Emmanuel Todd | Bild: picture alliance / Hans Lucas | Martin Bertrand

Die Niederlage des Westens

Der französische Historiker Emmanuel Todd analysiert in seinem neuen Buch tieferliegende Ursachen der globalen politischen Krise, die im Ukrainekrieg kulminiert. Neben Verweisen auf Geopolitik und Geschichte untersucht er, welche Rolle der Nihilismus und das Verschwinden der Religiosität im Westen spielen. Die Akteure des Krieges definiert er um: „liberale Oligarchien“ stehen einer „autoritären russischen Demokratie“ gegenüber. Todd betont, dass es ihm nicht um eine Verurteilung des Westens geht, sondern um klare Analyse und ein besseres Verständnis der Situation. Multipolar veröffentlicht Auszüge.

EMMANUEL TODD, 24. Oktober 2024, 2 Kommentare, PDF

Ich beobachte seit 2002 die Entwicklung der Vereinigten Staaten. Damals hoffte ich, dass sie zur Form eines riesigen Nationalstaats zurückfinden würden, die sie in den Jahren 1945–1990 gegenüber der UdSSR in ihrer positiven imperialen Phase waren. Heute, nach dem Tod des Protestantismus, muss ich zugeben, dass eine solche Wiederbelebung unmöglich ist, was im Grunde nur ein recht allgemeines historisches Phänomen bestätigt: die Unumkehrbarkeit der meisten fundamentalen Prozesse.

Dieses Prinzip gilt hier für mehrere essenzielle Bereiche: für die Abfolge „nationales Stadium, dann imperiales, dann postimperiales“, für das Aussterben des Religiösen, das letztendlich das Verschwinden der sozial-moralischen Gesinnung und des Gemeinschaftsgefühls herbeigeführt hat; für einen Prozess der zentrifugalen geografischen Expansion, verbunden mit der Auflösung des ursprünglichen Systemkerns. Der Anstieg der amerikanischen Sterblichkeitsrate, insbesondere in den republikanischen oder trumpistischen Bundesstaaten, genau in dem Moment, als Hunderte Milliarden von Dollar Richtung Kiew flossen, ist charakteristisch für diesen Prozess.

In meinen Büchern La Chute finale (1976) und in Après l’empire (2002) – beides Werke, die über anstehende Systemzusammenbrüche spekulieren – verwendete ich „rationalisierte“ Darstellungen der Menschheitsgeschichte und der Aktivitäten von Staaten. (1) Beispielsweise interpretierte ich in Après l’empire das geschäftige diplomatische und militärische Treiben der Vereinigten Staaten als „theatralischen Mikromilitarismus“, eine Haltung, die darauf abzielte, zu vertretbaren Kosten den Eindruck zu vermitteln, dass Amerika für die Welt nach dem Fall der Sowjetunion unersetzlich bliebe. Im Grunde ging es darum, ihnen ein rationales Machtziel zu geben.

Im vorliegenden Buch werde ich mich selbstverständlich an die klassischen geopolitischen Elemente halten: Lebensstandard, Stärke des US-Dollar, Ausbeutungsmechanismen, objektive militärische Machtverhältnisse, also eine Welt, die an der Oberfläche einigermaßen rational wirkt. Die Frage des amerikanischen Lebensstandards und die Gefahr, die sein systematischer Zusammenbruch für die USA bedeuten würde, werden sehr präsent sein. Aber die exklusive Hypothese einer vernünftigen Begründung werde ich aufgeben und stattdessen eine erweiterte Vision der Geopolitik und der Geschichte vorschlagen, die das absolut Irrationale im Menschen besser integriert, namentlich seine spirituellen Bedürfnisse.

