
Corona-Aufarbeitung als Demokratisierung
PAUL SCHREYER, 30. Januar 2025, 20 Kommentare, PDFDie Demokratie, so heißt es, ist in Gefahr. Überall und unablässig wird zu ihrem Schutz aufgerufen, gegen Feinde von außen wie innen, Populisten, Autokraten, aber auch Bürger, die demokratisch gewählte Politiker beschimpften, alles Etablierte in Frage stellten. Gefährlich sei das. Diese Besorgnis, mal hilflos verzagt, mal kampflustig vorgetragen, wirkt einerseits ehrlich. Andererseits scheint sie vor allem eine Sorge um die Akzeptanz der Regierung zu sein, deren ungestörtes Wirken gleichgesetzt wird mit eben diesem Wort: Demokratie.
Ein Widerspruch scheint auf. Existierte sie tatsächlich, die Demokratie, müsste kaum Sorge um sie bestehen, da jeder Unmut einer Mehrheit ja rasch zu politischen Entscheidungen führte, die für mehr Zufriedenheit sorgten. Wer ist schon ernsthaft gegen ein System, das die Wünsche der breiten Masse ernst nimmt und das auch die Interessen von Minderheiten, wo immer sie politisch stehen, nicht arrogant übergeht, sondern einen verträglichen Ausgleich für alle zu finden versucht – eben Demokratie?
Die unerfreuliche Erklärung für diesen Widerspruch ist so schlicht, dass es fast peinlich erscheint sie auszusprechen: Demokratie existiert in Deutschland und anderswo nur in Bruchstücken, viel wirksamer zu allen Zeiten und stabil bis heute ist die Oligarchie, Herrschaft der Wenigen, zumeist der (Einfluss-)Reichen, mit vereinzelten demokratischen Einsprengseln und Mitbestimmungsrechten, hier und da in Revolutionen erkämpft, die letzte vor 107 Jahren. Das ist lange her.
Dass politische Beschlüsse heute nahezu ausschließlich den Vorstellungen derjenigen folgen, die kraft ihrer Vermögen oder persönlichen Netzwerke privilegierten Zugang haben zu den Kreisen, in denen Entscheidungen vorbereitet und vielfach auch getroffen werden, ist leider keine abseitige These, sondern durch Studien – in Deutschland sogar sehr gründlich im Regierungsauftrag verfasst – belegt, und zwar in einer für Demokraten beschämend klaren Weise, seit Jahren schon. Was Arme und Mittelschicht wollen, ob nun in Deutschland oder zum Beispiel auch in den USA, zählt nicht. Sie haben nichts zu sagen, können wählen wen sie wollen. Ihr Einfluss liegt konstant bei Null. (1)
Die „Demokratieverteidiger“ blenden das aus, behelfen sich mit Umdeutungen. Demokratie wird nicht, der Wortbedeutung folgend, als Regierung durch das Volk begriffen, auch nicht als Vollzug des Mehrheitswillens, neuerdings nicht einmal einmal mehr als lauter, heftiger Meinungsstreit – sondern als die mal freundliche, mal strenge Kunst, die Massen zu lenken. Zu ihrem besten natürlich. Denn den Massen, ungebildet, leicht verführbar, sei nun mal nicht zu trauen, sie bedürften der zielstrebigen Anleitung durch die Klügsten und Moralischsten.
Verschärfte Lenkung und Vormundschaft
Mit Corona hat sich dies alles verschärft, das Lenken und die angemaßte Vormundschaft. Es entschied die „Ministerpräsidentenkonferenz“, ein Konstrukt abseits der Verfassung, das konsequent auch gar keine Protokolle mehr führte (2), und in dem Ideen aufploppten und durchgewunken wurden, deren Herkunft und Quelle in vielen Fällen schleierhaft bleibt. Es waren radikale, oft absurde Ideen – Lockdown, FFP2-Maskenpflicht, 2G-Gesellschaftsspaltung, Nötigung zur Injektion experimenteller Präparate – die Millionen Menschen schädigten, häufig schwer. Regiert wurde von dieser informellen Versammlung der Landesfürsten nach Gutsherrenart, so deutlich, wie lange nicht mehr.
Musste das so sein, weil eine akute Gesundheitsgefährdung die Regierung dazu zwang? Dazu gehen die Ansichten auseinander und die Frage ist so wesentlich, dass eine Aufarbeitung der Coronazeit schon allein deshalb unvermeidlich sein dürfte, um sie befriedend zu klären. Nötig wäre es, sich um eine Faktengrundlage zu bemühen, auf die sich beide Seiten des Streits – Maßnahmenverteidiger und -kritiker – einigen können. Solange jeder in seiner Faktenblase verharrt, bleibt eine Versöhnung schwer denkbar.
