„Das ist nicht hinnehmbar“
KARSTEN MONTAG, 4. November 2025, 8 Kommentare, PDFMultipolar: Herr Dr. Günther, Herr Dr. Rockenfeller, Ihre Forschungsergebnisse, peer-reviewed veröffentlicht im Oktober, zeigen auf Basis offizieller Daten, dass 86 Prozent der in der Corona-Zeit positiv Getesteten gar nicht infiziert waren. Bevor wir auf die Details eingehen: Hat das vor Ihnen schon einmal irgendjemand sonst entdeckt und publiziert?
Günther: Definitiv nein. Wir haben ja deutsche Daten ausgewertet. Also ist das Spektrum der Wissenschaftler, die sich damit beschäftigt haben könnten – einschließlich derjenigen, die beim RKI oder bei ähnlichen Behörden arbeiten – auf den deutschsprachigen Raum begrenzt. Aus dem Literaturüberblick wissen wir, dass niemand zuvor die ALM-Daten mit einem Zahlenwert zitiert hat.
Multipolar: ALM ist der Verband „Akkreditierte Labore in der Medizin“, der in der Corona-Zeit eine wesentliche Rolle bei der Diagnostik spielte, und dessen Daten sie ausgewertet haben.
Rockenfeller: Auch unabhängig von den ALM-Daten hat noch niemand den quantitativen Wert der Überschätzung der anhand der PCR-Tests ermittelten Infektionen von 86 Prozent ermittelt. Es gab schon Publikationen, die festgestellt haben, dass eine Überschätzung stattgefunden hat – auch unabhängig davon, dass Falsch-Positiv-Tests auftreten und hohe CT-Zyklen problematisch sind. Doch einen harten quantitativen Wert von eins zu sieben – also nur einer von sieben positiv Getesteten war auch tatsächlich infiziert – hat nach meinem Wissen noch niemand ermittelt.
Günther: Auch unsere Methode habe ich noch nirgends in der vorhandenen Literatur gesehen. Wir haben ja eine Kalibrierung der PCR-Tests anhand der Antikörpertests vorgenommen. Das sind zwei unabhängige Messdatenreihen. Es gab eine Studie in der Schweiz, die sowohl PCR- als auch Antikörper-Messungen ausgewertet hat. Doch ein quantitativer Bezug zwischen diesen Messreihen wurde darin nicht durchgeführt.
Multipolar: Sie haben auf Basis der gleichen Daten auch ermittelt, dass Ende 2020, vor Einführung der Corona-Impfung, schon ein Viertel der Bevölkerung Antikörper durch den Kontakt zum Virus gebildet hatte, die Impfung also für diesen Teil der Bevölkerung nicht notwendig war. Die Daten, die Sie verwendet haben, waren all die Jahre lang nicht geheim. Ist es korrekt, dass Sie auch hier die Ersten sind, die das publizieren?
Günther: Dieser Wert basiert auf empirischen Daten der Labore. Das ist noch nicht einmal das Ergebnis unserer Analyse. Die Daten habe ich auf der Webpage des Vereins ALM in einer Grafik abgelesen. Um die Jahreswende 2020/2021 waren circa 25 Prozent der Antikörper-Messungen positiv. Ich habe bei den Nachdenkseiten in einem Leserbrief zu einem Artikel den Hinweis auf die Webpage der ALM gefunden. Ich vermute, ich war der Einzige, der diese Zahlen systematisch abgelesen hat. Jetzt sind sie für die Nachwelt gesichert und können als Anhang unserer Studie heruntergeladen werden.
Rockenfeller: Die 86 Prozent Überschätzung der mittels PCR-Test ermittelten Infizierten ist ein Ergebnis unserer Modellanpassung. Der positive Anteil von 25 Prozent an allen Antikörpertests Ende 2020 sind wirklich gemessene Daten, die von dem Fachverband ALM zur Verfügung gestellt wurden.