Religiöser Nullzustand

Die folgenden Kapitel befassen sich also auch mit der religiösen Matrix von Gesellschaften, mit den Lösungen, die der Mensch für das Geheimnis seiner Situation und dessen schwierige Akzeptanz zu finden versucht; mit den Qualen, die eine endgültige Auflösung der christlich-religiösen und besonders der protestantischen Matrix im Westen verursachen würde. Nicht alle diese Auswirkungen werden negativ dargestellt und das vorliegende Buch ist nicht radikal pessimistisch. Jedoch wird ein „Nihilismus“ aufscheinen, der uns sehr beschäftigen wird. Was ich einen „religiösen Nullzustand“ nennen würde, wird in einigen, besonders schlimmen Fällen eine Vergötterung des Nichts hervorbringen.

Ich werde das Wort „Nihilismus“ in einer Bedeutung verwenden, die nicht unbedingt die gebräuchlichste ist und die eher – und das ist kein Zufall – an den russischen Nihilismus des 19. Jahrhunderts erinnern wird. Denn Amerika und die Ukraine haben sich auf einer nihilistischen Grundlage zusammengeschlossen, selbst wenn ihr jeweiliger Nihilismus in der Praxis auf sehr unterschiedliche Dynamiken zurückzuführen ist. Nihilismus, wie ich ihn verstehe, beinhaltet zwei grundsätzliche Dimensionen. Die sichtbarste ist die physische Dimension: der Trieb, Dinge und Menschen zu zerstören; so erweist sich das Konzept als sehr nützlich, wenn man den Krieg studiert. Die zweite Dimension ist begrifflich, aber nicht minder wesentlich, vor allem, wenn man über das Schicksal von Gesellschaften nachdenkt und über die Umkehrbarkeit oder Unumkehrbarkeit ihres Niedergangs: Der Nihilismus tendiert dann unwiderstehlich dazu, den Begriff der Wahrheit selbst zu zerstören und jede vernünftige Beschreibung der Welt zu verbieten. (...)

Liberale Oligarchien gegen autoritäre russische Demokratie

Ich werde die politischen Systeme, die in unseren Medien, unseren Universitäten und bei unseren Wahlkämpfen als westliche liberale Demokratien beschrieben werden – die über die Ukraine gegen die russische Autokratie antreten –, umqualifizieren. Im Adjektiv „liberal“ in Verbindung mit „Demokratie“ kommt der Schutz von Minderheiten zum Ausdruck, der die Kraft des Mehrheitsprinzips zügelt.

Im Fall Russlands, wo gewählt wird und wo die Regierung – mitsamt ihren die Minderheiten unterdrückenden Unvollkommenheiten – unterstützt wird, habe ich die Idee der Demokratie behalten, jedoch „liberal“ durch das qualifizierende Adjektiv „autoritär“ ersetzt. Im Fall des Westens verbietet es die Dysfunktion der Mehrheitsvertretung, den Begriff „Demokratie“ beizubehalten. Währenddessen spricht nichts dagegen, den Begriff „liberal“ beizubehalten, ist doch der Schutz von Minderheiten zur Obsession des Westens geworden. Dabei denkt man meistens an Unterdrückte, schwarze Menschen oder Homosexuelle, doch die am besten geschützte Minderheit im Westen sind mit Sicherheit die Reichen, welche 1 Prozent, 0,1 Prozent oder 0,01 Prozent der Bevölkerung ausmachen. In Russland werden weder Homosexuelle noch Oligarchen geschützt. Aus unseren liberalen Demokratien werden also „liberale Oligarchien“.

Der ideologische Sinn des Krieges verändert sich. Im vorherrschenden Denken deklariert als Kampf liberaler Demokratien des Westens gegen russische Autokratie, wird er nun zur Konfrontation zwischen den liberalen Oligarchien des Westens und der autoritären russischen Demokratie. Das Ziel einer solchen Neuklassifizierung des Westens und Russlands ist es nicht, Ersteren anzuprangern, sondern seine Ziele in diesem Krieg, seine Stärken und Schwächen besser zu begreifen. Einige wichtige Punkte können hier schon hervorgehoben werden:

  • Wir haben es mit der Konfrontation zweier in ideologischer Hinsicht entgegengesetzter Systeme zu tun, auch wenn der Gegensatz nicht der ist, den man uns angegeben hat. Dass Parteien, die das Arbeitermilieu oder das unterdrückte Kleinbürgertum vertreten (in Frankreich der Rassemblement National und France Insoumise, in Deutschland die AfD und in den USA Donald Trump), verdächtigt werden, mit Putin zu sympathisieren, ist soziologisch betrachtet normal, wenn man so sagen kann. Die herrschenden Eliten haben Angst, die unteren Schichten der Gesellschaft könnten sich Richtung Russland bewegen, dessen autoritär-demokratische Werte einem charakteristischen Zug der westlichen Populisten nicht unähnlich sind.

