbrecher, als Wahnsinniger. Inzwischen hat der Internationale Strafgerichtshof einen Haftbefehl gegen den Paria erlassen.

Alles nur Propaganda?

Oliver Stones Interviews wollen einen Beitrag zur Versachlichung der Auseinandersetzung leisten, indem sie die andere Seite zu Wort kommen lassen. Diese Bemühungen haben im westlichen Mainstream erwartungsgemäß wenig Freude ausgelöst. Die „Süddeutsche Zeitung“ sprach von „Autokraten-Porno“ und lag mit diesem Verdikt ganz im „Alles nur Propaganda“-Trend. Dass die deutsche Buchfassung der Interviews im Kopp-Verlag erschien (Die Putin-Interviews: Die vollständigen Abschriften, 368 Seiten, Rottenburg 2018), war der Rezeption auch nicht gerade förderlich. Dabei ist die Kopp-Edition von größter Sorgfalt, besticht zudem durch einen umfangreichen, hoch informativen Anmerkungsapparat sowie ein ausführliches Personen- und Sachregister. Im Folgenden werde ich aus dieser Ausgabe zitieren (Seitenangaben in Klammern).

Putin und Stone sprechen die unterschiedlichsten Themen an. Das Spektrum reicht von den großen Fragen der Weltpolitik bis hin zu privaten Vorlieben und Gewohnheiten, über die sich die beiden in aufgeräumten, manchmal amüsanten Plaudereien austauschen. Sie kommen sich im Lauf der Gespräche näher, sie entwickeln eine Beziehung, die nicht nur von wechselseitigem Respekt, sondern auch von Sympathie getragen ist. Als man auf das Thema Geld und Reichtum zu sprechen kommt, verpackt Putin seine Überlegungen in ein Kompliment:

„Ach, wissen Sie, ich glaube nicht, dass Reichtum allein glücklich macht. (…) Sie [gemeint ist Stone, U.T.] sind ohnehin viel wohlhabender als die Leute, die eine Menge Geld auf dem Konto haben. Sie haben eine eigene Meinung. Sie sind talentiert und haben die Möglichkeit, Ihr Talent auch anderen zu beweisen, und Sie haben die Chance, der Nachwelt ein großartiges Vermächtnis zu hinterlassen. Diese Art Glück kann man mit Geld nicht kaufen. Wenn Sie einmal im Sarg liegen, können Sie Ihr Geld ohnehin nicht mitnehmen.“ (273)

Stone wiederum bewundert Putin dafür, dass er in vielen schwierigen Situationen „kühl und besonnen“ geblieben sei. „Ich glaube, dass viele Menschen – vielleicht Millionen – Ihnen ihr Leben verdanken, ohne es zu wissen.“ Darauf Putin: „Möglicherweise.“ (197)

Putins Skepsis

Oft stellt Stone zwar recht einfache, allerdings nur scheinbar naive Fragen, dann wieder punktet er mit detailgenauer, profunder Sachkenntnis. Einige zentrale Themen – allen voran der Konflikt in der Ukraine – werden in den Gesprächen mehrfach und ausführlich abgehandelt. Stone vermeidet die Konfrontation, das offene Streitgespräch. Er hakt kaum kritisch nach, bringt nur selten einen der Vorwürfe zur Sprache, die gegen Putin zahlreich in Umlauf sind. Er versucht sich nicht als Fallensteller, sondern bietet dem russischen Präsidenten eine Plattform. Dieser wiederum nutzt die Gelegenheit nicht zu eitler Selbstdarstellung, sondern antwortet nüchtern, präzise, geradeaus.

„Ich will gar nicht erreichen, dass mir jemand glaubt. Ich versuche nur, meinen Standpunkt zu bestimmten Themen so klar und deutlich zu vermitteln wie möglich. Die Leute müssen selbst zu dem Schluss gelangen, ob sie meine Handlungen für richtig halten und ob sie mir glauben oder nicht.“ (173)

Dass dieses Unterfangen wirklich von Erfolg gekrönt sein könnte, bezweifelt Putin allerdings. Gegen Ende der Gespräche, als Stone ihn ermuntert, seine Perspektive in den westlichen Medien doch stärker zu verbreiten, schimmert eine resignative Tendenz durch:

„Aber sie wissen doch, dass es unmöglich ist. Unser Standpunkt wird von der weltweiten Medienlandschaft völlig ignoriert. Und wenn das der Fall ist, wenn bestimmte Perspektiven nicht gleichrangig mit anderen präsentiert werden, dann wird so gut wie niemand davon erfahren. Deshalb können unsere Gegner auch so leicht die Legende vom bösen Russland aufbauen und weiterverbreiten...“ (328)

Postsowjetisches

Putins Urteil über die Reformer Gorbatschow und Jelzin fällt ambivalent aus. Er würdigt insbesondere Gorbatschow, weil dieser die Notwendigkeit tiefgreifender Reformen erkannt und das System geöffnet hatte, wirft ihm und seinen Gefolgsleuten aber vor, sie hätten völlig unklare Vorstellungen hinsichtlich der praktischen Umsetzung ihres Reformwillens gehabt. Auf diese Weise sei der Staat an den Rand des Zusammenbruchs manövriert worden.

Was die turbulenten Jelzin-Jahre angeht, so erinnert sich Oliver Stone an ein Abendessen in einem Sankt Petersburger Luxusrestaurant Anfang der 1990er Jahre – auf Einladung von Anatoli Sobtschak, dem Bürgermeister der Stadt und Vertreter der Reformbewegung, für den auch Putin damals arbeitete –, und vergleicht seine Eindrücke mit der grauen Welt der Breschnew-Ära, die er 1983 bei einem Besuch der Sowjetunion erleben musste. Putins Antwort ist bemerkenswert:

„Aber zur selben Zeit, als die schicken Restaurants aufmachten, wurde das russische Sozialversicherungssystem komplett zerstört. Ganze Wirtschaftszweige hörten zu funktionieren auf. Die öffentliche Gesundheitsversorgung lag in Trümmern. Die russischen Streitkräfte waren in einem bedauernswerten Zustand, und Millionen Menschen lebten unterhalb der Armutsgrenze. Das darf man auch nicht vergessen.“ (23)

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion habe sich Russland radikal verändert, sagt Putin. Die Mentalität des Volkes sei heute eine andere als zu Sowjetzeiten. Eine Rückkehr zum Stalinismus werde es nicht geben. (40) Nach dem radikalen Umbruch habe man in Russland geglaubt, „auf allen Seiten nur von Verbündeten umgeben zu sein. Wir nahmen auch an, dass die USA mit uns verbündet seien.“ (79) An späterer Stelle bemerkt er dazu: „Es gab tatsächlich eine gewisse Naivität, was die Beziehung zu unseren Partnern anging, das muss ich zugeben.“ (247)

Neue Umstände und Flexibilität

Ist Putins Denken, wie man häufig lesen oder hören kann, den Einflüsterungen reaktionärer Philosophen ausgesetzt? Er selbst versichert das Gegenteil: „Bedauerlicherweise ändern sich meine Ansichten nicht dann, wenn ich mit neuen Ideen konfrontiert werde, sondern nur, wenn ich mich neuen Umständen gegenübersehe.“ (21) So habe er sich vom sowjetischen System abgewandt, als er dessen Ineffizienz und Stagnation erkannt hatte. Daraus folgten dann weitere Einsichten: etwa die, dass eine Partei nicht die alles dominierende Kraft sein dürfe, dass sie kein Machtmonopol haben sollte. Ähnliches gilt für die sowjetische Dominanz über die Völker und Nationen Ost- und Mitteleuropas. Die Sowjetunion habe ihnen gegenüber „direkt und primitiv“ gehandelt. (68). „Diese Vorgehensweise hatte keine Zukunft, und es war logisch, dass sie auf die eine oder andere Art zu Ende gehen musste. Die Menschen nehmen auf Dauer nicht hin, dass man ihnen von außen Entscheidungen vorschreibt. Davon abgesehen hatten Osteuropa und Europa insgesamt ihre eigenen politischen Traditionen, die man nicht ignorieren durfte.“ (45)

In den Gesprächen finden sich weitere außerordentlich interessante Äußerungen, die Rückschlüsse auf Putins Politikverständnis und seinen Politikstil erlauben. Eine der von ihm formulierten Maximen lautet: „Man sollte nie jemanden in die Enge treiben. Niemand sollte in eine Situation gedrängt werden, die eine Sackgasse für ihn ist.“ (37) In unmittelbarem Zusammenhang damit steht das Thema Flexibilität. Jemanden nicht in eine Sackgasse zu zwingen, bedeutet auch, ihm die Möglichkeit flexiblen Handelns zu lassen. Der Judoka Putin erläutert: „Meine Grundidee – der flexible Weg sozusagen – ist auch die grundlegende Idee des Judo. Man muss flexibel sein. Manchmal kann man anderen auch nachgeben, wenn das der Weg ist, der schlussendlich zum Sieg führt.“ (36) Beinahe überschwänglich fallen in diesem Kontext Putins Bemerkungen zu Winston Churchill aus, einem Staatsmann, den er ob seiner Flexibilität und gleichzeitigen Prinzipientreue offenkundig schätzt, vielleicht sogar als Vorbild betrachtet:

„[Winston Churchill] war entschieden gegen das Sowjetsystem, doch nach Beginn des Zweiten Weltkriegs setzte er sich stark für eine Zusammenarbeit mit der Sowjetunion ein und nannte Stalin einen großen Kriegsherrn und Revolutionär. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es dann bekanntlich eben dieser Churchill, der den Kalten Krieg eröffnete. Als die Sowjetunion dann ihren ersten Atomtest durchführte, war es kein anderer als Winston Churchill, der plötzlich über die Notwendigkeit einer friedlichen Koexistenz zwischen zwei Systemen sprach. Er war ein äußerst flexibler Mensch. Ich glaube aber dennoch, dass er in seinem tiefsten Inneren die Einstellung gegenüber Stalin nie auch nur um ein Jota geändert hat.“ (39)

„Russiagate“

Die Gespräche zwischen Putin und Stone fanden statt, als in Amerika die Präsidentschaftswahlen anstanden, aus denen Trump als Sieger hervorging; die Favoritin Hillary Clinton musste eine schmerzhafte Niederlage hinnehmen. Ob Russland sich in die US-Wahlen eingemischt habe, war damals eine ungeklärte Frage, und auch Stone scheint, als das Thema zur Sprache kommt, einen gewissen Verdacht zu hegen. Putin weist alle Vorwürfe zurück und präsentiert eine kurze Analyse der „Russiagate“-Kampagne, die – wie man heute weiß – im Wesentlichen zutreffend ist:

„Alle Theorien über eine Beeinflussung des Wahlergebnisses in den Vereinigten Staaten durch Russland sind Lügen. Wir erkennen natürlich, dass diese Kampagne zur Informationsmanipulation eine ganze Reihe von Zielen hat: Erstens will man damit infrage stellen, dass Trump auf rechtmäßige Art Präsident geworden ist. Zweitens will man ein Umfeld schaffen, in dem es uns unmöglich ist, unsere Beziehungen zu den USA zu normalisieren. Und drittens will man damit eine weitere Waffe für eine innenpolitische Schlacht in die Hand bekommen. Die Beziehungen zwischen Russland und den USA sind in diesem Zusammenhang nichts als ein weiteres Werkzeug für diese innenpolitische Schlacht.“ (288f.)

Deep State

Mehrfach betont Putin, auf die amerikanischen Wahlen angesprochen, dass er sich auch von einer neuen Führungsperson im Weißen Haus keinen allzu großen Wandel erwarte. Die Bürokratie, die in den USA außerordentlich stark sei, sorge für Kontinuität, der Spielraum für Veränderungen sei gering. Doch was versteht Putin unter „Bürokratie“? Als Stone das genauer wissen will, entspinnt sich zwischen den beiden ein aufschlussreicher Dialog, in dem Putin ein verblüffendes Eingeständnis macht:

„WP: …insgesamt ist es wohl weltweit – und vor allem in den Vereinigten Staaten – so, dass die Bürokratie sehr stark ist. Und in Wahrheit regiert die Bürokratie die Welt. OS: Die Bürokratie regiert die Welt. In jedem Land? WP: In vielen Ländern. OS: Wir haben schon voriges Mal darüber gesprochen … Es gibt ein System, das wir in Amerika den militärisch-industriellen Sicherheitskomplex nennen. WP: Ja, wir haben ein ähnliches System. Das gibt es auch überall. OS: Manche nennen es auch den 'Deep State' oder den Staat im Staate. WP: Man kann es nennen, wie man will. Das ändert nichts an der eigentlichen Bedeutung.“ (283)

Auch wenn die Existenz eines „Deep State“ das Verständnis insbesondere internationaler Entwicklungen nicht unbedingt erleichtert, ist Putin der Auffassung, dass man sich als Normalbürger einigermaßen objektiv informieren kann:

„Ich glaube, man muss nur aufmerksam verfolgen, was auf der Welt passiert – dann wird man auch die Logik hinter den Ereignissen verstehen. Warum sind normale Menschen oft nicht auf dem Laufenden, was aktuelle Ereignisse betrifft? Warum halten sie all diese Dinge für kompliziert? Warum glauben sie, dass sich manches im Verborgenen abspielt? Das liegt einfach nur daran, dass normale Menschen genug damit zu tun haben, ihr Leben zu leben. Sie gehen jeden Tag zur Arbeit, verdienen sich ihren Lebensunterhalt und kümmern sich nicht um internationale Angelegenheiten. Und das ist genau der Grund, warum man normale Menschen so leicht manipulieren und in die Irre führen kann. Würden sie das verfolgen, was sich Tag für Tag auf der Welt abspielt, dann könnten sie auch das politische Geschehen leichter verstehen und die Logik hinter weltweiten Entwicklungen durchschauen, auch wenn ein Teil der Diplomatie sich immer hinter verschlossenen Türen abspielen wird. Man kann auch ohne Zugang zu Geheimdokumenten ein Verständnis internationaler Affären erlangen.“ (35f.)