Günther: Wir haben die Webpage auch im Anhang der Studie gesichert, weil die ursprüngliche Seite nicht mehr existiert. Dort steht, dass der Verband der Akkreditierten Labore in der Medizin, ALM e.V., seit Anfang März 2020 „in Abstimmung mit den Behörden auf Bundesebene eine strukturierte und standardisierte Datenerhebung“ durchführt. Für die Datenerfassung wurde offenbar vom Verein ALM eine GmbH ausgegründet, die das Projekt namens „Corona-Diagnostik Insights“ betrieben hat. An der Datenerhebung würden sich „bundesweit 179 Labore aus dem gesamten Bundesgebiet“ beteiligen, die circa „90 Prozent des aktuellen Corona-Testgeschehens aus allen Bereichen“ repräsentieren. Explizit als Partner genannt wurden das Bundesgesundheitsministerium, das Robert Koch-Institut (RKI), die Kassenärztliche Bundesvereinigung und der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen. Und es steht dort auch, dass die Daten ans RKI geliefert und dort zusammengeführt wurden. Das heißt, das RKI, das Gesundheitsministerium und die beteiligten Organisationen müssen die Daten gesehen haben. Sie waren auf diese grafische Art und Weise – roh, ohne Interpretation und ohne Kommentar – für eine gewisse Zeit sichtbar.
Multipolar: Wenn man jetzt – wie Sie in Ihrer Studie festgestellt haben – davon ausgeht, dass nur maximal jeder siebte PCR-Positive tatsächlich infiziert war, was hat das für Auswirkungen auf die Inzidenzen, Krankenhausfälle und Todesfälle, die man anhand der PCR-Tests gezählt hat?
Günther: Als Naturwissenschaftler würde ich sagen, es gibt gute Gründe dafür, dass man schlicht und einfach jede Zahl, die mit einem COVID-19-Fall oder einem COVID-19-Tod zusammenhängt, durch sieben teilen muss. Es gab ja auch keine systematische Untersuchung, in der beispielsweise die COVID-19-Toten genauer bestätigt worden sind. Es gab laut RKI nur das einzige Kriterium eines positiven PCR-Tests. Es war sogar unerheblich, ob klinische Symptome vorlagen oder nicht. Rechtlich gesehen war der PCR-Test das einzige Merkmal für eine Infektion. Das gilt homogen auch für alle anderen epidemiologischen Größen wie die Inzidenz oder die COVID-19-Fälle. Das heißt, man kann jetzt alles, was von der WHO und anderen Behörden erzählt wurde, um den Faktor sieben herunterschrauben.
Rockenfeller: Ich möchte an dieser Stelle noch einmal mit den Henle-Koch-Postulaten auf den Unterschied zwischen PCR-Test und Antikörpermessung hinweisen. Jakob Henle war der Doktorvater von Robert Koch, dem das RKI seinen Namen verdankt. Die beiden haben durch ihre Arbeiten vier Kriterien inspiriert, wie man eine Infektionskrankheit feststellt. Nämlich, dass man nachweisen muss, wo der Erreger zu finden ist, dass man ihn in Reinkultur züchten muss, dass man so etwas wie eine Eindring- und Vermehrungskompetenz bestimmen muss und dass man Antikörper nachweisen muss. Das heißt also, der Erreger muss nicht nur irgendwo zu finden sein und es muss nicht nur klar sein, um was für einen Erreger es sich handelt. Es muss auch bestätigt sein, dass der Erreger in den Körper eingedrungen ist und sich dort vermehrt, um eine Infektionskrankheit nachzuweisen. Als weitere Stufe muss dann der Körper noch Antikörper bilden – also eine Antwort auf das Eindringen des Erregers gebildet haben. Dann kann man das eine Infektion nennen.
Der PCR-Test weist lediglich nach, wo der Erreger ist – nämlich in der Schleimhaut, dem Einfallstor in den Körper. Die Eindring- und Vermehrungskompetenz kann man höchstens versuchen mit dem CT-Wert abzubilden, indem man das, was man findet, so lange verdoppelt, bis der Erreger nachweisbar ist. Wenn man nur wenige Verdoppelungszyklen benötigt, war viel Virusmaterial vorhanden. Wenn man viele Zyklen braucht, dann war vermutlich nur wenig Material vorhanden und die Eindringkompetenz war niedrig. Der PCR-Test weist also nur nach, wo sich der Erreger befindet, um was für einen Erreger es sich handeln könnte und wie seine Eindringkompetenz sein könnte. Er weist jedoch insbesondere nicht nach, ob der Körper Antikörper gebildet hat – also ob der Erreger eingedrungen ist und eine Infektion ausgelöst hat. Wenn man demnach aufgrund eines positiven PCR-Tests sagt, jemand sei infiziert – so wie Christian Drosten das im August 2025 noch im Untersuchungsausschuss in Sachsen getan hat, dann ist das eine Lüge. Das weiß er auch selber. Denn er hat ja in seinen Publikationen stets geschrieben, dass ein positiver PCR-Test immer mit einem Antikörpertest abzugleichen ist, um eine Infektion festzustellen – beispielsweise in einer Veröffentlichung zum MERS-Coronavirus.