  • Dass die liberalen Oligarchien wirtschaftliche Sanktionen als Mittel der Kriegsführung akzeptiert haben, wird leichter verständlich: Es sind die unteren Schichten der westlichen Gesellschaften, die unter Inflation und sinkendem Lebensstandard am meisten leiden.

  • Die chaotische Funktionsweise liberaler Oligarchien bringt diplomatisch inkompetente Eliten hervor und damit massive Fehler in der Bewältigung des Konflikts mit Russland oder China. Diese strukturelle Dysfunktion verdient es, dass wir uns ein wenig mit ihr beschäftigen.

Das Verschwinden demokratischer Sitten

Das absolut Einmalige an den westlichen Oligarchien ist, dass ihre Institutionen und Gesetze sich nicht verändert haben. Formal betrachtet haben wir es immer noch mit liberalen Demokratien zu tun, ausgestattet mit allgemeinem Wahlrecht, Parlamenten und manchmal mit gewählten Präsidenten und freier Presse. Demokratische Sitten hingegen sind verschwunden.

Die besser gebildeten Schichten halten sich für intrinsisch besser und wie gesagt weigern sich die Eliten, ein Volk zu vertreten, dessen Verhalten in den Bereich des Populismus verbannt wird. Würden wir erwarten, dass ein solches System harmonisch und natürlich funktionieren könnte, lägen wir ziemlich falsch. Die Menschen bleiben alphabetisiert, und die Grundlage des allgemeinen Wahlrechts wird zwar von der neuen Bildungsschicht überlagert, ist aber immer noch lebendig. Die oligarchische Dysfunktion der liberalen Demokratien muss also geordnet und kontrolliert werden.

Was bedeutet das? Ganz einfach, dass, obwohl die Wahlen weiterbestehen, das Volk von der wirtschaftlichen Verwaltung und der Verteilung des Wohlstands ferngehalten werden muss, mit einem Wort: getäuscht. Für die politischen Klassen bedeutet dies viel Arbeit, wenn nicht sogar die Arbeit, der sie sich vornehmlich widmen. So kommt es zur Hysterisierung rassistischer oder ethnischer Probleme und zum wirkungslosen Geschwätz über gleichwohl wichtige Themen: Umweltschutz, die Stellung der Frauen oder globale Erwärmung.

Technische Unterlegenheit westlicher Politiker

All dies steht in einem negativen Verhältnis zur Geopolitik, zur Diplomatie und zum Krieg. Völlig in Beschlag genommen durch ihre neue Beschäftigung – Wahlen zu gewinnen, die zwar nichts anderes mehr sind als Theaterstücke, die aber dennoch, wie das wahre Theater, spezifische Kompetenzen und Einsatz erfordern –, haben die Mitglieder der politischen Klassen im Westen nicht mehr die Zeit, sich im Umgang mit internationalen Beziehungen zu üben. So betreten sie die große Weltbühne ohne jegliche notwendige Grundkenntnisse.