Proamerikanisches

In der derzeit extrem angespannten Situation läuft selbstverständlich auch die russische Propagandamaschine auf Hochtouren. Spitzenpolitiker wie Lawrow und insbesondere Medwedew lassen sich zu schrillen Aussagen hinreißen, und auch Putin selbst schreckt nicht vor wenig staatsmännischer Polemik zurück (so verunglimpfte er die USA als „Imperium der Lüge“). In den Gesprächen mit Stone herrschte dagegen noch ein konzilianter, partiell geradezu herzlicher Ton vor. Mehrmals bemerkt Putin, dass er um die USA-kritische Einstellung seines Gesprächspartners wisse. „Aber ich teile Ihren Standpunkt nicht immer, obwohl auch wir nicht immer die Art von Beziehung zur amerikanischen Führung haben, die wir uns wünschen würden.“ (46) Und an anderer Stelle: „Ich weiß, wie kritisch Sie der amerikanischen Politik gegenüberstehen. Aber versuchen Sie mich bitte nicht in einen Antiamerikanismus hineinzuziehen.“ (70)

Als Stone ihn mit den extrem Russland-kritischen Tönen in der amerikanischen Innenpolitik konfrontiert, führt Putin diese auf den laufenden Präsidentschaftswahlkampf zurück. Selbst zu brachialen Attacken ad personam äußert er sich versöhnlich; dass Hillary Clinton ihn mit Hitler verglich, entschuldigt er damit, dass Clinton, die er persönlich kennengelernt habe, „eine sehr dynamische Frau“ (112) sei. Selbst über den (zwischenzeitlich verstorbenen) militant-russophoben Senator John McCain, der am Umsturz in Kiew 2014 aktiv beteiligt war, findet er freundliche Worte: „... um ehrlich zu sein, mag ich Senator McCain ganz gerne. Bis zu einem gewissen Grad.“ (287)

Auch zu Präsident Obama, zu dem ihm ein kühles Verhältnis nachgesagt wurde, äußert sich Putin wohlwollend. Zu Zeiten des Staatsstreichs in der Ukraine (Februar 2014) sei er in ständigem Austausch mit Obama gewesen. Auch später sei der Gesprächsfaden nicht abgerissen. Und in einer Interviewsequenz, die noch in der Amtszeit Obamas aufgezeichnet wurde:

„Ich kann Ihnen (...) sagen, dass es sich bei diesen Gesprächen [mit Obama, U.T.] um einen Dialog zwischen interessierten Parteien handelt. Es geht dabei nicht um Konfrontation. Ich halte Präsident Obama für einen denkenden Menschen, der die tatsächliche Lage beurteilt und in manchen Punkten mit mir übereinstimmt, in anderen wieder nicht. Wir schaffen es aber immer wieder, auch bei komplizierten Themen in gewissen Punkten ein Einvernehmen zu erzielen. Es ist ein fruchtbarer Dialog.“ (104)

Man nenne sich „Wladimir“ und „Barack“. (104) Zu einem Verfall der Beziehungen sei es nach der Snowden-Affäre gekommen, als Russland dem amerikanischen Whistleblower Asyl gewährt hat. Das Atomabkommen mit Iran würdigt Putin als „eine großartige Leistung der Regierung Obama und auch ein persönlicher Sieg für ihn“. (159)

Als 2013 nach dem Vorwurf, das syrische Militär habe Chemiewaffen gegen seine Gegner eingesetzt, Obama eine von ihm definierte „rote Linie“ überschritten sah und das offene militärische Eingreifen der USA in den Konflikt unmittelbar bevorstand, konnte mit Putins Hilfe eine Lösung gefunden werden: „Die Gefahr eines Kriegsausbruchs war sehr groß – und ich bin überzeugt, dass Präsident Obama zu diesem Zeitpunkt die richtige Entscheidung getroffen hat. Er und ich schafften es, uns auf koordinierte Maßnahmen zu einigen. Er hat sich als tatkräftiger politischer Führer profiliert, wie die Amerikaner gern sagen. Dank unserer konzertierten Aktion konnten wir eine Eskalation des Konflikts verhindern.“ (196)

Geradezu rührend fallen Putins Bemerkungen über den Ex-Präsidenten George W. Bush aus:

„Er ist ein sehr anständiger Mensch, ein guter Mensch.“ (48) „Ich hatte das Gefühl, dass ich es hier mit einem Menschen zu tun hatte, mit dem man verhandeln und sich verständigen kann. Zumindest hoffte ich das.“ (48) „Man versucht immer wieder, Bush zu verteufeln, aber das halte ich für verkehrt.“ (58) „Ich bin ziemlich sicher, dass Präsident Bush immer ein integrer Mensch war.“ (51)

Putin macht nicht primär Bush, sondern die hinter ihm stehende Bürokratie für Fehlentscheidungen und –entwicklungen verantwortlich. Nach 9/11 zeigte Putin den USA und insbesondere Präsident Bush unverzüglich sein Mitgefühl und seine Solidarität: „Mir war klar, dass Staatsoberhäupter und Regierungschefs in solchen Situationen moralische Unterstützung brauchen. Und wir wollten Präsident Bush diese Unterstützung demonstrieren.“ (49)

Gegen Regimewechsel und militärische Gewalt

In seinem Vorwort zu den Putin-Interviews bemerkt der amerikanische Journalist Robert Scheer, dass sowohl Stone als auch Putin imperialistischen Ambitionen skeptisch bis ablehnend gegenüberstünden. So sagt Putin zur russischen Außenpolitik: „... wir haben eine goldene Regel, an die wir uns halten. Wir mischen uns nie in die innenpolitischen Angelegenheiten eines Landes ein.“ (319) Auf der anderem Seite stellt der russische Präsident mehrfach klar – ohne Kritik im Detail zu üben –, dass die US-amerikanischen Versuche, in autoritär regierten Ländern einen Regimewechsel herbeizuführen und der Demokratie zu einem nachhaltigen Durchbruch zu verhelfen, aus seiner Sicht zum Scheitern verurteilt sind.

„... ich halte es für falsch und fehlerhaft, anderen Staaten und Völkern die eigenen Normen und Modelle aufzuerlegen. Damit beziehe ich mich insbesondere auf die Demokratie. Demokratie lässt sich nicht von außen importieren, sondern kann nur in einer Gesellschaft selbst entstehen. Man sollte einer Gesellschaft zwar einerseits helfen, diesen Weg zu gehen, aber es ist sinnlos, eine Regierungsform mit Gewalt von außen durchsetzen zu wollen. Das ist kontraproduktiv und schädlich.“ (46) „Man kann sie [die Demokratie, U.T.] nicht von außen in ein Land bringen, sondern sie muss aus einer Gesellschaft selbst hervorgehen. Dieses Vorhaben mag schwieriger sein, aber es ist auch um einiges vielversprechender.“ (66)

Als Stone das militärische Eingreifen Russlands in den Syrien-Krieg anspricht und feststellt, dass man eine Befriedung des Landes nicht durch Bombenabwürfe erreichen könne, stimmt Putin dieser Aussage zu. (190) An anderer Stelle distanziert er sich grundsätzlich von militärischer Gewalt: „... ich finde (…), dass militärische Gewalt der falsche Weg ist, Probleme zu lösen, seien diese nun geopolitischer oder wirtschaftlicher Natur. Das fängt schon damit an, dass man die Wirtschaft des Landes zerstört hat [diese Aussage bezieht sich auf den Irak, U.T.]. Das ganze Land bricht zusammen.“ (201) Manchmal sei der Einsatz militärischer Gewalt zwar unerlässlich. In solchen Fällen sei es „aber auf jeden Fall besser, wenn ein solcher Militäreinsatz auf Ersuchen der betroffenen Regierung, in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht und aufgrund eines Beschlusses des UN-Sicherheitsrats erfolgt“. (46)

Amerikanische Lügen

Putin, der im Westen gerne als notorischer Lügner hingestellt wird, nennt einige Fälle westlicher beziehungsweise amerikanischer Unaufrichtigkeit. Zuvörderst ist da natürlich das westliche Versprechen, die NATO nach Auflösung des Warschauer Pakts nicht nach Osten zu erweitern. Gorbatschow sei ein Fehler unterlaufen, als er sich das Versprechen nicht schriftlich hat geben lassen. Die zweite Unaufrichtigkeit betrifft die Begründung der in Polen und Rumänien errichteten Raketenabwehrsysteme. Die Amerikaner versicherten, diese richteten sich nicht gegen Russland, sondern gegen Iran – eine offenkundig absurde Behauptung. Wenn dem tatsächlich so gewesen wäre, so Putin, hätten die Systeme abgebaut müssen, nachdem das Atomabkommen mit Iran zustande gekommen war. Eine dritte von Putin erwähnte Täuschung fand in der Ukraine-Krise im Februar 2014 statt.

„Die drei Außenminister der europäischen Länder fungierten als Bürgen für eine Vereinbarung zwischen der Opposition und Präsident Janukowytsch. Alle waren damit einverstanden, der Präsident stimmte sogar der Abhaltung vorgezogener Wahlen zu. Zu diesem Zeitpunkt sagte man uns auf Veranlassung der Vereinigten Staaten von Amerika: 'Wir ersuchen Sie, Präsident Janukowytsch vom Einsatz seiner Streitkräfte abzuhalten.' Dafür versprachen sie ihrerseits, alles in ihrer Macht stehende zu tun, um die Opposition von den öffentlichen Plätzen und Verwaltungsgebäuden fernzuhalten. Wir antworteten: 'In Ordnung, das ist ein guter Vorschlag, wir werden unser Bestes tun.' Und wie Sie wissen, hat Präsident Janukowytsch nicht auf die Streitkräfte zurückgegriffen. Aber schon am nächsten Tag fand der Staatsstreich statt, mitten in der Nacht. Es gab kein Telefonat, man rief uns nicht an – wir mussten einfach zusehen, wie sie [die Amerikaner] die Verursacher des Staatsstreichs aktiv unterstützten. Und wir konnten nur die Achseln zucken. Ein Verhalten, wie es die Amerikaner hier an den Tag legten, ist selbst unter Privatpersonen völlig inakzeptabel. Sie hätten uns zumindest danach mitteilen können, dass die Situation außer Kontrolle geraten war. Sie hätten uns versichern können, dass sie alles tun würden, um die Putschisten wieder auf einen verfassungskonformen Weg zu bringen. Aber das alles haben sie nicht getan. Stattdessen fingen sie an, Lügen zu erzählen, wie zum Beispiel die von der Flucht Janukowytschs. Und sie unterstützten die Putschisten. Wie können wir solchen Partnern trauen?“ (323f.)