Konkret heißt das: Welche Gefahr war im März 2020 wirklich messbar und nicht lediglich prognostizierbar? Wer sorgte dafür, dass die Idee zu einem Lockdown im Februar 2020 die Bundesregierung erreichte? Wie viele Coronatote seither sind belegbar? Wie viele Fälle Impfgeschädigter schlummern in den Datenbanken der Krankenkassen, deren Auswertung das Paul-Ehrlich-Institut seit Jahren verschleppt? Welches Schadpotenzial haben die mRNA-Präparate tatsächlich und wann genau wussten die verantwortlichen Behörden davon? Eine gemeinsame Faktengrundlage zu all diesen Fragen existiert nicht, sie sollte miteinander ausverhandelt werden, in einem gründlichen, langwierigen, offenen Dialog, der alle wissenschaftlichen Erkenntnisse einbezieht, auch die unbequemen.
In der Verweigerung eines solchen Dialoges liegt letztlich schon ein halbes Schuldeingeständnis: Man ahnt im Unrecht zu sein oder scheut ganz einfach aus Bequemlichkeit die Auseinandersetzung und will deshalb lieber „nach vorn schauen“. „Keine Fehlerdiskussion, Genossen“, mahnte Walter Ulbricht 1956, als es mit der Entstalinisierung im Ostblock begann. Gemeint war: Bitte jetzt keine Selbstkritik, die schwächt uns nur. Egon Krenz kommentierte dazu kürzlich mit Blick auf die DDR-Regierung: „Von den negativen Folgen dieser Aufforderung haben wir uns nie erholt.“
Sind es solche Einsichten die Frank-Walter Steinmeier nun plötzlich, am 25. Januar 2025, eine Corona-Aufarbeitung fordern lassen? „Es eilt“, so der Bundespräsident, und er werde diese Aufarbeitung, „wenn eine neue Regierung und ein neuer Bundestag sich dieser Aufgabe tatsächlich nicht widmen sollten“, umgehend selbst in die Wege leiten. Man staunt und erinnert sich an Steinmeiers markige Worte aus der Coronazeit: „Diejenigen, die sich nicht impfen lassen, gefährden uns alle.“ Das war sie, die gezielte und mutwillige Spaltung der Gesellschaft.
Ist es nun der frische Wind, der aus den USA weht, dem vormaligen Zentrum des Geschehens, von wo all die guten Ratschläge und Ideen („Lockdown“) kamen, wo jetzt aber die „Schwurbler“ regieren – und dabei doch die engen transatlantischen Partner bleiben müssen? Keine Frage, diese Schwierigkeit erfordert Anpassungsfähigkeit. Am schnellsten reagierte Karl Lauterbach. Kaum war Steinmeiers Forderung in der Welt, schloss er sich an. „Zügig“ müsse es jetzt gehen mit der Aufarbeitung, so der Herr des Ministeriums, das über Jahre mit Hilfe einer teuren Großkanzlei die RKI-Protokolle geheim halten wollte. Katrin Göring-Eckart, eine weitere Corona-Hardlinerin plädierte am Folgetag engagiert für eine „ungeschönte Aufarbeitung, ohne weitere Spaltung herbeizureden“. Als sei diese Spaltung eine Phantasie.
Aufarbeitung vor Ort: Chance zur Demokratisierung
Dennoch: In der Krise der kaum vorhandenen Demokratie führt die Möglichkeit einer Corona-Aufarbeitung zu einer Chance, wie es sie lange nicht gab. Eine Aufarbeitung ist eben nicht einfach der störende Versuch schlechtgelaunter Maßnahmenopfer nachträglich zu ihrem Recht zu kommen, es ist auch kein rückwärtsgewandtes Lamentieren. In einer Aufarbeitung, so sie denn dezentral an vielen Orten der Republik – in Städten, Gemeinden, Gesundheitsämtern, Krankenhäusern, Schulen und Universitäten – stattfindet, nicht verordnet von oben, sondern als freie Initiativen von Bürgern an der Basis, liegt ein vielseitig nutzbares Werkzeug zur Demokratisierung. Bürger debattieren und entscheiden vor Ort in eigener Verantwortung, was sie wollen und was sie so nie wieder erleben – oder besser: hilflos erleiden – wollen. Deshalb reicht für diese Aufarbeitung auch keine zentrale Instanz, sie muss dezentral vor Ort geschehen. Auch wenn die Widerstände, wie zuletzt in Wolfsburg, groß bleiben.