Das ist letztendlich auch der Treppenwitz in der Corona-Zeit. Zwar wurde die Definition von Infektionen in Paragraf 2 des Infektionsschutzgesetzes nicht angetastet. Dort heißt es nämlich, dass eine Infektion dann vorliegt, wenn der Organismus einen Krankheitserreger aufnimmt und dieser sich dort entwickelt und vermehrt. Der Witz ist jedoch, dass der Nachweis dazu über einen PCR-Test geführt werden soll. So steht es in dem neu hinzugekommenen Paragraf 22a. Dort heißt es in Absatz 2, dass eine Genesung der Krankheit nur noch ausschließlich über den PCR-Test nachgewiesen werden darf. Das ist unfassbar.
Günther: Das ist intellektuell inkonsistent. Seit 1942 gibt es für Viren Antikörpertests. Seit über 80 Jahren ist dies die Standardmethode zur Feststellung einer Infektion gewesen. Die wird einfach über den Haufen geworfen – und zwar auch noch falsch. In Paragraf 22a, Absatz 3 des Infektionsschutzgesetzes wird zum einen einzig das Nicht-Vorhandensein einer Infektion – zu belegen durch eine Testung – gesetzlich fixiert. Zum anderen wird zum Beleg des Nicht-Vorhandenseins ausschließlich – verschlüsselt durch die Formulierung „direkter Nachweis“ – ein PCR-Test zugelassen. Das ist perfide und vernebelnd, denn hier wird die Beweislastumkehr zu Ungunsten des Individuums zementiert, und das zudem noch mit einer Nachweismethode, die – wie bereits gesagt – keine Infektion nachweist.
Multipolar: Wie sind die beiden vom ALM-Verband veröffentlichten Messreihen der PCR- und der Antikörpertests zustande gekommen?
Günther: Das Material für die PCR-Tests wird bei einem individuellen Menschen dadurch erzeugt, dass man im Rachenraum von der Schleimhaut einen Abstrich macht. Für die Antikörpertests wird Blut abgezapft. Die beiden Tests repräsentieren im Grunde auch die beiden Immunsysteme des Körpers – das epitheliale und das humorale Immunsystem, also das Schleimhautimmunsystem und das funktional davon getrennte Immunsystem im Blut und in den Lymphgefäßen.
Multipolar: Die PCR-Tests wurden durchgeführt, um die Symptome einer COVID-19-Erkrankung zu bestätigen, jedoch vielfach auch anlasslos und ohne Symptome – beispielsweise um als Ungeimpfter weiter an seinem Arbeitsplatz tätig sein zu dürfen. Wie kamen die Antikörpertests zustande?
Günther: Ein Hausarzt hat mir erzählt, dass der Auslöser in der Regel vom Patienten gekommen ist, der aus verschiedenen Gründen wissen wollte, ob er Antikörper gegen SARS-CoV-2 gebildet hat. Theoretisch würde man – wie bereits gesagt – so einen Test machen, wenn man eine klinische Diagnose stellt, um festzustellen, um welche Krankheit es sich handelt. Dann kann der Arzt im Sinne des Patienten entscheiden, wie gezielt therapiert werden kann. Eigentlich erfolgt zunächst die klinische Bestandsaufnahme, die Anamnese, die anhand der Symptome gestellt wird. Nach dieser Hypothesenbildung durch den Arzt kann mit einem Antikörpertest weiter ausdifferenziert werden. Das ist ja der eigentliche Sinn und Zweck dieses Tests.
Multipolar: In Ihrer Studie haben sie die Ergebnisse der PCR-Tests mithilfe der Ergebnisse der Antikörpertests kalibriert. Mit Kalibrierung meinen Sie, dass Sie die beiden Messreihen der PCR- und der Antikörpertests ins Verhältnis zueinander gesetzt haben, um zu ermitteln, wie viele der PCR-Positiven überhaupt Antikörper gebildet haben – das heißt, tatsächlich infiziert waren. Wie hängen PCR-Tests und Antikörpertests zusammen?