Appelle zur Zusammenarbeit

Kritische Bemerkungen der gerade zitierten Art sind in den „Putin-Interviews“ seltene Ausnahmen. Eindeutig im Vordergrund stehen Appelle zur gleichberechtigten Zusammenarbeit. Gefühlt auf jeder dritten Seite formuliert Putin solche Angebote an seine „amerikanischen Partner“. Manchmal kommen sie fast Beschwörungen gleich. Einige Beispiele:

Putin sagt, es sei „wichtig, ein einseitiges Handeln zu verhindern“. Man solle „gemeinsam“ an den Problemen arbeiten, natürlich „gleichberechtigt“, man solle „kooperieren“, um „einen sehr viel stabileren Zustand [zu] schaffen“ sowie „die Welt für alle sicherer [zu] machen“. (110) Es gebe immer einen Wettbewerb zwischen den großen Mächten um die globale Führungsrolle – jedoch: „Mir wäre es sehr recht, wenn dabei auch der gesunde Menschenverstand eine Rolle spielte.“ (122)

China, so Stone, habe klargestellt, dass es eine direkte Konfrontation mit den USA vermeiden will. Darauf Putin: „Und das ist gut. Genauso soll es sein. Auch wir wollen Konfrontationen vermeiden. Wir wollen keine Konfrontation mit den Vereinigten Staaten, weil wir eigene Probleme haben, um die wir uns kümmern müssen.“ (123) Und weiter: „Russland braucht keine flächenmäßige Ausdehnung. Unser Land hat ein gewaltiges Territorium, das größte der Welt. Wir haben ungeheuer viele Bodenschätze und wunderbare Menschen. Wir haben ein profundes System zur Entwicklung und Renovierung unseres Landes. Jede Art Konflikt würde uns nur von diesem strategischen Ziel ablenken.“ (123)

Russland und die USA müssten „gleichberechtigte Beziehungen (…) und einen Zustand gegenseitigen Respekts“ etablieren. (123) Ausgewogene Entscheidungen ließen sich nur treffen, wenn es einen „Dialog auf gleichberechtigter Basis mit gebührender Berücksichtigung beiderseitiger Interessen“ gebe. (132) Die wichtigsten Fragen müssten „in gegenseitigem Einverständnis beantworte[t] werden“. (134) Russland sei „in fast jedem Bereich gesprächsbereit“. (155) Es sei falsch, eine mögliche „Regierungszusammenarbeit und zwischenstaatliche Beziehungen auf dem Altar kurzfristiger politischer Überlegungen zu opfern“. (155)

Im Unterschied zu Stone, der als US-Bürger sein Land nach Herzenslust kritisieren könne, müsse sich Russland gegenüber den USA „sehr vorsichtig verhalten. Und wie unterschiedlich die Ansichten auch sein mögen, so sehr müssen wir uns doch an bestimmte Regeln halten. Ansonsten ließen sich keine zwischenstaatlichen Beziehungen aufbauen.“ (136) „Sie [Stone, U.T.] sind ein Mann des Friedens. Für Sie ist das einfach. Ich bin pro-russisch. Für mich ist das alles schon viel schwieriger.“ (137)

Zu den Raketenabwehrsystemen in Osteuropa habe Russland den USA mehrfach Alternativen und Kooperationsszenarien vorgeschlagen. „Es gab einen Moment, als wir glaubten, unsere amerikanischen Partner würden tatsächlich über eine Umsetzung unserer Vorschläge nachdenken. (…) Ich unterhielt mich mit George W. Bush in seinem Haus außerhalb der Stadt und erörterte ihm unsere Vorschläge näher. 'Ja, das klingt sehr interessant', sagte er damals. Aber mehr kam nicht dabei heraus.“ (157) „Unsere Partner sind einfach nicht bereit, in einer so sensiblen Angelegenheit zusammenzuarbeiten.“ (158) So bleibe Russland nichts anderes übrig, als Gegenmaßnahmen zu ergreifen, also seine Raketensysteme auf die Militäranlagen zu richten. Die Folgen seien unerfreulich, die Lage werde immer angespannter. „Wer braucht das schon, wozu soll das gut sein?“ (106) Einem heißen Krieg zwischen den USA und Russland werde niemand überleben. (108)

Putin ist überzeugt, es herrsche gegenüber Russland „ein genereller Mangel an Verständnis“ (161). Statt „langfristige Beziehungen zu Russland aufzubauen“ (162), behandelten die USA sein Land immer noch so, als wäre es „ihr größter geopolitischer Konkurrent“. Viele Felder, auf denen eine Kooperation für beide Seiten, ja für die ganze Welt fruchtbar sein könnte, blieben so unbearbeitet. (161)

Differenzen sollten „in Form eines Dialogs“ (165) geklärt werden. Es gelte, „zu einem neuen Paradigma überzugehen, einer neuen Philosophie der zwischenstaatlichen Beziehungen. (…) Und dieses Paradigma sollte auf der Achtung vor den Interessen anderer Länder und vor der Souveränität anderer Völker aufbauen.“ (165) Er hoffe, nach der Wahl eines neuen amerikanischen Präsidenten [gemeint ist Trump, U.T.] einen „positiven Paradigmenwechsel“ herbeiführen zu können. (168)

Weitere Appelle zur Zusammenarbeit

Auch die Probleme in Syrien müssten gemeinsam mit den USA angegangen werden, man müsse „an einem Strang ziehen“, davon sei er „zutiefst überzeugt“. (190) „Wir wünschen uns einen konstruktiven, professionellen Dialog mit den Vereinigten Staaten, in dem auch unser Standpunkt Gehör findet.“ (295) Man könne nur Fortschritte erzielen, „indem man einen normalen, positiven und konstruktiven Dialog aufnimmt, in dem sich alle bemühen, Lösungen für die offenen Fragen zu finden“. (310)

Eine neue Blockbildung nach Art des ersten Kalten Kriegs hält Putin für kontraproduktiv. „Stattdessen sollten die Staaten in Sicherheitsfragen auf internationaler Basis und gleichberechtigt zusammenarbeiten können.“ (211) Es gelte, „die Rechtsstellung der Charta der Vereinten Nationen, des internationalen Rechts“ zu stärken. Die internationale Gemeinschaft müsse sich „koordinieren“ und „zu Kompromissen (…) gelangen“. (202) Militärmanöver brauche niemand, viel wichtiger sei eine „Atmosphäre des Vertrauens“. (212)

Anders als die USA, die Satellitenstaaten gegen eine äußere Bedrohung um sich scharten und sich in einer „Konfrontation“ sähen, folge Russland einer „umfassendere[n] Betrachtungsweise“: „Wenn man 25 Jahre in die Zukunft blickt und darüber nachdenkt, wie die Weltlage sich weiterentwickeln wird, dann muss man seine Philosophie und den Ansatz, den man in Bezug auf internationale Beziehungen verfolgt, einfach ändern.“ (237) Es werde sich schon „bald als notwendig erweisen, eine neue Qualität von Beziehungen aufzubauen, die auf dem Respekt voreinander, vor den politischen Partnern, deren Interessen und deren Souveränität gründen“. (164)

Putin erinnert an den Kampf zwischen Rom und Karthago. Wie segensreich hätte es für die damalige Welt sein können, wenn die beiden Mächte kooperiert hätten statt sich zu bekämpfen! (287f.) Im Verhältnis zwischen Russland und den USA habe es fruchtbare Phasen der Zusammenarbeit gegeben; daran könne man anknüpfen:

„... derzeit stehen wir gemeinsamen Bedrohungen wie dem internationalen Terrorismus gegenüber. Wir sollten die weltweite Armut bekämpfen und etwas gegen die Umweltzerstörung tun, die die gesamte Menschheit bedroht. Dazu kommt noch, dass wir insgesamt derart viele Atomwaffen angehäuft haben, dass auch dadurch eine globale Bedrohung entstanden ist. Für uns alle wäre es gut, darüber einmal intensiv nachzudenken. Es gibt viele Probleme, die einer Lösung bedürfen.“ (288, ebenso 154)

Die US-Strategie

Welche Ereignisse und Entwicklungen der letzten zwei bis drei Jahrzehnte haben die Beziehungen zwischen Russland und den USA (beziehungsweise dem Westen generell) verschlechtert? Putin und Stone fällt die Antwort nicht schwer: die NATO-Osterweiterung, der Aufbau eines Raketenabwehrsystems nahe der russischen Westgrenze, das Ende des ABM-Vertrags, der Irak-Krieg, die Unterstützung der USA für terroristische Gruppen im Kaukasus (Putin behauptet mehrfach, dies sei der Fall gewesen), der Georgien-Krieg (die USA sahen in Russland den Aggressor), der Umbruch in Kiew, der Krieg im Donbass, das vom Westen als Annexion bewertete russische Vorgehen auf der Krim, das Snowden-Asyl.

Die angespannten Beziehungen zwischen Moskau und Washington führen Stone zu der Frage, welche Gesamtstrategie die USA weltweit verfolgen. Putin hält sich zunächst bedeckt und scherzt: „Ich werde offen und ehrlich auf diese Frage antworten, in allen Einzelheiten – aber erst, wenn ich in Rente bin.“ (153) Stone versucht sich dann selbst an einer Antwort, die erstaunlich aktuell anmutet:

„Ich könnte zum Beispiel sagen (…), dass die derzeitige amerikanische Strategie eine Zerstörung der russischen Wirtschaft vorsieht. Man will Russland in die Knie zwingen, es wirtschaftlich auf das Niveau der 1990er-Jahre zurückwerfen und seine politische Führung austauschen. Man will Ihr Land zu einem neuen Verbündeten der Vereinigten Staaten machen, den man im Grunde genauso dominieren kann wie früher. Vielleicht hat man auch den Eindruck, nicht weit genug gegangen zu sein, weil man Ihnen Ihr Waffenarsenal nicht abgenommen hat.“ (153)

Putin hält das für „durchaus vorstellbar“ (153), will nicht ausschließen, dass die USA tatsächlich versuchen, Russland zu einem „Vasallen“- oder „Satellitenstaat“ zu degradieren (153f.), vertieft den Gedanken an dieser Stelle aber nicht weiter, sondern wechselt unvermittelt auf die normative Ebene und wiederholt sein Credo, es sei viel sinnvoller, in die Zukunft zu denken und die Beziehungen auf eine andere, auf eine neue Grundlage zu stellen. Einige Seiten später wagt er sich dann doch aus der Deckung – es ist dies eine der ganz wenigen extrem US-kritischen Äußerungen der Gespräche: „Die herrschende Klasse [der USA, U.T.] ist davon überzeugt, Russland bekämpfen, einschränken und in seiner Entwicklung behindern zu müssen. Gehirnwäsche ist mit Sicherheit eines der Werkzeuge, mit denen das nötige politische Umfeld zum Erreichen dieser Ziele geschaffen wird.“ (168)

Wozu dient das Feindbild Russland?

Ganz unmissverständlich argumentiert Putin bei der Frage, ob die USA auf Russland als äußeren Feind angewiesen seien, damit sie ihr euro-atlantisches Lager kontrollieren und disziplinieren können. „Das stimmt hundertprozentig, das weiß ich und spüre es. Ohne diese innere Disziplin fällt die euro-atlantische Sache auseinander.“ (99)

Putin konzentriert sich beinahe vollständig auf das Verhältnis zwischen Russland und den USA, äußert sich kaum zu den europäischen Ländern (sieht man von der Ukraine ab). Das mag dem Umstand geschuldet sein, dass die Gespräche primär für ein US-amerikanisches Publikum geführt wurden. Es liegt aber auch daran, dass Putin die europäischen Mächte weit weniger ernst nimmt und ihnen den Willen zur Eigenständigkeit und Souveränität abspricht. „Heute ist die NATO (…) nicht mehr als ein außenpolitisches Instrument der Vereinigten Staaten. Die USA haben in ihr keine Bündnispartner, sondern nur Vasallen.“ (59) Und auch hier spielt die Notwendigkeit eines äußeren Feindes wieder eine zentrale Rolle: „Für mich ist die NATO ein Restorganismus, der aus Zeiten des Kalten Kriegs übrig geblieben ist. (…) In letzter Zeit habe ich den Eindruck, dass die NATO dauernd nach einem äußeren Feind sucht, um ihre Existenz zu rechtfertigen. Darum kommt es auch immer wieder zu Provokationen, um jemanden als Gegner hinstellen zu können.“ (210f.)

Einer der Hauptvorwürfe gegen die russische Außenpolitik besagt, sie wolle den Westen spalten. Glaubt man den gerade zitierten Äußerungen Putins, dann wären diese Spaltungsbemühungen, so es sie denn tatsächlich gibt, eher defensiver Natur, dienten also dem Zweck, das westliche „Feinbild Russland“ zu konterkarieren oder aufzuweichen.

Russland und die Ukraine

Putins Ausführungen zum Konflikt in und mit der Ukraine nehmen breiten Raum ein, können aber hier vergleichsweise knapp resümiert werden, weil sie kaum über die bekannte offiziöse russische Position hinausgehen. Neben allgemeinen Bemerkungen zur Entwicklung der Ukraine in post-sowjetischer Zeit rekonstruiert Putin die Ereignisse der Jahre 2013/14 aus russischer Sicht. Die Maidan-Proteste hatten im Februar 2014 zu Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition unter Beteiligung westlicher Außenminister geführt, in denen, so Putin, ein vernünftiger Kompromiss erzielt worden sei; u.a. wurden vorgezogene Neuwahlen vereinbart. Dennoch sei es nur einen Tag später zu einem gewaltsamen Staatsstreich gekommen. Putin kommt mehrfach darauf zu sprechen, und jedes Mal demonstriert er seine Rat- und Fassungslosigkeit angesichts dieses Vorgangs:

„…da stellt sich doch die Frage, wozu der Staatsstreich überhaupt notwendig war. Warum musste man dieses Land in Chaos und Bürgerkrieg stürzen? Was war der Sinn dahinter?“ (90) Und: „Warum war dann also dieser Staatsstreich notwendig? Das kann ich nicht begreifen.“ (256) Und: „Wozu hatten sie das alles nötig? Ich kann es mir einfach nicht erklären.“ (259) Und: „Ich frage mich bis heute, warum sie das eigentlich tun mussten, weil es doch der erste Schritt zu einer weiteren Destabilisierung des Landes war.“ (328)

Neben dem Rückblick auf den Staatsstreich findet sich zum ukrainisch-russischen Verhältnis ein bemerkenswertes Statement, das auf den ersten Blick wenig bedrohlich erscheint, vor dem Hintergrund des gerade tobenden Kriegs allerdings einen anderen Klang gewinnt:

„Russland ist ein autarkes Land. Wir brauchen niemanden, aber zur Ukraine bestehen Tausende Verbindungen. Ich habe das schon oft gesagt und wiederhole es auch jetzt noch einmal: Ich bin zutiefst überzeugt, dass das ukrainische und das russische Volk nicht nur eng miteinander verwandt, sondern fast identisch sind. Natürlich muss man die unterschiedliche Sprache, Kultur und Geschichte respektieren. Wir brachten der Ukraine auch Respekt entgegen, als wir noch ein und dasselbe Land waren. Und es sagt wohl einiges aus, dass die Sowjetunion jahrzehntelang von Persönlichkeiten gelenkt wurde, die aus der Ukraine stammten. Das beweist wirklich schon sehr viel.“ (259f.)

