Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer
PAUL SCHREYER, 22. November 2024, 9 Kommentare, PDFHinweis: Dieser Beitrag ist auch als Podcast verfügbar.
Zunächst: Das aktuelle Dilemma Moskaus ist kein Militärisches. In der Ukraine ist Russland seit Monaten auf dem Vormarsch, die Niederlage Kiews unvermeidlich, wie auch westliche Leitmedien inzwischen vereinzelt einräumen. Das russische Dilemma ist vielmehr ein Problem der Kommunikation. Wie kann Verbindung mit westlichen Politikern aufgenommen werden, wenn diese sich taub stellen oder eben „schlafen“ in einer medialen Blase, in die nichts Störendes mehr vordringt, in der die Realität des Schlachtfeldes vor Ort und der multipolaren Bündnisse weltweit im Zweifel „Desinformation“ ist, jedenfalls kaum beachtet zu werden braucht, in der nur „Geschlossenheit“ zählt und die Beschwörung politischer Formeln, in der vor allem, immer weiter, auf Teufel komm raus, eskaliert wird, bis es – wirklich – knallt? Was kann Russland tun, um die dämmernde, schlafende Vernunft im Westen aufzuwecken?
In Reaktion auf westliche Angriffe mit weitreichenden Raketen auf russisches Staatsgebiet hat die russische Armee am 21. November nun mehrere neuartige Hyperschallraketen auf die ukrainische Großstadt Dnipro abgefeuert, die dort einen Rüstungskomplex trafen, in dem unter anderem Raketenkomponenten produziert wurden. Die Raketen mit der Bezeichnung Oreschnik (deutsch: Haselnuss) erreichen eine Geschwindigkeit von etwa 10.000 km/h und überwinden damit eine Distanz von 1.000 Kilometern in etwa fünf Minuten. In einer kurzfristig angesetzten Fernsehansprache (deutsche Übersetzung hier) erläuterte Präsident Putin am Donnerstagabend, dass westliche Luftabwehrsysteme „diese Raketen nicht abfangen“ können.
Mit den vorausgegangenen Angriffen westlicher Raketen großer Reichweite am 19. und 21. November auf russisches Staatsgebiet habe sich etwas Wesentliches verändert, so der russische Präsident: „Von diesem Moment an“ habe der Krieg in der Ukraine „Elemente globaler Natur angenommen“. Fortan drohen Vergeltungsschläge direkt in den Ländern, die einen Waffeneinsatz gegen russisches Staatsgebiet erlauben, so Putin:
„Die Ziele zur Zerstörung bei weiteren Tests unserer neuesten Raketensysteme werden wir auf der Grundlage der Bedrohungen für die Sicherheit der Russischen Föderation bestimmen. Wir betrachten uns als berechtigt, unsere Waffen gegen militärische Ziele derjenigen Länder einzusetzen, die den Einsatz ihrer Waffen gegen unsere Ziele erlauben, und werden im Falle einer Eskalation der aggressiven Aktionen ebenso entschieden und in gleicher Weise reagieren. Ich empfehle den herrschenden Eliten jener Länder, die Pläne für den Einsatz ihrer Militärkontingente gegen Russland schmieden, ernsthaft darüber nachzudenken.“
Der russische Botschafter in Großbritannien erklärte derweil im britischen Fernsehen, nach dem Raketenangriff mit britischen Raketen auf russisches Staatsgebiet sei Großbritannien jetzt „direkt am Krieg beteiligt“, da die Raketen nur mit Hilfe von britischem Militär bedient und eingesetzt werden können.
Auf Deutschland bezogen heißt dies: Falls deutsche Politiker weiterhin erwägen, Taurus-Raketen an die Ukraine zu liefern und diese russisches Staatsgebiet treffen, sieht sich die russische Regierung legitimiert, militärische Ziele in Deutschland zu zerstören – und wird dies wahrscheinlich auch tun. Russische Hyperschallraketen werden dann in fünf Minuten auf deutschem Boden einschlagen. Der Krieg käme in die deutsche Provinz, etwa ins bayerische Schrobenhausen, Sitz des Rüstungskonzerns MBDA, der die Taurus-Raketen produziert. Potenzielle Ziele wären auch andere deutsche Waffenhersteller wie Rheinmetall (Düsseldorf), Airbus (Ottobrunn, Manching), Krauss-Maffei Wegmann (München), Diehl (Nürnberg) sowie militärische Hauptquartiere von Bundeswehr und Nato überall im Land. Brigadegeneral a. D. Erich Vad, langjähriger oberster militärischer Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel, hat soeben in einem warnenden Szenario dargestellt, was dann in Deutschlang passieren würde.
Es ist beängstigend, dass deutsche Spitzenpolitiker von Merz über Habeck bis Lindner für eine derartige Gefahr völlig blind zu sein scheinen und offenbar darauf vertrauen, dass die russische Regierung nur bluffe und Deutschland – warum eigentlich? – nie in direkte Gefahr geraten könne. Diese Blindheit ist wesentlich einer Medienlandschaft geschuldet, die den kriegerischen Ambitionen einer parteiübergreifenden politischen Klasse kein Contra gibt – obwohl seit Monaten etwa eine klare Mehrheit der Bevölkerung sich gegen eine Lieferung weitreichender Raketen an die Ukraine wendet. Laut jüngster Umfrage sind es 61 Prozent, im Osten sogar 76 Prozent, die dies klar ablehnen. Einzig unter den Anhängern der Grünen gibt es eine Mehrheit für die Lieferung dieser Raketen.
Es geht, so darf man sagen, zum jetzigen Zeitpunkt nicht darum, wie man politisch zur russischen Regierung steht, für wie sympathisch oder unsympathisch man Wladimir Putin hält, für wie moralisch, unmoralisch, berechtigt oder unberechtigt die russische Kriegsführung. Es geht jetzt, in diesen Tagen, auch nicht um Solidarität mit der Ukraine, westliche Werte oder eine andere der vielfach kursierenden Formeln. Derzeit steht etwas Grundlegenderes auf der Tagesordnung: Ein unmittelbar drohender Krieg in Westeuropa und die Schaffung einer Möglichkeit, diesen mit aktiver Nutzung sämtlicher öffentlicher und diplomatischer Kanäle zu verhindern. Moskaus Dilemma muss aufgelöst werden – und das kann nur hier, im Westen, geschehen, vor allem in den Medien, wo endlich die Wahrheit auf die Titelseiten muss: Der Krieg in der Ukraine ist verloren, Verhandlungen mit Russland unvermeidlich, eine weitere Eskalation, nur um vermeintlich das Gesicht zu wahren, verantwortungslos und reiner Selbstmord.
Der spanische Maler Francisco Goya betitelte Ende des 18. Jahrhunderts eine Radierung aus seinem berühmten Zyklus „Caprichos“ mit dem Satz: „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“. Wer von diesen nicht überwältigt werden will, der muss wach sein – und auch andere wecken. Das Schlussblatt der Serie, das fliehende Gespenster darstellt, die die Würdenträger der Heiligen Inquisition – die damals herrschende Elite – symbolisieren, trägt den Titel „Ya Es Hora“ – „Es ist Zeit“.
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