Günther: Jetzt kommen wir zur Methodik. Nehmen wir zunächst einmal die 7-Tage-Inzidenz. Dabei werden die positiven PCR-Tests pro Woche gemessen. Es kommen also jede Woche neue Menschen mit positiven PCR-Tests hinzu. Der PCR-Test ist wie ein Schnappschuss. Menschen sind vielleicht zwei Wochen PCR-positiv. Davor waren sie es nicht und danach auch nicht. Hier werden Tests eine Woche lang aufgesammelt, also ein Schnappschuss als Wochen-Wert erstellt. Die Antikörpermessung im Blut stellt hingegen ein physiologisches Gedächtnis dar. Die Messung von Antikörpern kann auf eine Infektion vor zwei oder drei Wochen, vor zwei Monaten oder vor einem Jahr zurückzuführen sein. Der Antikörperstatus zu einem bestimmten Zeitpunkt ist praktisch so etwas wie eine Summe über die Vergangenheit. Um den PCR-Test zu kalibrieren, muss ich daher schlicht und einfach die Summe aller positiven PCR-Tests der Vergangenheit mit den positiven Antikörpermessungen am Endzeitpunkt einer bestimmten Woche vergleichen.
Multipolar: Wenn man die in Ihrer Studie abgebildeten Diagramme betrachtet, findet man unter (A) die absoluten Zahlen der Gesamttests sowie der positiven Tests – wobei Sie für die PCR-Tests aufgrund der unterschiedlichen Größenordnungen eine andere Y-Achse eingeführt haben als für die Antikörpertests. Unter (B) haben Sie jeweils das Verhältnis der positiven Tests zu den Gesamttests dargestellt. Können Sie anhand der Diagramme erklären, wie Sie die Messreihen der PCR- und Antikörpertests ins Verhältnis gesetzt haben?

Abbildung 1: (A) Vom ALM-Verband bereitgestellte deutsche SARS-CoV-2-Testzahlen über die Kalenderwochen aufgetragen, (B) Vom ALM-Verband bereitgestellte und modellierte deutsche SARS-CoV-2-Testanteile über die Kalenderwochen aufgetragen, Quelle: Günther, M., Rockenfeller, R., Walach, H.: A calibration of nucleic acid (PCR) by antibody (IgG) tests in Germany: the course of SARS-CoV-2 infections estimated
Günther: Wir gehen methodisch davon aus, dass die Messreihen der ALM-Labore Stichproben waren. In der ersten Näherung gehen wir davon aus, dass diese Stichproben repräsentativ für die deutsche Bevölkerung waren. Unter der Annahme, dass jeder positive PCR-Test mit einer Infektion einhergeht, müssten die aufsummierten Prozentsätze der positiven PCR-Tests mit dem Prozentsatz der positiven Antikörpertests zu einem bestimmten Zeitpunkt übereinstimmen. Dann darf da kein Faktor dazwischen sein. Sie müssen also in Abbildung (B) im Kopf die wöchentlich gemessenen Anteile der positiven PCR-Tests – das ist die grüne Kurve – aufsummieren und mit der lila gepunkteten Kurve vergleichen. Wenn jeder positive PCR-Test eine Infektion anzeigen würde, müsste diese Summe mit der lila gepunkteten Kurve für den Anteil der positiven Antikörpertests zu jedem Zeitpunkt übereinstimmen.
Multipolar: Eine derartige Kurve wäre jedoch viel steiler als die lila gefärbte Kurve, oder?
Rockenfeller: Genau. Wenn man alle Anteile der positiven PCR-Tests ohne einen verkleinernden Faktor aufsummiert, wären wir im Herbst 2020 schon bei einem Anteil von 100 Prozent positiver Antikörpertests gewesen.
Multipolar: Wenn man davon ausgeht, dass die PCR-Tests eine repräsentative Stichprobe darstellen und ein positiver PCR-Test immer auch eine Infektion bedeutet, dann wären also Ende 2020 schon alle Menschen in Deutschland mit SARS-CoV-2 infiziert gewesen. Damit ist die Behauptung, dass ein PCR-Test immer auch auf eine Infektion hinweist, doch bereits ad absurdum geführt, oder?