Die Interessen der USA an und in der Ukraine

Putin wirft den USA vor, diese ukrainisch-russische Affinität beziehungsweise Fast-Identität systematisch zu hintertreiben. Es ist dies sein vielleicht härtester Vorwurf gegen die „amerikanischen Partner“:

„Die Philosophie der amerikanischen Außenpolitik in dieser Region [Ukraine, U.T.] beruht einzig und allein auf der Notwendigkeit, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln eine Zusammenarbeit zwischen der Ukraine und Russland zu verhindern. Dessen bin ich mir völlig sicher. Die USA betrachten jede Annäherung zwischen unseren beiden Ländern als Provokation, weil sie fürchten, dass Russland dadurch an Macht gewinnen könnte. Deswegen tun sie alles, um eine solche Annäherung zu sabotieren. Ich bin der Meinung, dass die Ereignisse rund um die Ukraine von dieser Ideologie herrühren – und nicht etwa daher, dass man dem ukrainischen Volk die Freiheit bringen wollte. Unsere Partner in den Vereinigten Staaten und Europa handelten nur aus dieser Angst heraus. Sie unterstützten radikale nationalistische Elemente in der Ukraine, um in den Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine eine Spaltung herbeizuführen, eine tiefe Kluft zu erzeugen.“ (236f.)

Keine Konfrontation mit den USA, keine militärische Lösung

Die weiteren, sich direkt anschließenden Überlegungen Putins sind von höchster Relevanz, weil von brennender Aktualität. Er versichert, Russland werde sich nicht auf eine Konfrontation mit den USA einlassen, weil es – und auch an dieser Stelle wiederholt er sein schon bekanntes Credo – von einer anderen Philosophie der internationalen Beziehungen beseelt sei. Zudem sei es unklug, sich konfrontativ zu verhalten:

„Würde Russland auf diese Provokation reagieren, dann könnte man es problemlos dämonisieren und aller möglichen Todsünden bezichtigen. Und plötzlich hätte der Westen wieder einen sichtbaren Gegner und könnte Verbündete auf seine Seite ziehen. Unter diesem Gesichtspunkt haben die Hintermänner ihre Ziele erreicht und dabei geradezu perfekt agiert.“ (237)

Zumindest hätten sie, die Hintermänner, „einen gewissen taktischen Erfolg erzielt“ (164) insofern, als es ihnen durch das Auslösen der Ukraine-Krise gelungen sei, Russland in einem negativen Licht erscheinen zu lassen.

„Russland wird heute von vielen wieder als Feind und potenzieller Angreifer betrachtet. Und sie haben uns dazu gebracht, auf ihre Handlungen zu reagieren. Dennoch wird wahrscheinlich bald jeder erkennen, dass Russland keine wie auch immer geartete Bedrohung darstellt – weder für die baltischen Staaten noch für Ost- oder Westeuropa. Je größer das Missverständnis ist, desto stärker wird in diesen Ländern auch der Wunsch nach einer Bewahrung der eigenen Souveränität und einem Eintreten für die nationalstaatlichen Interessen des jeweiligen Landes werden.“ (164f.)

Mit einer seiner Ukraine-Fragen nimmt Oliver Stone die sich seit 2021/22 entwickelnde Konstellation vorweg und bringt Putin zu bemerkenswerten Aussagen. Stone fragt, ob Putin bereit wäre, für die Ukraine in den Krieg zu ziehen. „Das wäre das Worst-Case-Szenario“, antwortet dieser. (111) Stone hakt nach: Wenn die USA noch mehr Waffen an die Ukraine lieferten und die Kiewer Regierung im Donbass immer aggressiver agiere, würden die Russen zwangsläufig den Kampf aufnehmen müssen – die Folge wäre ein größerer Konflikt. Obwohl Putin bei vielen Gelegenheiten – wie schon erwähnt – betont hatte, dass Russland eine solche Eskalation „nicht zulassen“ beziehungsweise „nicht erlauben“ werde, antwortet er nunmehr mit größter Zurückhaltung und trifft grundsätzliche Einschätzungen und Feststellungen:

„Ich glaube nicht, dass sich etwas Gravierendes ändern wird. Darüber habe ich auch mit unseren amerikanischen Partnern gesprochen. Es würde nur mehr Opfer geben, aber das Fazit wäre kein anderes als heute. Konflikte dieser Art, also Konflikte wie im Donbass, lassen sich nicht mit Waffen lösen. Da muss es schon direkte Gespräche geben. Und warum sollte man damit noch länger warten? Je früher unsere Freunde in Kiew das begreifen, desto besser. Doch die westlichen Länder – also Europa und die Vereinigten Staaten – müssen die Machthaber in Kiew dabei unterstützen, diese Realität zu sehen.“ (112)

Angesichts dieser Grundhaltung ist es folgerichtig, dass sich Putin in den Gesprächen mit Oliver Stone immer wieder zu den Vereinbarungen von Minsk bekennt. (92-94, 213f., 266) Sie seien der einzig gangbare Weg aus der Krise. Zum damaligen Zeitpunkt schien Putin tatsächlich noch darauf zu vertrauen, dass „Minsk II“ früher oder später umgesetzt würde.

Bilanz

Wladimir Putin präsentiert sich in den Interviews mit Oliver Stone als kompetenter, nüchterner, rationaler, berechenbarer, problembewusster, kompromissbereiter, friedens- und verständigungsorientierter Staatsmann. Er begreift sich als Anwalt einer gedeihlichen inneren Entwicklung Russlands und als Verfechter seiner nationalen Interessen. Er möchte seinem Land insbesondere im Verhältnis zu den USA Respekt und Anerkennung verschaffen, hegt aber keinerlei aggressive oder gar imperiale Ambitionen. Kurzum: Ein reflektierter, vergleichsweise vernünftiger Politiker – so könnte und konnte man meinen.

Das letzte Interview Oliver Stones mit Putin wurde im Februar 2017 geführt, liegt also erst sechs Jahre zurück. Doch der Wladimir Putin von heute beziehungsweise seit Februar 2022 ist ein erkennbar anderer als derjenige der Interviews. Er hat sich von vielen Überzeugungen und Einsichten, die er gegenüber Stone vertrat, offenbar gelöst.

Hatte Oliver Stone seinen Gesprächspartner noch voller Anerkennung als „kühl und besonnen“ beschrieben, so erlebte man insbesondere zu Beginn des Ukraine-Kriegs einen hoch emotionalen und nervlich angespannten Putin.

Sang Putin gegenüber Stone noch das Hohelied der Flexibilität, verfolgt er nun – als Kriegsherr – einen außerordentlich rigiden Kurs. Seine Mahnung, man dürfe andere Staaten oder Politiker nicht in eine Sackgasse treiben, ist obsolet geworden. Denn genau das, die Sackgasse, ist das gegenüber der Ukraine verfolgte russische Kriegsziel.

Das von Putin beschworene Prinzip der Nichteinmischung in anderer Länder Angelegenheiten ist aufgegeben worden. Das ursprüngliche Ziel von Russlands „militärischer Spezialoperation“ war ganz offenkundig ein Regimewechsel in Kiew. Nunmehr überzieht Russland die Ukraine mit Krieg, obwohl Putin in den Interviews militärische Gewalt grundsätzlich skeptisch beurteilt und sie im Fall der Ukraine als Problemlöser kategorisch ausgeschlossen hatte.

Russland stelle für niemanden in Europa eine Bedrohung dar, hatte Putin gesagt. Auch dies sehen viele ost- und mitteleuropäische Länder spätestens seit dem Februar 2022 anders.

Obwohl Putin in den Interviews versichert hatte, sein Land hege keinerlei imperiale Ambitionen, erhebe keine Gebietsansprüche, hat Russland Territorien im Osten der Ukraine in einem völkerrechtswidrigen Verfahren annektiert. Zudem ist die militärische Gewalt Russlands als solche völkerrechtswidrig – auch dies ein wichtiger Aspekt angesichts der Tatsache, dass Putin in seinen Gesprächen mit Stone noch großen Wert auf die UNO-Charta und das internationale Recht gelegt hatte.

Aus der anfänglich vielleicht tatsächlich als begrenzte „militärische Spezialoperation“ gedachten Intervention ist binnen kurzer Zeit ein mit voller Härte (und unter Einschluss schwerer Kriegsverbrechen auf beiden Seiten) geführter Krieg geworden, unter dem vor allem Menschen eines Landes leiden, das Putin als „fast identisch“ mit Russland beschrieben hatte. Den USA hatte Putin vorgehalten, sie würden alles Erdenkliche unternehmen, um Russen und Ukrainer zu entzweien. Es ist durchaus möglich, dass der russische Krieg diese Entzweiung vollendet und – zumindest auf absehbare Zeit – unumkehrbar macht.

Die Minsker Vereinbarungen, die Putin immer als Königsweg zu einer Problemlösung betrachtet hatte, sind aktuell nur noch von historischem Interesse. Hatte sich Putin in den Stone-Interviews noch als unbeirrbarer Freund der Diplomatie gegeben, ist jetzt – zumindest in Richtung Westen – das Gegenteil der Fall.

Was Russland nach Putins Worten unter allen Umständen hätte vermeiden sollen, genau das tut es jetzt: Es lässt sich auf eine direkte Konfrontation mit dem Westen, insbesondere den USA, ein; es schlägt scharfe Töne an; und es droht – sogar mit Nuklearwaffen.

Man dürfe sich nicht provozieren lassen, hatte Putin erklärt. Nun hat er es doch getan und nimmt alle Folgen in Kauf, die er für diesen Fall treffsicher vorhergesagt hatte: dass der Westen Russland (und natürlich ihn selbst) in bislang ungekannter Weise dämonisieren werde; und dass die Amerikaner wieder einen eindeutigen Gegner haben würden, ein klares Feindbild, das ihnen hilft, ihr eigenes Bündnis zusammenzuhalten, zu stabilisieren und sogar weiter auszudehnen. Die Bündnisbildung, vor der Putin gewarnt und die er als Relikt des Kalten Kriegs bezeichnet hatte, wird derweil auch von Russland selbst vorangetrieben.

Putins guter Vorsatz, sich auf die inneren Probleme seines Landes konzentrieren zu wollen, ist passé. Russland wehrt sich zwar bislang nicht ohne Erfolg gegen ein weitreichendes westliches Sanktionsregime. Aber man wird kaum behaupten können, dass der Ukraine-Krieg den sozialen, ökonomischen, technologischen und ökologischen Fortschritt in Russland vorangetrieben oder dem Land gar einen Liberalisierungsschub beschert hätte. Im Gegenteil, die Repression ist stärker geworden, viele Menschen – oft junge und gut ausgebildete – resignieren und verlassen ihre Heimat.

Ausblick

Wie kann man die soeben herausgearbeitete Diskrepanz erklären? Eine mögliche Antwort: Putin hat sich gar nicht verändert. Er hat vielmehr den Westen seit langem systematisch getäuscht und belogen (inklusive seinen ihm gewogenen Gesprächspartner Oliver Stone). In Wahrheit ist er „schon immer so gewesen“ und lässt jetzt bloß die Maske fallen, zeigt also sein wahres Gesicht.

Mit dieser Deutung machte man es sich meines Erachtens allerdings entschieden zu einfach. Es ist aus meiner Sicht viel wahrscheinlicher, dass sich in den vergangenen fünf bis sechs Jahren eine durch äußere Umstände hervorgerufene Wandlung vollzogen hat. Am Ende dieses Wandlungsprozesses standen – wie ich in dem angekündigten zweiten Artikel zum Thema näher erläutern werde – einige langsam gereifte und rationale, einige eher spontane und emotionale Entscheidungen, mit denen Putin deutlich von den Maximen abwich, die er im Interview mit Oliver Stone vorgetragen hatte. Diese Entscheidungen wiederum zeitigten sowohl beabsichtigte als auch unbeabsichtigte und nicht vorhersehbare Folgen, die zusammenflossen und schließlich in jene gefährliche und scheinbar ausweglose Kriegs- und Krisen-Konstellation mündeten, der wir uns heute ausgesetzt sehen.

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Diskussion

20 Kommentare
JAMES B., 26. März 2023, 01:15 UHR

Danke für den Kern der Rekapitulation der Putin-Interviews, lieber Ulrich Teusch. Die Hülle ist jedoch Kaffeesatzleserei, eher schlechte noch dazu.