Schlimmer noch: Sie sind daran gewohnt, zu Hause über die weniger Gebildeten zu triumphieren, zwar mühsam, aber meistens mit Erfolg (denn das ist ihr Job), fühlen sich dadurch in ihrer intrinsischen Überlegenheit bestätigt und finden sich nun gegenüber echten Gegnern wieder, die sie kaum beeindrucken können und die ihrerseits die Zeit hatten, über die Welt nachzudenken und zugegebenermaßen keine solche Energie in die Vorbereitung der russischen Wahlen stecken mussten oder in die internen Kräfteverhältnisse der chinesischen Kommunistischen Partei. Allmählich beginnen wir, die reale technische Unterlegenheit Joe Bidens oder Emmanuel Macrons gegenüber Wladimir Putin oder Xi Jinping zu erkennen und ihre Gründe zu verstehen. (…)

Das Projekt Europa ist tot

Allerdings hat sich Europa in diesen Krieg mit seinen Absurditäten und Ungereimtheiten nicht aus Zufall gestürzt, aus Dummheit oder aus Versehen. Irgendetwas hat es getrieben. Und nicht alles ist die Schuld der Vereinigten Staaten. Dieses Etwas, das ist seine eigene Implosion. Das Projekt Europa ist tot. Ein Gefühl soziologischer und historischer Leere hat unsere Elite und unsere Mittelschicht beschlichen. In dieser Situation wirkte die russische Attacke gegen die Ukraine fast wie ein Glücksfall. Die Leitartikel der Medien machten daraus kaum einen Hehl: Putin gab der europäischen Konstruktion mit seiner „militärischen Spezialoperation“ wieder Sinn; die EU brauchte einen äußeren Feind, um neu zusammengeschweißt zu werden und wieder in Gang zu kommen.

Diese optimistische Rhetorik verbarg eine dunklere Wahrheit. Die EU ist ein unkontrollierbares und buchstäblich irreparables Kraftwerk. Ihre Institutionen laufen leer, ihre Einheitswährung hat zu einem unumkehrbaren inneren Ungleichgewicht geführt; ihre Reaktion auf die „Bedrohung“ Putins zeugt nicht zwangsläufig von einer Anstrengung sich wieder aufzuraffen, sondern vielleicht im Gegenteil von einem suizidären Reflex: Die Reaktion ist Ausdruck einer unausgesprochenen Hoffnung, dass dieser endlose Krieg letzten Endes alles explodieren lässt. Nachdem sich unsere Eliten an einer dysfunktionalen Maastricht-Maschinerie abgearbeitet haben, könnten sie so ihre Verantwortung auf Russland abwälzen; ihr geheimer Wunsch wäre, dass der Krieg Europa von sich selbst befreit. Putin wäre ihr Retter, ein erlösender Teufel. (...)

Zur Rolle Deutschlands

Alle Voraussetzungen schienen für Deutschland dazu geschaffen worden zu sein, nach seiner Wiedervereinigung und dem Anstieg seiner Finanzkraft während der Krise 2007/08 in Europa eine Führungsrolle zu übernehmen und gegenüber den USA auf Abstand zu gehen. Dies war der Weg, den es 2003 während des Irakkriegs einzuschlagen schien, obwohl es die EU nicht beherrschte. Doch im Jahr 2022 lag es wirklich flach. Seit Beginn des Ukrainekrieges musste kein anderes Land dickere Kröten schlucken. Der einzigartige Kurs dieses widerstrebenden und kleinmütigen Hegemonen erfordert ein wenig Reflexion. (…)

Der Auflösungsprozess von Nationen, der einen Zerfall des gesamten europäischen Gefüges erzeugte, hat nicht verhindert, dass gewisse Nationen, wie etwa Deutschland, sich als widerstandsfähiger erwiesen haben als andere. Die deutsche Gesellschaft ist nicht individualistisch. Seine anthropologische Grundlage ist, wie gesagt, die autoritäre und nicht egalitäre Stammfamilie, die man heute als Zombiestammfamilie beschreiben kann, denn obgleich die Bauernfamilie schon weit in der Vergangenheit liegt, bestehen doch einige ihrer Werte weiter, und das schon länger als der Protestantismus oder der Katholizismus. Trotz des Verschwindens der großen Religionen und der Ideologien, die ihnen gefolgt waren, bestehen in Deutschland mentale Gewohnheiten der Disziplin, Arbeit und Ordnung fort. Daher konnte es sich während der Globalisierung seine industrielle Effizienz besser bewahren.