Wo Bürger sich selbst zur Aufarbeitung ermächtigen und die Verantwortlichen vor Ort zum Gespräch einladen, auf Augenhöhe, mit gegenseitigem Respekt, da kann, bestenfalls, etwas wachsen, was tatsächlich in Richtung einer Demokratie geht, wie sie bislang nur in Ansätzen real existiert. Mühsam wird es sein und lange wird es dauern. Doch das Thema hat das Potenzial, genügend Menschen zu beteiligen. Zu viele sind geschädigt worden und werden das nicht vergessen.
Ausgangspunkt könnten moderierte öffentliche Podiumsdiskussionen sein. Anzufragende Teilnehmer wären Bürgermeister, Vertreter des Gesundheitsamtes (denn diese wurden vom Robert Koch-Institut getäuscht (3) und sollten zukünftig als Verbündete vor Ort gewonnen werden, verpflichtet vor allem den Bürgern), Vertreter der Ärzteschaft sowie Vertreter von Kritikern der Maßnahmen, insbesondere in Berufen mit allgemeiner Verantwortung, wie kritische Lehrer, kritische Ärzte, kritische Staatsanwälte. Schließlich: Kritiker und Befürworter der Maßnahmen sollten zahlenmäßig ausgeglichen auf dem Podium vertreten sein. Ein solcher Dialog, einmal begonnen, könnte dann verstetigt werden. (Eine Konzeptidee dazu als PDF findet sich verlinkt unter diesem Text.)
Als die Corona-Demos im Dezember 2021 überall in Deutschland begannen, als Reaktion auf die angedrohte Impfpflicht, und als dann im Januar 2022 Woche für Woche mehr als 300.000 Menschen auf die Straße gingen, war dieses demokratische Potenzial schon einmal greifbar. In Hamburg und anderswo liefen die Bürger damals hinter einem großen Transparent mit der Aufschrift: „Es endet nicht, wenn wir es nicht beenden“. In diesem Sinne kann es nun heißen: wirkliche Demokratie beginnt nicht, wenn wir sie nicht beginnen. Mit einer Aufarbeitung. Von unten.
Anmerkungen
(1) Zitat aus der Studie „Systematisch verzerrte Entscheidungen? Die Responsivität der deutschen Politik von 1998 bis 2015“ der Universität Osnabrück im Auftrag der Bundesregierung: „Je höher das Einkommen, desto stärker stimmen politische Entscheidungen mit der Meinung der Befragten überein. (…) Was Bürger mit geringem Einkommen in besonders großer Zahl wollen, hatte in den Jahren von 1998 bis 2013 eine besonders niedrige Wahrscheinlichkeit, umgesetzt zu werden.“ Und weiter: „die Wahrscheinlichkeit auf Umsetzung sinkt sogar, wenn mehr Menschen aus der untersten Einkommensgruppe eine bestimmte politische Entscheidung befürworten.“ Bei der Berücksichtigung der Ansichten der Mittelschicht sieht es laut der Studie ähnlich aus. Deren Forderungen werden von der Regierung demnach annähernd im gleichen Maße ignoriert wie die der Armen.
(2) Aus einer Antwort der Bundesregierung vom August 2021 auf eine parlamentarische Anfrage zu den Protokollen der Corona-Sitzungen der Ministerpräsidentenkonferenz: „Die Beschlussfassung in diesen Besprechungen folgt keinen gesetzlich vorgegebenen Regelungen. Vorgaben wie z. B. eine Geschäftsordnung gibt es für diese Besprechungen nicht. Alle Teilnehmer an den Besprechungen sind über ihren jeweiligen Dienstherren allgemein zur Verschwiegenheit und Vertraulichkeit im Rahmen ihrer Aufgabenerfüllung verpflichtet. Eine Auskunft zu vertraulich geführten Gesprächen im Rahmen von Besprechungen der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder liefe auf die Beeinträchtigung der Vertraulichkeit der Beratungen insgesamt hinaus. (…) Zu den genannten Beratungen wurden vom Bundeskanzleramt keine Protokolle gefertigt. (…) Die Bundesregierung hat keine Kenntnis über Videomitschnitte zu den Besprechungen.“
(3) Die Täuschung bestand unter anderem darin, dass interne Zweifel der Fachebene des Robert Koch-Instituts (RKI), wie sie durch die RKI-Protokolle öffentlich bekannt wurden, damals nicht mit den Gesundheitsämtern und den Bürgern vor Ort geteilt und diskutiert wurden, von den Zweifeln an der Sinnhaftigkeit eines Inzidenzgrenzwertes bis hin zu den Zweifeln an einer FFP2-Maskenpflicht und an 2G.
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