Wer entscheidet denn, was völkerrechtswidrig ist? (Die Wiederholungen wirken wie ein Disclaimer, um von bestimmten Leuten nicht ganz als "Putin-Versteher" oder noch schlimmer stigmatisiert zu werden...) Hat die Welt mit den USA nicht den Lehrmeister völkerrechtswidriger Eingriffe in anderer Staaten Souveränität?

Wo treibt Russland die Ukraine in die Sackgasse? War es qua Vorgeschichte nicht vielmehr die USA (mit der EU)? Im vorigen März wies Boris Johnson Zelenskyy persönlich an, die Friedensverhandlungen in Istanbul abzubrechen. Heute kommen die Anweisungen direkt aus Washingtoner Pressekonferenzen, noch ehe die Verhandlungen aufgrund der chinesischen Initiative überhaupt beginnen könnten. Richtig, Russland könnte jederzeit die Waffen ruhen lassen und abziehen, so ist das Privileg des dominierenden Akteurs. Aber auch Kiew könnte sofort den chinesischen Vorschlägen zustimmen. Doch dann wäre das Lieblingshobby von Washington und Brüssel futsch.

Ich greife dem zweiten Teil vor, wahrscheinlich anders als UT und deutlich kürzer: Putin ist jetzt völlig illusionsbefreit. Er und sein chinesischer Kollege Xi können sich mit Popcorn zurücklehnen und weiter zusehen, wie der Westen seine selbstverschuldeten Fehler verschärft: Krachendes Scheitern der Sanktionen, Inflation, Energiekrise, Wirtschaftskrise, Bankenkrise. (Alles Feindpropaganda, ich weiß ...)

Nach der Zeitenwende ist vor der Zeitenwende, und im Westen wird man sich vom mit der Muttermilch aufgesogenen Duktus verabschieden müssen, inter pares müsse es immer einen Primus geben — völlig unvorstellbar, daher der Mainstream-Gleichklang vom "Juniorpartner". Ebenso das institutionalisierte Mantra, in der russischen Politik könne es keine Kontinuität geben, und das Paradies der plünderbaren "Gas Station with Nukes" komme wieder, sobald Putin bloß erledigt ist.

HELENE BELLIS, 26. März 2023, 10:10 UHR

Vielen Dank für den sehr interessanten Artikel und die stellenweise Einsicht in diese sicherlich hörenswerten Interviews/Gespräche zwischen Putin und Stone.

Lustigerweise war ich früher von Putin nie besonders begeistert, kann ihn in letzter Zeit dafür um so mehr und besser verstehen. Wenn man von außen immer auf den Deckel bekommt und die Gegenseite sich so gut wie nie an die Regeln hält, dann verliert man (und zwar schlußendlich so gut wie alles), wenn man sich nicht irgendwann auf die Hinterbeine stellt und im Zweifelsfall auch drastische Maßnahmen ergreift – das tut man dann quasi erzwungenermaßen. Da kann man noch so sehr eigentlich auf Diplomatie und Ehrlichkeit und Intelligenz setzen: wenn die anderen das nicht anerkennen und für sich die egoistische Haudrauf-Methode verwenden, nützen einem all diese Tugenden leider gar nichts.

Dies ist mir aus meinem persönlichen Leben schon lange ein Fazit, und eigentlich hätte ich gedacht, daß diese wirklich miese Art und Weise, mit Menschen (oder eben auch Staaten) umzugehen, sich allen kritischen Geistern in den letzten drei Jahren hätte darlegen sollen. Ist denn in der Coronazeit nicht u. a. genau das passiert? Daß Menschen, die man eigentlich hätte schützen sollen, denen man Versprechungen gemacht bzw. denen gegenüber man durch Gesetze, Verträge und anderes verpflichtet war, sie angemessen und freiheitlich zu behandeln – daß man diese Menschen unterdrückt, belogen und mißbraucht und sich um ihre Rechte einen feuchten Kehricht geschert hat? Und soll man da als Unterdrückter, Belogener und Mißbrauchter tatsächlich so lange warten, bis man ganz vernichtet ist?! Ist die Art und Weise, wie von außen mit Rußland umgegangen wird und ganz besonders, wie die Ukrainesituation aufgebaut wurde, nicht mindestens genauso gefährlich und verlogen?

Ob das in der Ukraine nun ein Angriffskrieg war oder nicht, will ich hier mal dahingestellt sein lassen. Klar ist aber sicherlich, daß die USA sich deutlich öfters und deutlich radikaler in ähnlichen Situationen befunden haben und dort eher nicht darauf verweisen konnten, daß es ihnen um amerikanische oder amerikanischstämmige Bürger ging, für die sie Partei ergreifen wollten. Warum ist es also so besonders schlimm, wenn Putin/Rußland nun diesen Krieg führt? Ist es Ihre Enttäuschung über diese Entwicklung (von diplomatisch/friedliebend zu »kriegerisch«), Herr Teusch, die Sie so extrem tadelnd werden läßt? Mir fehlt hier ein bißchen das Verständnis dafür, daß jemand, auch ein Staatsmann, irgendwann nicht mehr dagegenhalten kann und sich auf das »Spiel« der anderen einlassen muß. Im übrigen hat Putin sich m. E. auch gar nicht widersprochen. Sie schreiben:

Nunmehr überzieht Russland die Ukraine mit Krieg, obwohl Putin in den Interviews militärische Gewalt grundsätzlich skeptisch beurteilt und sie im Fall der Ukraine als Problemlöser kategorisch ausgeschlossen hatte.

wohingegen Putin folgendermaßen zitiert wurde:

Stone fragt, ob Putin bereit wäre, für die Ukraine in den Krieg zu ziehen. „Das wäre das Worst-Case-Szenario“, antwortet dieser.

Ein Worst-Case-Szenario ist nichts, das man kategorisch ausschließt, aber eben nur als letzte Maßnahme durchführen möchte.

Noch mal kurz zu den Interviews: auch wenn ich denke, daß Putin dort im großen und ganzen ehrlich war, so war er doch sicherlich auch Diplomat genug, nur stellenweise deutlich kritisch zu werden. Mit einem anderen Tenor hätte er allerdings nur die Hörer, respektive die USA, gegen sich aufgebracht, und das hätte, wie er so oder ähnlich ja auch sagt, zu nichts geführt, weil es einfach sinnvoll ist, miteinander und nicht gegeneinander auf dieser Welt zu leben. Auch wenn man unterschiedlicher Ansicht sein mag, wie dieses Leben aussehen soll.

Noch einmal weise ich hier gerne auf die Coronasituation hin: haben die Kritiker nicht genau das auch versucht? Friedlich zu bleiben, sich an die geltenden Gesetze zu halten, weiterhin an die verbriefte Freiheit zu glauben? Und war der Staat, waren die EU und die WHO, waren viele Mitmenschen nicht bereit, ihnen nicht gleichwertig, sondern unterdrückend und tyrannisch entgegenzutreten? Wie hieß es vor vielen Jahrzehnten doch noch so schön?

Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht.

Und bedauerlicherweise ist es nicht immer möglich, sich friedlich zu wehren. So ähnlich sehe ich auch die Situation mit Putin und der Ukraine. Aber ich könnte mich irren, und außerdem, Herr Teusch, haben Sie noch einen zweiten Teil versprochen, in dem Sie dieses Thema vielleicht aufnehmen und relativieren. Ich lasse mich mal überraschen.

FRANK BERNERS, 26. März 2023, 15:40 UHR

Chapeau, Frau Bellis!
Auf den Punkt gebracht, die richtigen Fragen gestellt - und ich bin gespannt, ob es eine befriedigende Antwort von UT geben wird.

MEINENSTEIN, 26. März 2023, 12:20 UHR

Frage mich wirklich, was die Intention dieses Artikels sein soll. Sehe da eher eine private Denkveranstaltung, die m.E. jedoch keinen Beitrag in einer Diskussion zum Verständnis der Welt im Hier und Jetzt beitragen kann. Es liest sich für mich so, als suche Mensch da das Haar in der Suppe gemäß dem Motto: Ist denn an der Feindbildinszenierung der westlichen Wertegemeinschaft nicht doch vielleicht etwas Wahres dran?!

Vor dem Hintergrund einer - seit Jahrzehnten tagtäglich zelebrierten - zum Himmel schreienden Diskrepanz zwischen dem was der Wertewesten erzählt, ausmalt und glaubt zu sein und dem, wie er tatsächlich handelt, erscheint der Versuch, Gleiches bei Putin zu entdecken, geradezu albern und kann eher als Verdrängungsmanöver interpretiert werden (Haltet den Dieb, er hat mein Messer im Rücken!) um nicht selbst in den Spiegel schauen zu müssen.

Ganz abgesehen davon, dass diese „Denkveranstaltung“ offensichtlich die Interaktion mit der Außenwelt, in der wir als Menschen und selbstverständlich auch die Politiker jeden Tag stehen, bzw. reagieren, vollständig ausblendet und somit rein theoretische Überlegungen anstellt unter der Annahme, dass in den letzten sechs Jahren die Verhältnisse im Außen gleichgeblieben sind!

Und was sollen da bitte schön die Maßstabsgrößen sein, mit denen da gemessen wird?! Wenn ich die Reden von Putin lese, die er in der jüngsten Vergangenheit / in den letzten Jahren zu den unterschiedlichsten Anlässen gehalten hat (warum kommen die eigentlich in dem Artikel nicht vor?) und auch die Aussagen, die hier im Artikel vorgestellt werden, dann suche ich in der westlichen Wertegemeinschaft vergebens nach Politikern, die auch nur annähernd das Format und Niveau eines Politikers haben wie Putin. Unsere kunterbunte Kika-Regierung und das heuchlerische Dummgequatsche des „Wertewestens“ ist ja geradezu ein Witz dagegen.

Das Titelfoto ist von hoher Qualität, das war es dann aber auch. Bezüglich des zu erwartenden zweiten Teils: kann mir gerade nur schwer vorstellen, dass es im weiteren Text dann wirklich anders wird.

A.F., 26. März 2023, 18:50 UHR

Wie meine Vorkommentatoren bin ich ziemlich verwundert über diese Wendung am Ende. Ich würde ja eher sagen, dass Putin und Russland in die Sackgasse getrieben wurden, auch schon mit diesem seit längerem laufenden Wirtschaftskrieg gegen Russland. Anders als die USA, die den Irakkrieg als präemptiven Krieg darstellten, versuchte Russland wirklich einem Angriff zuvor zu kommen, sei es auf sich als russisch verstehende Menschen an seiner Grenze, sei es durch irgendwelche Manöver an und über seine Grenzen.
https://www.freitag.de/autoren/ulrich-arnswald/praventiv-krieg-oder-praemptiv-krieg

Warum wohl wird Russland von US-Raketen, US-Stützpunkten und NATO-Staaten umzingelt und mit immer heftigeren Manövern an seinen Grenzen traktiert?! Es hatte die Wahl zwischen Pest und Cholera und wenn es seinerseits so agiert hätte, wie die USA in Libyen, dem Irak und Syrien, dann hätte es die Ukraine und Kiew kurz und klein gebombt. Auch die nach wie vor verhaltenen Reaktionen auf Provokationen jenseits der russischen Grenze zeigen, dass Putin und Russland nach wie vor das grauenhafteste Szenario eines 3. Weltkrieges zu vermeiden suchen.

Und welches Vertrauen soll eigentlich ein russischer Staatsmann in westliche Politiker haben, die reihenweise verkünden ihre jahrzehntelange Verständigungspolitik sei ein Fehler gewesen und gewisse Abkommen nur getroffen worden um letztlich in Ruhe den Krieg vorzubereiten. Ich frage mich eher, wie man angesichts solcher Tatsachen wie in verlinkten Artikel beschrieben, überhaupt sich noch auf das hohe Ross angeblich westlicher Werte setzen kann und warum nicht längst die USA der Paria-Staat sind, der sie wahrscheinlich in der Mehrheit der Völker der Erde auch sind.
https://www.freitag.de/produkt-der-woche/buch/die-jakarta-methode/die-jakarta-methode-bis-heute-praegend

Achja, noch ein kurzes Wort zu Churchill, meines Wissens gehört auch er zu den großen Menschheitsverbrechern, nicht etwa wegen des Bombenkrieges, sondern wegen der Kaltschnäuzigkeit gegenüber der indischen Hungerkatastrophe, die mehrere Zigmillionen Menschenleben forderte.


"Im Ausland Kriege, im Inland Massengräber
„Kein größerer Teil der Weltbevölkerung wurde so effektiv vor den Schrecken und Gefahren des Weltkrieges bewahrt wie die Völker von Hindustan. Sie wurden auf den Schultern unserer kleinen Insel durch den Kampf getragen“, befand Winston Churchill. Die Hungersnot in Bengalen geriet damit zu einem blinden Fleck in den Aufzeichnungen der kolonialen Moderne. Als die nationalen Entscheidungsträger Indiens den britischen Premier aufgrund des gravierenden Ausmaßes der Hungersnot bedrängten und um staatliche Hilfe zur Aufstockung der Nahrungsmittelvorräte baten, konterte dieser: „Warum ist Gandhi dann noch nicht gestorben?“

Churchill wollte Britisch-Indien umstrukturieren, um so Großbritanniens Machtposition in einer globalen Nachkriegsordnung zu stärken. Durch Intrigen der Kriegsallianz bereicherte sich seine Regierung weiter auf räuberische Weise am wirtschaftlichen Wohlstand und den Verteidigungsressourcen der Kolonie: Im Juni 1945 beliefen sich die britischen Schulden gegenüber Indien auf 1,292 Millionen Pfund. Während die Armee des Empire mit indischen Truppen anwuchs – beim Kriegseintritt Großbritanniens 1939 kämpften 131.000 indische Soldaten gegen Deutschland –, verlangte der Freiheitskämpfer Subhas Chandra Bose ein Ultimatum zur vollständigen Befreiung seines Landes und drängte seine Landsleute, sich um jeden Preis aus den Fängen der fremden Macht zu befreien. (...)