Selbst wenn also das Ideal der Nation überall schwindet, was in Deutschland genauso der Fall ist, so hat dieses dennoch Osteuropa um sich herum neu organisiert. Die Amerikaner hatten, als sie seiner Einheit zugestimmt und dem Osten Raum zur industriellen Expansion geboten hatten, keinen Moment damit gerechnet, dass ein wirtschaftlicher Gigant wiedererstehen würde, nachdem die ehemaligen Volksdemokratien dank Präsident Clinton vom Status ideologisch-politischer Satellitenstaaten Russlands zu wirtschaftlichen und ebenso demografischen Satellitenstaaten Deutschlands wurden. Für ein Deutschland in tiefgreifend demografischer Depression waren die arbeitsfähigen, im Kommunismus gut ausgebildeten Menschen aus dem Osten ein Geschenk der Geschichte.

Deutschland ist nicht nationalistisch, es hat keinerlei Machtprojekt, was seine sehr unzureichende Geburtenrate von maximal 1,5 Kindern pro Frau über einen langen Zeitraum zeigt. Seine Wiedervereinigung und seine erneute Aufstellung im Zentrum des Kontinents haben die ehemaligen geoökonomischen Konditionen Europas jedoch wiederhergestellt. Deutschland fand in seine dominante Position zurück. Angesichts des geopolitischen Fortbestehens Deutschlands nach seiner Niederlage von 1918 hätte das Europa von 2020 Jaques Bainville fasziniert. (2)

Deutschland, eine Maschinengesellschaft

Dadurch, dass Deutschland in seinem Wesen durch sein anthropologisches System unterstützt wurde, konnte es, wie gesagt, dem Sterben der Ideologien besser Widerstand leisten. Doch das Land ging nicht unversehrt aus diesem Prozess hervor. Denn dieser nahm eine einzigartige Form an: die Besessenheit von wirtschaftlicher Effizienz um ihrer selbst willen. Ein wenig, als wäre die deutsche, ihres Bewusstseins beraubte Gesellschaft zur Produktionsmaschinerie geworden.

Eine Ideologie schlägt den Individuen ein gemeinsames Schicksal vor. Ganz anders hier. Nichts als eine Besessenheit von industrieller Adaption, die unter anderem beinhaltet, demografische Atonie durch einen massiven Zustrom von Immigranten wettzumachen, als würde man Kraftstoff in den Tank eines Wagens füllen. Die Aufnahme von Zuwanderern durch Angela Merkel während der Flüchtlingskrise von 2015 geschah im Rahmen des fortgesetzten Bedarfs an Arbeitskräften, ohne dass man freilich das Vorhandensein moralischer Erwägungen ausschließen kann. Warum sollte man sich das Gefühl vorenthalten, gerecht und gut zu sein, wenn man zugleich das tut, was ökonomisch notwendig ist? (...)

Kehren wir zurück zum Fall einer Stammnation, die an Macht gewinnt. Deutschland unter Wilhelm II. war dafür ein Idealtypus. Als erste Industriemacht des Kontinents zog es vereint, herrschend und herrisch Europa mit in seinen ersten Untergang. Die Personen, die es regierten, nicht nur Wilhelm II. und sein Gefolge, sondern auch die oberen deutschen Klassen, hatten den Kontakt zur Realität verloren. Die Oberhäupter wagten es, nicht nur Frankreich herauszufordern (wie üblich), sondern im gleichen Augenblick auch Russland und England (welche sie unterwegs als Zugabe noch durch die Vereinigten Staaten ergänzten), und schufen so ein Allianzsystem von unerhörter Macht gegen sich selbst. Deutschland über alles.

Dieses Unvermögen der Regierenden von Stammländern, mit Macht umgehen zu können, traf auch Japan, führte zum Angriff auf Pearl Harbor und brachte die erste Wirtschaftsmacht der Epoche zu Sturz. Der Verlust an self-control von Menschen an der Spitze der Pyramide könnte als strukturell induzierter Größenwahn in der Stammgesellschaft bezeichnet werden.