Günther: Genau. So können Sie es formulieren.
Rockenfeller: Man muss natürlich ausschließen, dass ein Großteil der Menschen nicht doppelt und dreifach getestet wurden. In einer anderen Studie haben wir jedoch plausibel überprüft, dass es bis zum Sommer 2021 nur sehr wenige Doppeltestungen gab.
Günther: Geht man nun – wie in unserer Modellierung – davon aus, dass nur 14 Prozent der positiven PCR-Tests – oder jeder siebte positive PCR-Test – mit einem positiven Antikörpertest einhergeht, dann ergibt sich für die Summe der Anteile der positiven PCR-Tests die grau unterlegte schwarze Kurve. Und diese stimmt in weiten Teilen sehr gut mit dem jeweiligen positiven Anteil der Antikörpertests überein.
Rockenfeller: Wenn wir berücksichtigen, dass die Antikörper-Stichprobe etwas verzerrt ist, weil sich eher erkrankte als nicht erkrankte Menschen haben testen lassen, dann kommen wir ungefähr auf den Faktor zehn. Das ist in der Abbildung (B) durch die gestrichelte schwarze Linie dargestellt. Das macht es nicht gerade besser.
Günther: Eben. Die gestrichelte Kurve könnte also theoretisch die reale Kurve der Bevölkerung gewesen sein. Wenn das aber so ist, dann ist der Anteil der positiven PCR-Tests mit einer tatsächlichen Infektion noch geringer – nämlich ungefähr einer von zehn statt einer von sieben. Je geringer der Anteil der positiven Antikörpertests, desto schlechter bilden die PCR-Tests das tatsächliche Infektionsgeschehen ab.
Multipolar: In der Abbildung haben Sie auch zwei Sterne angegeben. Diese stellen die aus RKI-Reporten angegebenen Anteile der positiven Antikörpertests dar. Der zweite Stern Ende 2021 passt sehr gut mit Ihrer Annäherung überein. Doch der erste Stern im November 2020 befindet sich deutlich unter den Werten der ALM-Labore. Da hat das RKI angegeben, dass nur 2,8 Prozent der Bevölkerung Antikörper gebildet haben. Wie kann man diese Diskrepanz erklären?
Günther: Für einen Naturwissenschaftler liegt die naheliegendste Erklärung darin, dass es methodische Unterschiede bei den Messungen gab. Das wäre das Erste, wo man nachsuchen würde. Wir können nur sagen, die ALM-Labore sind die professionellsten. Das ist sicher anerkannt. Wir gehen davon aus, dass die ALM-Labore Ampullen mit Blut eingeschickt bekommen haben, das direkt aus dem Blutkreislauf gezogen wurde. Das RKI hat diese Messungen nie gemacht. Die Behörde hat einige diesbezügliche Studien laufen lassen. Eine davon war zum Beispiel, Antikörper in Blutkonserven nachzuweisen. Wir wissen nicht, von welchen Menschen die Blutkonserven stammen. Wir wissen nicht, ob diese Messung qualitativ gleichwertig mit denjenigen der ALM-Labore ist.
Dann hat das RKI eine andere Studie beauftragt, in der in der Zeit des Lockdowns Sets zur Blutentnahme an Teilnehmer verschickt wurden. Die Teilnehmer haben sich dann zu Hause in den Finger gestochen und eine so genannte Trockenblutprobe abgegeben. Welchen Einfluss die unterschiedlichen Messmethoden auf das Ergebnis haben, können wir nicht beurteilen. Das wäre eine Frage an die Profis in den Laboren, die regelmäßig Antikörpertests durchführen. Meine persönliche Vermutung ist, dass diese Messmethoden vom RKI ausgewählt wurden, damit niedrige Werte dabei herauskommen. Ich vermute, dass die nachgeordneten Messmethoden zu der Verzerrung geführt haben.
Rockenfeller: Das ist natürlich Spekulation. Doch wenn man schon Mitte 2020 eine Impfkampagne plant und man möchte viele Menschen davon überzeugen, sich impfen zu lassen, dann muss man mit einem möglichst geringen Schutz der Bevölkerung argumentieren. Da ist ein Wert von unter drei Prozent überzeugender als 25 oder fast 30 Prozent.