Inmitten dieses verwirrenden Szenarios sah sich ein unfreies Indien gezwungen, der Kolonialmacht durch den sich vom Nahen Osten nach Südostasien ausbreitenden Krieg beiseite zu stehen und zugleich brutalen Hunger auf heimischem Boden zu bekämpfen, da laufend Getreide und Waffen aus Kalkutta sowie Holz, Stahl, Eisenbahnwaggons und Zement aus anderen industrialisierten Städten außer Landes verfrachtet wurden. Die Textilfabriken in Bombay produzierten beispielsweise die Tarnuniformen und Fallschirme, die an die im Einsatz befindlichen Truppen gingen."

https://www.documenta14.de/de/south/888_so_viele_hunger_die_hungersnot_in_bengalen_1943_1944

Hierzu gibt es natürlich keinen Genozid-Beschluss des Bundestags.

ULRICH KARRASCH, 26. März 2023, 19:10 UHR

Danke für diesen informativen Artikel und vor allem für die Klagen Kommentare. Oskar Lafontaine sagte sehr zutreffend, dass Russland nun mal nicht mit einem Messer am Hals leben kann.

Was meine ich damit? U.T. hat ja die in Osteuropa stationierten US-Raketen schon thematisiert. Im Falle eines Nato-Beitritts der Ukraine - zusammen mit dem EU-Beitritt Staatsziele mit Verfassungsrang in der Ukraine - und nachfolgender Stationierung von US-Raketen im Osten des Landes würden sich die sogenannten Vorwarnzeiten bis zu einem Einschlag in Moskau gegenüber dem Ist-Zustand noch einmal signifikant reduzieren. Aber so schlimm ein Angriff auf Moskau auch wäre: in Wirklichkeit geht es um die Ausschaltung der Zweitschlags-Fähigkeit Russlands. Wer den Zweitschlag nicht mehr fürchten muss, der tut sich mit dem Erstschlag leichter. Damit würde Russland strategisch erpressbar werden. Das ist es, das Messer am Hals.

In der deutschen Debatte um die Kriegsursachen fehlt regelmäßig ein weiteres Stück der Geschichte. In einem Gesetz aus 2019 (?) hat die Ukraine die „Re-Integration der zeitweilig okkupierten Gebiete mit allen politischen, diplomatischen, wirtschaftlichen und militärischen Mitteln“ zum Staatsziel erklärt. Als am 19. Februar 2022 Zelensky in seinem Auftritt vor der Münchner „Sicherheitskonferenz“ in Aussicht stellte, dass die Ukraine sich nicht länger an das Budapester Memorandum gebunden fühlen könnte: standing ovations von der versammelten Atlantik-Brücke! Damit meinte Zelensky, die Ukraine könnte den Verzicht auf Atomwaffen aus 1994 rückgängig machen. Da mussten ja in Moskau alle Warnlampen aufleuchten: Zelensky plant die Rückeroberung der Krim mit Atomwaffen. Das ist es, das im Interview von Putin angesprochene „worst case scenario“.

Wir werfen den Staatsmedien vor, die Geschichte selektiv und damit manipulativ zu erzählen, missliebige Tatsachen werden unterschlagen. Wenn wir es genau so machen, z. B. um uns moralisch überlegen fühlen zu können, dann kommen wir nie irgendwo an.

Oder doch: im Krieg mit Russland.

RALLE, 26. März 2023, 19:20 UHR

„Putins Krieg ist und bleibt eindeutig völkerrechtswidrig.“ Nein, dieser Behauptung kann ich nicht zustimmen. https://seniora.org/politik-wirtschaft/putin-der-ukraine-krieg-und-das-voelkerrecht

„Aber ob diese (Anmerkung: multipolare) Ordnung einen manifesten Fortschritt mit Blick auf Frieden, Menschenrechte, Demokratie und soziale Gerechtigkeit bringen wird, darf man aus heutiger Sicht bezweifeln.“ Weshalb darf das bezweifelt werden? Momentan leben wir hier angeblich in einer „Regelbasierten“ Welt. Diese Regeln werden durch die USA aufgestellt und anderen Ländern aufgezwungen. Die USA selbst halten sich nur solange an ihre eigenen Regeln, solange sie davon profitieren. Ich akzeptiere deren Regeln nicht. Lieber Herr Teusch, fragen Sie doch mal das syrische Volk, oder das des Irak oder irgendein anderes, von den USA unterdrücktes Volk, ob Frieden, Menschenrechte und Demokratie durch diese US Regeln und die US Hegemonie gesichert sind? Schauen Sie sich doch mal in Deutschland um. Hier zerstören die Hasardeure in der Bundesregierung gerade unsere Wirtschaft. Das nur, um mit „völkerrechtswidrigen“ Sanktionen im US Interesse deren Hegemonie aufrecht zu halten. Nur von der UNO erstellte Sanktionen entsprechen dem Völkerrecht, alle anderen nicht.

Je schneller diese „regelbasierte“ Ordnung ihr Ende findet, wir in einer multipolaren Welt landen, desto besser auch für uns Deutsche. Erinnern Sie sich an die Welt vor 1990? Die USA konnte nicht schalten und walten, wie sie wollten (die Sowjetunion natürlich auch nicht). Man mußte Rücksicht nehmen, eine Menge bahnbrechender Friedensprozesse wurde auf den Weg gebracht (u.A. Gründung der KSZE). Was ist jetzt daraus geworden? Die KSZE heißt jetzt OSZE, Russland durfte nicht mal an der Konferenz teilnehmen, während die USA dort große Reden schwingen durfte (seit wann gehören die USA zu Europa)?

Wichtig in dem Interview von Putin fand ich auch diese Erkenntnis des Präsidenten: "Einem heißen Krieg zwischen den USA und Russland werde niemand überleben." leider fehlt der heutigen Bundesregierung einfach die Bildung, um das zu erkennen bzw. sie dürfen das nicht erkennen (s. Folgendes Putin Zitat): "Heute ist die NATO (…) nicht mehr als ein außenpolitisches Instrument der Vereinigten Staaten. Die USA haben in ihr keine Bündnispartner, sondern nur Vasallen.“

Sie schreiben: „Inzwischen hat der Internationale Strafgerichtshof einen Haftbefehl gegen den Paria erlassen.“ Was von diesem Gericht (das übrigens weder die USA noch Russland anerkennen) zu halten ist, kann man hier nachlesen: https://www.anti-spiegel.ru/2023/haftbefehl-gegen-putin-die-entwertung-angeblich-objektiver-internationaler-institutionen/

In Ihrer Bilanz wird Ursache und Wirkung, Aktion und Reaktion total auf den Kopf gestellt.

"Das ursprüngliche Ziel von Russlands „militärischer Spezialoperation“ war ganz offenkundig ein Regimewechsel in Kiew." war es das wirklich? Oder war es nur der Versuch, den ukrainischen Beschuß auf den Donbas, also den Versuch eines Genozids an der russischstämmigen Bevölkerung der Region zu verhindern und Selenskis Forderung auf der Münchener Sicherheitskonferenz nach "Atomwaffen" ein Ende zu setzen, weiß ich nicht. An dieser Stell nur 2 Beispiele zur Forcierung der ukrainischen Aggression unmittelbar vor! Dem russischen Einmarsch:

„in der Region Donezk verzeichnete die SMM (OSZE „Spezial Monitoring Mission“) zwischen den Abenden des 18. und 20. Februar 2.158 Waffenstillstandsverletzungen, darunter 1.100 Explosionen. In der vorangegangenen Berichtsperiode verzeichnete es 591 Waffenstillstandsverletzungen in der Region.
In der Region Luhansk verzeichnete die Mission zwischen den Abenden des 18. und 20. Februar 1.073 Waffenstillstandsverletzungen, darunter 926 Explosionen. In der vorangegangenen Berichtsperiode verzeichnete es 975 Waffenstillstandsverletzungen in der Region.“

Quelle: https://www.osce.org/files/2022-02-20-21%20Daily%20Report_ENG.pdf?itok=82567

Was sollte Russland tun? Zuschauen? Fakt ist, dass Putin als Reaktion auf die immer stärkere Einmischung der USA und ihrer Vasallen die Kriegsziele anpassen musste. War im März 2022 der Frieden greifbar (Selenskis Vorschlag in Istanbul: Krim bleibt russisch, Ukraine geht nicht in die NATO, über die Region Donbas wird es eine politische Lösung geben..) war das nach Veto von Boris Johnson und der ukrainischen False flag Aktion Butscha nicht mehr möglich.

So, wie der Krieg durch USA und ihre EU/Nato Lakaien gegenwärtig angeheizt wird, kann es nur noch bis zur bedingungslosen Kapitulation der Ukraine gehen. Wo bleibt der ukrainische Stauffenberg? Wir alle brauchen ihn, bevor die Welt auseinander fällt.

HASKANLI, 29. März 2023, 23:05 UHR

Dass es sich hierbei nicht um einen Völkerrechtsbruch handelt, sehe ich auch so. Ergänzend zu Ralle verweise ich auf "EU-Resolution 56-83", verabschiedet auf der 85. Plenarsitzung am 12. Dezember 2001. Dort heißt es in Kapitel II, Artikel 10 (Verhalten einer aufstänischen oder sonstigen Bewegung):

(1) Das Verhalten einer aufständischen Bewegung , die zur neuen Regierung eines Staates wird, ist als Handlung des Staates im Sinne des Völkerrechts zu werten.

(2) Das Verhalten einer aufständischen oder sonstigen Bewegung, der es gelingt, in einem Teil des Hoheitsgebietes eines bestehenden Staates oder in einem seiner Verwaltung unterstehenden Gebiet einen neuen Staat zu gründen, ist als Handlung des neuen Staates im Sinne des Völkerrechts zu werten.

Nun, das genau ist in den Donbass-Republiken geschehen. Diese haben Russland um Hilfe gebeten und Russland ist dem nachgekommen. Ich sehe da nichts völkerrechtswidriges.

DR. THOMAS NEUBERT, 27. März 2023, 07:45 UHR

Lieber Herr Teusch,
ich schließe mich meinen Vorrednern in den meisten Punkten an und bin ebenso gespannt auf den zweiten Teil Ihrer Überlegungen. Ich sehe in den Äußerungen Putins zwischen damals und heute nur sehr wenige Diskontinuitäten, wenn man bedenkt, wie viel Wert er auf Flexibilität im politischen Handeln (s. Äußerungen zu Churchill) gelegt hat. Alle seine damals dargelegten Grundsätze sind heute im Wesentlichen dieselben. Allerdings hat sich in der Zeit dazwischen die Situation in der Ukraine erheblich verschärft - einschließlich der westlich-ukrainischen Verschwörung gegen den Donbass und gegen Russland durch das offenbar von Anfang an inszenierte Minsk-II sowie die westliche Politik, die inzwischen entgegen aller bisher hochgehaltenen Werte die Hüllen hat fallen lassen und ihre wahren Absichten GEGEN Russland zur Schau trägt.

Ich würde mir für Ihre weiteren Überlegungen zwei wichtige Punkte betrachtet wünschen:

(1) Die formal juristische Vorbereitung des Einmarsches durch Russland. Auch wenn das im Westen nicht gern gehört wird, zeigt dies meiner Meinung nach Putins Respekt vor dem Völkerrecht.

(2) Der Ort dieses Krieges liegt unmittelbar an der russischen Staatsgrenze. Nicht nur die Ukraine, sondern auch das US-Militär baut seit 2014 seine militärischen Kapazitäten unmittelbar an der russischen Grenze auf. Das sehe ich als entscheidend an für eine ausgewogene Betrachtung der Motive Russlands in diesem Krieg.

WILLY SCHÜRER, 27. März 2023, 09:40 UHR

Lieber Herr Teusch!
Vielen Dank für diesen interessanten Artikel. Die von Ihnen ausgewählten Zitate aus dem Interview zeigen exemplarisch auf, dass es sich bei Putin um einen ausgesprochen intelligenten, integren und diplomatischen Staatsmann handeln könnte, dem das Wohl seiner Nation und seines Volkes sehr am Herzen liegt. Ich wünschte mir, ich könnte in der politischen Führungsklasse der „westlichen Wertegemeinschaft“ auch nur eine einzige Person identifizieren, die diesbezüglich sein Niveau hat. Ich schreibe dies im Konjunktiv und verkneife mir weitere Bemerkungen zu Putin und westlichen Politikern, da ich mir angesichts der sich rasch verändernden strafrechtlichen Bestimmungen nicht ganz sicher bin, was man im besten Deutschland aller Zeiten noch straffrei sagen darf und was nicht.