Deutsche Elite verweigert sich ihrer Autonomie

Die Rückkehr Deutschlands als dominierende Macht des Kontinents deutete auf eine neue Phase dieser Art hin. Seine Interventionen bei der Auflösung Jugoslawiens und der Tschechoslowakei wie auch die Hinwendung der Europäischen Union unter seiner Führung zur Ukraine, die 2014 zum Maidan führte, erinnern fürchterlich an die Expansionsgeografie der Nationalsozialisten. Der Ukrainekrieg hingegen hat uns auf einmal das Gegenteil beobachten lassen: eine Absage, ja, eine Weigerung, Einfluss auf die Ereignisse zu nehmen.

Die deutsche Elite verzichtet nach und nach darauf, so scheint es für den Moment, die Interessen ihres Landes zu verteidigen: im Falle Russlands auf seine energiepolitischen und wirtschaftlichen Interessen. Sogar seine Beziehung mit dem ökonomisch noch wichtigeren China lässt sich Deutschland verderben. Man gewinnt den Eindruck, dem Handeln, oder besser dem Nicht-Handeln, der zwergenhaften, untergeordneten Führungsschicht einer Stammgesellschaft zuzusehen, die sich ihrer Autonomie verweigert und nach Unterwerfung strebt.

Zahlreiche Faktoren könnten diese Wachstumsverweigerung erklären. Deutschland ist ein schrecklich überaltertes Land, das Durchschnittsalter liegt bei fast 46 Jahren. Vielleicht ist dieser Verzicht charakteristisch für eine Gerontokratie. Ältere Menschen sind alles andere als abenteuerlustig. Auch das schlechte historische Gewissen könnte es erklären. In seinem Verlangen nach Buße strebt Deutschland danach, auf der Seite des Guten zu stehen: Die offenkundige Aggression Russlands – das Böse auf dem Vormarsch, wenn man nicht weiter darüber nachdenkt – vereinfachte ihnen eine solche Haltung. Wie könnte man sich auch nicht mit der kleinen Ukraine solidarisch zeigen?

Westliche Nationen ohne Seele

Doch der wahre Grund liegt meiner Ansicht nach tiefer, im System. Die Schwierigkeit, Oberhaupt eines Stammsystems zu sein, wird in Deutschland verstärkt durch das Fehlen eines Nationalbewusstseins und damit eines leitenden Handlungsprinzips. Vor Angst wird das Stammoberhaupt passiv. Wenn wir uns mit den individualistisch und zudem historisch dominanten anglo-amerikanischen Gesellschaften befassen, werden wir analog zu Deutschland das Fehlen eines nationalen Projekts feststellen, aus dem dieselbe Leere, derselbe Zerfall kollektiver Kräfte resultieren, was aber keineswegs Passivität, sondern fieberhaften Aktionismus hervorbringt, gesteuert eher noch von Cliquen als von doktrinär organisierten Parteichefs. Die soziale Fragmentierung ist überall und verursacht Passivität bei den Beherrschten und Aktionismus bei den Herrschenden. Dasselbe Trägheitsprinzip leitet alle westlichen Nationen, sie alle sind „träge“, ohne Seele.

Unterdessen ist noch nicht gesagt, dass sich auf lange Sicht die Entscheidung, passiv zu sein, wenn man es so nennen kann, auf Deutschland nur negativ auswirken wird, auch wenn die Konsequenzen auf kurze Sicht katastrophal wirken. Ich werde in der Schlussbemerkung dieses Buchs die Gelegenheit haben, ein Deutschland zu beschreiben, dass sich, wenn die NATO erst aufgelöst ist, mit Russland wieder versöhnt. (...)