Günther: 25 Prozent trotz Maßnahmen! Nur nebenbei bemerkt.
Rockenfeller: Das ist selbstverständlich unsere Interpretation, die natürlich auch falsch sein kann. Doch die unfreiwillige Freigabe der RKI-Protokolle hat ja durchaus gezeigt, dass die Maßnahmen der Regierung oft nicht wissenschaftlich, sondern in Breite politisch motiviert waren.
Multipolar: Haben Sie das RKI mit den stark abweichenden Werten der ALM-Labore bei dem Anteil der positiven Antikörpertests konfrontiert?
Günther: Nein, das haben wir nicht gemacht. Ich wüsste gar nicht, an wen ich mich überhaupt beim RKI wenden sollte. Die Daten der ALM-Labore für die beiden Messreihen der PCR- und Antikörpertests stellen methodisch das Höchstwertige dar, was man erwarten kann. Das RKI hat jetzt die Möglichkeit, einen so genannten „Letter to the Editor“ zu schreiben, um darin nachzuweisen, dass wir einen Fehler gemacht haben. Im Peer-Review-Verfahren haben wir über eineinhalb Jahren die Gutachter von der Validität der Messwerte und unserer Ergebnisse überzeugen können. Unsere Studie ist im Grunde eine Provokation an das RKI, um weitere Hintergrundinformationen zu diesen Zahlenwerten herausbekommen zu können.
Rockenfeller: Es gibt noch einen weiteren spannenden Punkt. Im Mai 2021 haben die ALM-Labore einen Anteil von 50 Prozent positiver Antikörpertests gemessen. Die Headline zu diesem Zeitpunkt hätte also lauten müssen, dass die Mehrheit der Bevölkerung immun ist. Stattdessen hieß es zu diesem Zeitpunkt beispielsweise vom Zentralinstitut der kassenärztlichen Versorgung, die Arztpraxen würden „den Impfturbo zünden“.
Günther: Ende 2021, als das RKI einen Anteil von 92 Prozent positiver Antikörpertests bekannt gab, hieß es von Ärzteverbandsvertretern zum Antreiben der allgemeinen Impfpflicht, wir hätten eine „Impflücke“.
Multipolar: Die Veröffentlichung der Messwerte für die Antikörpertests wurden vom Verein ALM im Mai 2021 eingestellt, die Veröffentlichung der Messwerte für die PCR-Tests jedoch fortgeführt. Was glauben sie, war der Hintergrund für diese Einstellung? Die Antikörpertests wurden doch sicher weiter vorgenommen?
Günther: Das vermute ich. Man würde das wahrscheinlich marktwirtschaftlich regeln. Man lässt einfach die Projektgelder für die ausgegründete GmbH, die für die Datenerfassung zuständig ist, auslaufen. Dann gibt es keinen Dienstleister mehr, der die Messreihen der Labore zusammenfasst. Die Daten sind ja offenbar vorhanden, denn das RKI gibt für Ende 2021 einen Wert von 92 Prozent positiver Antikörpertests an. Ich erwarte, dass die Kurve des Anteils der positiven Antikörpertests nach Mai 2021 wie in unserer Extrapolation in Form der schwarzen Linie weiter ansteigt. Wenn wir die tatsächlichen Werte für die Antikörpertests nach Mai 2021 zur Verfügung hätten, dann bräuchten wir noch nicht einmal eine Extrapolation. Dann hätten wir das Modell bestätigt und dessen Aussagekraft wäre noch viel stärker. Mit der Nichtveröffentlichung der tatsächlichen Messwerte nimmt man uns Wissenschaftlern die Möglichkeit zur Validierung unseres Modells.
Multipolar: Die Extrapolation basiert auf Ihrer Kalibrierung und geht im Grunde aus den aufsummierten Prozentsätzen der positiven PCR-Tests geteilt durch sieben hervor?
Günther: Genau. Bis Mai 2021 haben wir das Modell mit den vorhandenen Daten kalibriert und ab diesem Zeitpunkt stellt die schwarze Linie sozusagen eine Extrapolation dar, als würde dieselbe Gesetzmäßigkeit auch für den darauf folgenden Zeitraum gelten. Und damit kommen wir Ende 2021 exakt auf den Wert von 92 Prozent, den das RKI veröffentlicht hat.