Eine Diskontinuität zwischen Putins damaligen Äußerungen und heutigem Handeln kann ich nicht erkennen. Er handelt m.E. in der Situation des in die Sackgasse getriebenen Akteurs. Könnte es sein, dass diese Militäroperation historisch gesehen einer der wenigen Fälle ist, bei denen es sich um einen faktisch begründeten präventiven Akt der Selbstverteidigung handelt? Ich würde mir wünschen, dass Sie über diese Möglichkeit im zweiten Teil vorurteilsfrei reflektieren. Um den mantra-artigen Verweis auf die Völkerrechtswidrigkeit werden Sie wohl schwer herumkommen. Schon aus strafrechtlichen Überlegungen. Immerhin verzichten Sie auf das im Mainstream unverzichtbare Beiwort „brutal“.

Ich bin gespannt auf den zweiten Teil Ihrer Ausführungen. Was Sie diesbezüglich andeuten, stimmt mich nicht allzu hoffnungsvoll. Ich hoffe, die Kommentare hier geben Ihnen Anlass, das eine oder andere noch zu überarbeiten. Sollte dies der Fall sein, wäre es schön, wenn sie das transparent machen könnten. Was die Sackgasse betrifft, so wird sie zunehmend enger. Was die angelsächsischen Premiers betrifft, so wird leider die Hoffnung, es könne nicht mehr schlimmer kommen ein ums andere Mal enttäuscht. Erst der Friedensschluss-Verhinderer Johnson. Dann die an Inkompetenz nur von wenigen aktiven Politikern übertroffene Truss, die nach eigenem Bekunden bereit gewesen wäre, auf den roten Knopf zu drücken. Und schließlich unter Sunak der Beschluss, die Mittel zur Verfügung zu stellen, um die fruchtbare schwarze ukrainische Erde für Jahrtausende radioaktiv zu verseuchen.

Das wurde von Putin und/oder Medwedew bereits dahingehend kommentiert, dass die Reaktion hierauf asymmetrisch sein wird. Soll heißen, man wird nicht mit gleicher Munition an gleicher Stelle antworten, obwohl man das könnte. Wo dann? Das ist nicht schwer zu erraten. Es steht zu befürchten, dass Putin sich auch diesbezüglich nicht an der westlichen politischen Praxis orientieren und wortbrüchig werden wird.

Die Tür zum Krieg zwischen den Angelsachsen und Russland wäre aufgestoßen. Von wem? Könnten Sie auch diese Frage in Ihrem zweiten Teil behandeln? Ich hoffe, wir werden aufgrund der Kriegstreiberei nicht auch noch in die Lage versetzt, überprüfen zu müssen, ob auch Putins diesbezügliche Aussagen („Einen heißen Krieg zwischen den USA und Russland werde niemand überleben.“) sich noch bewahrheiten werden.

SIGRID PETERSEN, 27. März 2023, 10:10 UHR

Ein schöner Artikel, um das Interesse für das Buch von Oliver Stone zu wecken. Ich möchte mich an dieser Stelle wiederholen und auf einen Kommentar von mir, den ich im Oktober 2022 zu dem Artikel „Doppelmoral des Westens“ von Kai Amboss um 15:45Uhr abgegeben habe, verweisen. https://multipolar-magazin.de/artikel/doppelmoral-des-westens

Dieser Kommentar betrifft die Aussage, „Putins“ Krieg als unumstritten völkerrechtswidrig zu bezeichnen. Es gibt zu diesem Thema doch ganz konträre Ansichten verschiedener Anwälte für internationales Strafrecht, s.o.

Ist dieses Argument evtl. der Schildausbau (Begriff aus dem Bergbau), um zu verhindern, dass man unter den Anwürfen der entrüsteten „Öffentlichkeit“ begraben wird? Es handelt sich hier um rein axiomatisches Denken. Das Axiom „dieser Krieg ist völkerrechtswidrig“ liefert die Begründung für alle weiteren Rechtfertigungen im Denken. Mein Axiom ist: dieser Krieg muss aufhören und Kriege darf es nicht geben.

Eine unipolare Weltordnung kann zu nichts anderem führen als zu Konflikten mit kriegerischen Auseinandersetzungen jeder Form, eine multipolare Weltordnung wäre die Chance, Konflikte friedlich, die Menschenrechte wahrend, demokratisch und sozial gerecht zu lösen. Eben auf Augenhöhe, mit gegenseitigem Respekt, die Interessen anderer Staaten anzuerkennen. Ich, für meinen Teil, bin weniger gespannt auf den Folgeartikel, denn ich bin nicht der Auffassung, dass Putin sich „gewandelt“ hat und von seinen Maximen abgewichen ist, sondern das worst case Szenario für Russland leider unausweichlich wurde. Weil wir in einer unipolaren Weltordnung leben.

ALEXANDER FEIN, 27. März 2023, 13:20 UHR

Vielen Dank für den interessanten und aufschlussreichen Artikel. Als in den 90ern junger Erwachsener war Putin für mich ein Vertreter der Restauration der Verhältnisse vor Gorbatschow, ein Soldat und KGB-Mann, der als Apparatschik waltet wie vorher die sogenannte Nomenklatura. Das passende Pendant zu Helmut Kohl, so meine Empfindung. Ab da habe ich bis zur Coronakrise weitgehend abgeschaltet.

Die Schwäche der Erörterungen im und zu dem Artikel liegt meines Erachtens darin, dass nur rationale Aspekte Beachtung finden, unbewußte Motive möglicherweise aber der Elefant im Raum sind. Es wäre interessant zu erfahren, wie in Russland die Coronakrise verarbeitet wurde, beispielsweise ob Russland den Weg, Gesundheit als Folge sozialen Fortschritts aufzufassen, vernünftigerweise fortgesetzt hat. Im westlichen "Wertesystem" jedenfalls ist offen ein wahnhaftes Denken zum Tragen gekommen, dass Unreinheit und allgemein "Das Böse" in einem Purgatorium von der Welt zu tilgen gedenkt. Das hat sich allerdings schon länger beispielsweise in einer epidemieartigen Verbreitung verweichlichter Selbstbezogenheit angekündigt.

Richtungsweisend auch die theologische Ehrendoktorwürde für Gretha Thunberg: Wir haben es keinesfalls mit einer Politisierung der Religion zu tun, sondern das Zusammenbrechen der Institution Kirche im Neoliberalismus hat vielmehr jetzt dazu geführt, dass alle Gesellschaftsbereiche mit den Denkfiguren der "Gnosis" beseelt werden. Diese hält zwei Lesarten für das "Eingehen" in die neue Welt bereit: gleich zu sterben, das Paradies wartet woanders; oder alles, was dem Paradies entgegen steht, aus dem Weg zu räumen.

Es ist für mich immer wieder ernüchternd, dass sich die kritische Masse so wenig mit philosophischen und religionswissenschaftlichen Erkenntnissen auseinandersetzt, wie auch die unangemessen scharfe Kritik an "Psychology of totalitarism" von Mattias Desmet zeigt.

Herr Putin könnte natürlich zu gänzlich anderen Schlussfolgerungen genötigt sein, wenn er zu dem Ergebnis kommt, dass im westlichen System kein Zugriff mehr auf Kategorien der Vernunft besteht. Ich bin gespannt, ob der Autor Ulrich Teusch sich in der Fortsetzung dieses Artikels zu diesen Aspekten äußert.

HAJO, 27. März 2023, 19:45 UHR

Als ich die Kommentare las, fiel mir ein Stein vom Herzen. Danke. Es ist ein gutes Gefühl, nicht ganz allein mit seinen eigenen Einschätzungen zu sein.

HARTMUT VOLKERT, 27. März 2023, 21:25 UHR

Dem kann ich mich nur von ganzem Herzen anschließen.

LISA MARIA LEWIN, 29. März 2023, 16:10 UHR

Ja, dem schließe ich mich auch an. Und will es noch ergänzen aus allgemein menschlicher Sicht:

Eine vom Staat gewollte Empörung kommt bei den Menschen im früheren Osten nicht gut an, die dasselbe früher schon hatten. Meine Freunde im Osten verstehen auch simple Fragen wie: Was sagen denn die Taliban zu unserem Moralistan? Oder die Kinder und Mütter auf dem Balkan. Wieso empören wir uns nun pflichtgemäß über den "ersten brutalen Angriffskrieg mitten in Europa", wenn gleichzeitig Google-Maps mir verrät, dass umkämpfte Städte in Bosnien uns näher sind als Kiew?

Die Putin-Zitate im Artikel erinnern mich an eine menschliche Ungleichheit, die jahrelang ständig auftrat: Putin benutzte auffällig häufig, fast ständig die Formulierung "unsere amerikanischen Partner". Damit stellte er sich expressiv verbis auf die gleiche Stufe mit dem Weißen Haus, dem der Kreml nie gut genug war. Die Fairness von Partnerschaften kann eine Frau in Echtzeit wahrnehmen, schon lange vor dem Scheidungskrieg, der irgendwann scheinbar plötzlich kommt.

Lieber Herr Teusch, verstehen Sie, was ich damit sagen will: Solche Ungleichheiten führt uns das (Alltrags-) Leben überall vor. Im Privatleben ist typisch, dass der verhandlungsbereite Partner irgendwann sagt: "Jetzt reicht es aber!", und das gerade deshalb, weil er Verhandlung angeboten hat. Ein verbissener Scheidungskrieg beginnt oft, weil seine "bessere Hälfte" sich voll bestätigt in der Minderwertigkeit des anderen. Ich kenne viele Beispiele dieser Art. Nun haben wir sowas auf geopolitischen Ebenen: Moralistan empört sich mal wieder über alles Niedere in der Welt. Ist das nicht unser Dauerzustand?

Als Frau frage ich mich, wieso Männer immer so ganz komplizierte Überlegungen anstellen müssen, wo doch rein menschlich alles leicht verständlich wäre - bis hin zum karrierefördernden Schrei nach Waffen (wie schon vor 1914). Mit meinem kleinen Frauenverstand geht vieles leichter zu verstehen. Schöne Grüße, Lisa Maria.

JÖRG G, 28. März 2023, 09:35 UHR

Solche Artikel und auch die respektvollen, kritischen Kommentare hier im Forum sind für mich der Grund, Multipolar hochzuhalten. Vielen Dank an Herrn Teusch und auch die Mitkommentatoren. Mir wäre es lieber gewesen, wenn Russland von Anfang an die Krim aufgegeben und seinen Schwarzmeerhafen an der eigenen Schwarzmeerküste neu gebaut hätte. Das wäre in vielerlei Hinsicht günstiger gewesen. Aber das ist nur die naive Meinung eines Pazifisten, der die konkreten geostrategischen Problematiken dort nur grob benennen kann.

Ich hatte Putin lange im Bekanntenkreis für seine Besonnenheit gelobt und immer gesagt, dass wir froh sein können, dass kein anderer in Russland an der Macht ist. Ich hatte mich sowieso gewundert, dass Putin seinen „Das-sind-immer-noch-unsere-Partner-Kurs“ solange innenpolitisch durchsetzen konnte. Es gibt in Russland natürlich auch aggressivere politische Kräfte, die dem Treiben der Ukraine schon zeitiger und deutlich entschiedener ein Ende gesetzt hätten.

Zusätzlich zu den Spekulationen im Artikel, eine von mir: Nach den höchst provokativen, ukrainischen Angriffen im Februar 2022 (siehe OSZE oder Link bei Kommentator RALLE), hätte Putin innenpolitisch nicht überlebt, wenn er nicht einmarschiert wäre. Dann wäre es ihm vielleicht lieber gewesen, selbst das Kommando über den Krieg zu haben, als zu riskieren, dass ein Hardliner deutlich brutaler das Zepter führt. Natürlich ist ein Krieg immer brutal. Aber im Vergleich zu anderen Kriegen (z.B. Irak 2003) kann gesagt werden, dass Russland den Krieg relativ schonend führt.

Nach all dem, was geschehen ist, bin ich mir inzwischen unsicher, ob ein Krieg in jedem Fall vermeidbar ist. Was tun, wenn der Gegenüber nicht mit Vernunft zu erreichen ist und immer aggressiver wird? Es ist seit über 100 Jahren bekannt, dass die USA Russland zermürben wollen, und nicht zulassen, dass West-Europa und Russland gedeihlich zusammenwachsen. Es besteht meines Erachtens kein Zweifel daran, dass die USA (oder deren Vasallen) mit einem notfalls selbst organisierten Vorwand Russland angreifen würden, sobald sie dafür in einer geostrategisch günstigen Position wären. Und zweifelsfrei hätte die Ukraine als nuklear bewaffneter, hochgerüsteter NATO-Staat die Lage für Russland stark verschlechtert.