Krieg zur Kontrolle der Vasallen

In der Kontrolle der Vasallen entscheidet sich das materielle Überleben der USA. Nun würde das Erreichen der russischen Ziele in der Ukraine, gefolgt von einem Ausbleiben der russischen Expansion in Europa – „Was? Es gab keine Bedrohung, wir haben die Ukraine umsonst unterstützt!“ – zu einem Zerfall der NATO führen. Das würde vor allem dazu führen, dass die große amerikanische Angst wahr wird: die Versöhnung zwischen Deutschland und Russland. Der Krieg muss aus Sicht der USA weitergehen, nicht um die ukrainische „Demokratie“ zu retten, sondern um ihre Kontrolle über Westeuropa und Ostasien aufrechtzuerhalten.

Emmanuel Todd, „Der Westen im Niedergang“, Westend, 352 Seiten, 28 Euro

Anmerkungen

(1) Emmanuel Todd, La Chute finale. Essai sur la décomposition de la shère soviètique, Robert Laffont, 1976; neue erweiterte Auflage 1990.
(2) Jacques Bainville, Les Conséquences politiques de la paix, Gallimard, coll. „Tel“, 2002.

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SIGRID PETERSEN, 26. Oktober 2024, 19:50 UHR

Mir gefallen so einige Sichtweisen und vor allem die Bezeichnungen. „Nihilismus tendiert dann unwiderstehlich dazu, den Begriff der Wahrheit selbst zu zerstören und jede vernünftige Beschreibung der Welt zu verbieten.“ Es ist genau das, was wir derzeit erleben.

Oder auch die Bezeichnungen „liberale Oligarchie“ für den Westen und „autoritäre russische Demokratie“ (wie autoritär oder an welcher Stelle es letztlich in Russland autoritär zugeht, entzieht sich meiner Kenntnis). Dass hier der RN, die AfD und Trump als die Parteien identifiziert werden, die das Arbeitermilieu und das unterdrückte Kleinbürgertum vertreten, wird SPD-, Die-Linke- und BSW-Fans zum Rotieren bringen und zum sofortigen Lesestopp veranlassen. Insgesamt ein paar interessante Gedanken zu einer Neu- / Hintergrundbeleuchtung dessen, was hier gerade passiert.

Den Gedanken zum Unvermögen, mit Macht umzugehen am Beispiel des WKI festgemacht, teile ich nicht. Hier sollte man die seit über 100 Jahren geltende anglo-amerikanische Interessenpolitik nicht vergessen, die maßgeblich für den Ausbruch des 1. Weltkrieges ursächlich war. Aber passend auch wieder hier: "Invertierter Totalitarismus" In diesem Textauszug findet man praktisch die Merkmale wieder, die auch den invertierten Totalitarismus beschreiben.

GUTEN MUTES, 28. Oktober 2024, 13:30 UHR

Das ist ein sehr spannender Beitrag zum Verständnis gegenwärtiger globaler Dynamiken. Ich finde sowohl die Beschreibung erhellend und die gewählten Begriffe interessant, als auch spannend, dass zu ihrer Erklärung nicht nur rationale auch irrationale Gründe herangezogen werden. Genauso erscheint es: Wir leben in einer Art Übergang von der Demokratie mit ihren fortbestehenden Strukturen und verlustig gehenden Sitten hin zu einer Oligarchie ... in einer Zeit, die diplomatisch unfähige Politiker*innen hervorbringt, welche über den Einfluss der Oligarchie und ihr Umverteilungsprojekt hinwegtäuschen ... und dafür in vermeintlich oder tatsächlich autoritären Demokratien ihre Gegenspieler suchen, ... in einer Zeit mit irrational wirkenden Selbstzerstörungstendenzen als Ausdruck vom Verlust wichtiger Orientierungen und eines aggressiven Nihilismus ...

Ob diese Staatsform wirklich liberal in einem weiteren Sinne ist und tatsächlich schon nur imstande ist, Toleranz gegenüber Minderheiten hervorzubringen, bezweifele ich, und dennoch scheint dies ein Unterschied im staatlichen Handeln, der kennzeichnend aus dieser Dynamik hervorgeht ... was geschieht, entzieht sich so oft dem Verstehen ... aber hier habe ich das Gefühl, mich ihm anzunähern ... Ich überlege, das Buch zu erstehen. Danke!

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