Multipolar: Der Peer-Review-Prozess hat bei Ihrer Studie etwas länger gedauert. Die Preprint-Studie ist von Ihnen schon vor eineinhalb Jahren veröffentlicht worden. Was waren die Probleme bei der Veröffentlichung in einem Fachmagazin und was waren die Kritikpunkte der Peer-Review-Gutachter?
Günther: Wir haben die Studie bei insgesamt sieben Fachmagazinen eingereicht. Sechs Fachzeitschriften haben eine Veröffentlichung abgelehnt – vier davon waren so genannte „Desk Rejections“. Das heißt, der Herausgeber hat die Ablehnung damit begründet, dass man zu viele Einreichungen vorliegen hat, das Thema nicht ins Spektrum der Zeitschrift passt oder die Leserschaft schon genug zu dem Thema habe. Bei zwei Fachzeitschriften kam es tatsächlich auch zu Gutachten. Bei diesen Gutachten kamen Kritikpunkte auf wie etwa, man müsse bei der Auswertung auch zwischen den Geschlechtern, Alterskohorten und Prämorbiditäten unterscheiden. Man könne daher solche Schlüsse, wie wir sie ziehen, nicht bestätigen. Mit diesen Begründungen wurde aus unserer Sicht lediglich das allgemein geltende Narrativ geschützt. Auf unsere Validierung der Ergebnisse mit unserer Literaturrecherche sowie mit einem zweiten Modell wurde überhaupt nicht eingegangen. Bei derartigen Gutachten lässt der Herausgeber eine Veröffentlichung nicht zu.
Bei dem Magazin, wo die Studie letztendlich veröffentlicht wurde, hatten wir zunächst drei Gutachter. Die Gutachten haben mehr als drei Monate gedauert. Der Herausgeber hat uns dann die Chance gegeben, auf deren Kritikpunkte einzugehen. Daraufhin haben zwei Gutachter ihr Mandat niedergelegt. Als Folge musste der Herausgeber einen vierten Gutachter suchen, weil er nach den Richtlinien der Zeitschrift eine Studie nicht mit einem Gutachten annehmen oder ablehnen darf. Das hat einen weiteren Monat gedauert. Doch auch die Kritikpunkte dieses Gutachters konnten wir entkräften.
Multipolar: Was sollte aus Ihrer Sicht die Konsequenz aus Ihren Erkenntnissen sein?
Rockenfeller: Eine Konsequenz sollte mit Sicherheit die dringende Änderung der Paragrafen 22a und 28a sein. Das hätte man schon längst machen müssen. In Paragraf 22a geht es – wie bereits erwähnt – im Grunde darum, dass angeblich nur der PCR-Test das Vorliegen – oder auch Nicht-Vorliegen – einer Infektion nachweisen kann. Das ist schlicht und einfach falsch. Und in Paragraf 28a ist das Konzept der 7-Tage-Inzidenz festgelegt. Das ist eine völlig unbrauchbare Nominierung auf je 100.000 Einwohner. Eine andere Konsequenz sollte sein, dass man Antikörpertests braucht, die eine Infektion nachweisen, oder sogar den Unterschied zwischen erworbener und künstlicher herbeigeführter Immunantwort offenlegen. Auch bei den CT-Zyklen des PCR-Tests müsste es eine transparente und nachvollziehbare Standardisierung geben. Das sind Dinge, die eigentlich schon lange klar sind, aber immer noch im Gesetzestext nicht abgebildet sind. Das ist nicht hinnehmbar.
Zu den Interviewpartnern: Dr. rer. nat. Michael Günther, Jahrgang 1964, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Stuttgart. Er studierte Physik und promovierte an der Eberhard Karls Universität in Tübingen zum Doktor der Naturwissenschaften. Sein Fachgebiet ist die biomechanische Modellierung von Skelettmuskeln. PD Dr. Robert Rockenfeller, Jahrgang 1986, studierte Mathematik und promovierte an der Universität Koblenz zum Doktor der Mathematik. 2022 habilitierte er dort, ebenfalls im Fach Mathematik. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Biomechanik und Epidemiologie. Seit 2023 ist er Vertretungsprofessor für „Stochastik und Statistik“ an der Uni Koblenz.
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