Witzigerweise: Wenn ich russophoben Mitbürgen folgenden Vergleich schildere, ernte ich meist nur ein verlegenes Lächeln: Angenommen China würde in Mexiko einen Putsch organisieren und ultra-nationalistische, pro-chinesische, undemokratische Kräfte würden eine neue Regierung stellen, die sich offen aggressiv gegen die USA stellt. China würde Mexiko bis an die Zähne bewaffnen und auch darüber reden, Atombomben zu stationieren. Englischsprachige Bevölkerungsgruppen würden verfolgt. Das Mexikanische Regime führte einen „brutalen Krieg gegen die eigene Bevölkerung“. Es gäbe schon über 10.000 Opfer. Was täten die USA?

BERNHARD MÜNSTERMANN, 28. März 2023, 19:25 UHR

Putin hat als Nachkriegsjahrgang durch die Hungerblockade der Wehrmacht von Leningrad eine Mutter, die um Haaresbreite verhungert wäre und einen älteren Bruder, der in der eingekesselten Stadt nicht überlebt hat. Diese biografischen Besonderheiten spielen für jeden Menschen eine Rolle, weil sie in der frühen Kindheit seiner Generation in der durch die Wehrmacht zerschossenen Stadt präsent sind, zur Erinnerungskultur gehören. Oliver Stone hat das in der umfangreichen Dokumentation seiner Gespräche mit Putin sicher auch irgendwo angesprochen.

Wie @Helene Bellis es bereits als ihren Eindruck bezeichnete, ist auch für mich nicht zweifelhaft, dass Putin die vom Oliver Stone Projekt gebotene Möglichkeit nutzte, um sein Image als vom Westen penetrant dämonisierter Politiker etwas zurechtzurücken. Wobei klar war, dass er sich darin als Staatsmann äußerte und persönliche Empfindungen, die sich mit dieser Rolle nicht vertragen, klugerweise auf den Zeitraum als elder statesman vertagt, der dann nicht mehr im Amt ist.

Selbst Falken wie McCain unter US Politikern werden so verständnisvoll kommentiert, Winston Churchill hat als Staatsmann für ihn beinahe Vorbildcharakter. Der Mordaufruf von US Senator Lindsey Graham von Anfang 2022 ist als maßlose Entgleisung noch in Erinnerung: https://www.youtube.com/watch?v=2w3QZl7no3g

Der Ruf des US Senators nach einem russischen Brutus wurde also erst nach den O. Stone Gesprächen mit Putin und nach dem militärischen Eingreifen geäußert. Garniert mit der Einschätzung, dass der bereits verstorbene McCain diese Auffassung geteilt haben würde. Staatsmännisch gedacht, sehe ich Putins Bemühen, mit allen Fraktionen und Lagern gesprächsfähig zu bleiben, weil es den eigenen diplomatischen Spielraum nicht einengt. Als seine ehrliche persönliche Einstellung dagegen scheint mir nahezu ausgeschlossen.

Sollte Putin etwa die Rolle von Winston Churchill im Vorfeld des Angriffs der Wehrmacht auf die UdSSR nicht kennen, wo der britische Premier ein Musterbeispiel britischer Außenpolitik betrieb? Schließlich hatten die Briten, hatte die legendäre hinterhältige Außenpolitik des perfidious Albion unter Churchill entscheidend dazu beigetragen, dass Verhandlungsbemühungen der Nazis im Vorfeld scheiterten und die deutsche Wehrmacht daraufhin die UdSSR angriff. Es ist für mich undenkbar, dass der russische Präsident diesen Zusammenhang nicht auf dem Schirm haben sollte. Off the record könnte es also durchaus anders tönen, die Gespräche mit Oliver Stone jedoch waren explizit zur Veröffentlichung vorgesehen und Putin ist sich hier eher seiner Verantwortung aus dem Amt des russischen Präsidenten bewusst.

So verstehe ich auch seine schillernde Kollusion in der „Pandemie“. Er will sich an diesem Schauplatz seine Bündnisfähigkeit zwischen China und dem westlichen Lager offenhalten. Er weiß und äußert aber, dass von den Regierungen unkontrollierbare Strukturen des tiefen Staates dabei eine Rolle spielen und nimmt auch Russland nicht ganz aus davon. Auch ich erwarte gespannt den zweiten Teil des Essays von Herrn Teusch, in dem die Aussagen der umfangreichen Dokumentation der Gespräche mehr im Detail ausgelotet werden dürften.

SUSANNE ANDRÉE, 29. März 2023, 20:35 UHR

Ein wenig peinlich finde ich das immer, dass man in jedem Text und jeder Rede über den Ukraine-Krieg erst einmal verkünden muss, man „verurteile“ das Vorgehen Russlands oder man sei mindestens überrascht gewesen – wie als Rechtfertigung dafür, dass man gleich vorhat, so etwas wie eine eigene Meinung dazu zu äußern.

So wie man früher bei uns in der DDR in der Öffentlichkeit nicht einfach banal über „Honecker“ sprach, sondern zumindest den Titel „Generalsekretär des Zentralkomitees der SED“ und seinen Vornamen hinzufügte, muss man heute, wenn man über Russland oder die Ukraine spricht, zumindest einmal das Wort „völkerrechtswidriger Angriffskrieg“ benutzen – oder eben „gleich vorweg setzen“. Als ehemaliger DDR-Bürger weiß man, wie Propaganda sich anhört und anfühlt und kann das, was real passiert, von dem, was medial vermittelt wird, unterscheiden, wenn man nur ein paar zusätzliche Informationen zur täglichen Fernseh-Berieselung aufnehmen kann oder auf letztere ganz verzichtet. Propaganda ist das, was bei näherer Betrachtung keinen Sinn ergibt. Realität (oder zumindest nahe daran) ist das, was plausibel ist.

So ergibt es einfach keinen Sinn, dass ein Staatsmann, der jahrelang mit allen Staatsoberhäuptern der Welt im Grundton der Überzeugung von diplomatischen Mitteln und politischen Verhandlungen in allen erdenklichen Facetten spricht und deren Klaviatur als ehemaliger Geheimdienstler auch sicher beherrscht, sich über Nacht in einen Aggressor verwandelt, der aus reiner Machtgier einen Angriffskrieg führt, um gewaltsam ein Russisches Reich in den Grenzen der ehemaligen Sowjetunion und darüber hinaus zu erschaffen. Wer diesen Schwachsinn glaubt, der ist wahrhaftig vollständig der Meinungsmache der eingekauften Einheits-Journaille erlegen.

Plausibel ist ebenso wenig, dass ein Imperator mit so hohen Ambitionen, wie dem russischen Präsidenten nachgesagt werden, sich zuvor niemals, mit keinem einzigen Wort zu seinem imperialistischen Vorhaben und seinen Eroberungsplänen geäußert hat. Mir hat dazu das Zitat von John Mearsheimer in Paul Schreyers Artikel „Was sind Russlands Kriegsgründe?“ gefallen:

„Sollte dieses Verhalten Teil einer gigantischen Täuschungskampagne sein, so wäre dies ohne Beispiel in der Geschichte.“

Plausibel hingegen ist, dass ein Staatsoberhaupt, das jahrzehntelang Sicherheitsgarantien für sein Land eingefordert hat, dass ein Präsident, der jahrelang für jeden hörbar auf die Nato-Osterweiterung und die einseitige Aufkündigung der mühsam errungenen Abrüstungsverträge als offene Aggression des Westens hingewiesen hat und dessen diplomatische Bemühungen und ausgestreckte Hände offensichtlich und mutwillig vom Westen immer wieder ausgeschlagen und übergangen wurden, irgendwann zu der Erkenntnis kommt, dass all sein politisches Können seinem Land nichts nützt, wenn sein Gegner demonstrativ an diplomatischen Lösungen kein Interesse zeigt, sondern fest entschlossen ausschließlich auf seine eigene lang und hart erprobte militärische und monetäre Überlegenheit setzt, um einen – sei es auch nur potentiellen oder virtuellen – wirtschaftlichen Konkurrenten dauerhaft auszuschalten und geopolitisch auf einen hinteren Rang zu verweisen und um selbst die gesamte Region ökonomisch kontrollieren zu können.

Plausibel ist, dass der Präsident eines Landes, das in der jüngeren Geschichte zwei Mal hintereinander von seinen westlichen Nachbarn brutal und hinterhältig überfallen wurde und nur zum Preis von Millionen von Kriegsopfern den Sieg über den Faschismus erringen konnte, sich nicht einfach hinsetzt und abwartet, bis es ein drittes Mal geschieht. Plausibel ist, dass der Präsident Russlands vor dem Hintergrund der sich immer deutlicher abzeichnenden Wiederholung der Geschichte der Verpflichtung nachkommt, sein Land zu schützen und dass er die für ihn und sein Land richtige Konsequenz aus dem Beginn des zweiten Weltkrieges zieht, als „man buchstäblich bis zur letzten Minute versucht [hat], den potenziellen Angreifer nicht zu provozieren, indem man die notwendigsten und naheliegendsten Schritte zur Vorbereitung auf die Abwehr des unvermeidlichen Angriffs nicht durchgeführt oder aufgeschoben hat.“ – wie Putin in seiner Rede am 24.02.2022 – ebenfalls in dem Artikel von P. Schreyer – zitiert wird.

Hat man sich dann noch etwas belesen und kennt die Vorgeschichte der Ukraine-Krise, kennt die Einsichten und Erläuterungen von unabhängigen amerikanischen Journalisten wie Diana Johnstone, Chris Hedges oder Robert Malone zur Foreign Policy und zum Kriegsdurst der USA, hat man die Rede von George Friedman 2015 vor dem Chicago Council gehört, kennt man die Wolfowitz-Doktrin und weiß man von den schon vor Jahren völlig offen geäußerten Plänen Dick Cheneys und Zbigniew Brzezinskis zur Spaltung und Aufteilung Russlands – über die auch Putin mehrfach gesprochen hat (UncutNews.ch berichtete im Oktober 2022 und im Januar 2023) – bedenkt man dann noch, dass Russland der Nato und den USA noch im Dezember 2021 Verträge vorgelegt hat, die Sicherheitsgarantien für beide Seiten rechtsverbindlich festlegen sollten und die der Westen demonstrativ und vorsätzlich ignoriert hat, indem man Stoltenberg direkt anschließend in Bezug auf die Ukraine verkünden ließ, „jedes Land hat das Recht, der NATO beizutreten“ (Leo Ensel berichtete für den InfoSperber am 22.12.2022 im Artikel „Das ignorierte Angebot: Russlands Briefe vom 17. Dezember 2021“) – hat man also all dieses Wissen gespeichert und verinnerlicht, so ist der Einmarsch Russlands in die Ukraine eine plausible und folgerichtige Konsequenz zur Verteidigung des eigenen Landes.

Manche behaupten heute noch, der Irakkrieg wäre nicht völkerrechtswidrig gewesen, wenn tatsächlich Massenvernichtungswaffen im Irak gefunden worden wären. Denn die USA mussten sich ja gegen das Tausende Kilometer weit entfernte Land verteidigen. Aber Russland wird das Recht abgesprochen, militärisch einzugreifen, wenn sein Nachbarland im Auftrag des selbst erklärten Feindes damit droht, Atomraketen entlang der Landesgrenze aufzureihen, die ohne Vorwarnzeit Moskau erreichen können? Die Doppelmoral und Heuchelei des Westens kennt keine Grenzen mehr.

Früher gab es noch so viele intelligente Menschen, dass eine Friedensbewegung zusammen kam, die laut und deutlich bekundete, dass zu Abrüstungsgesprächen immer beide Gegner aufeinander zu gehen müssen. Und die Medien nahmen das auf und berichteten darüber. Heute gewinnt man sehr leicht den Eindruck, die steuernden westlichen Kräfte würden einen Atomkrieg in Kauf nehmen, solange man die Öffentlichkeit davon überzeugen kann, dass die Russen daran schuld sind. Deswegen können wir die einseitige, sich in ihrer aggressiven Absicht ständig zuspitzende falsche und völlig verzerrte Darstellung „unserer“ Politik und Medien nicht auf sich beruhen lassen. Deswegen muss man die ganze Wahrheit aussprechen, sobald man sie kennt.

MICHAEL SAILER, 30. März 2023, 01:50 UHR

Lieber Ulrich Teusch,
ich bin, was das Fazit betrifft, ganz anderer Meinung; trotzdem: danke. Es lohnt sich, diese Argumente mal ohne Schaum auf den Lippen gesagt zu bekommen. Man erinnert sich dann wieder daran, um was es geht. Die entscheidende Frage lautet doch: Was wäre Ende Februar 2022 die Alternative gewesen? Die "Eroberung" und ethnische Säuberung des Donbas geschehen lassen? Ich muß gestehen, daß ich selbst als Pazifist mit dieser Lösung nicht einverstanden sein kann. Und ich bin gespannt auf den zweiten Teil.

JAN, 7. April 2023, 10:55 UHR

Den Artikel von Herrn Teusch und die Kommentare habe ich mit großem Interesse gelesen. Auf den Folgeartikel bin ich sehr gespannt und bereits heute neugierig, ob Herr Teusch mögliche Alternativen für das Handeln der Russischen Föderation aufzeigen wird. Multipolar und seinen Lesern wünsche ich besinnliche und erholsame Ostern!

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