
Antisemitismus im Aufwind?
ANDREAS HEYER, 26. Juni 2025, 5 Kommentare, PDFBezüglich der militärischen Offensiven der israelischen Regierung im Gazastreifen, in Libanon, Syrien und Iran sind in der medialen Berichterstattung unterschiedliche Perspektiven erkennbar. Während einige Medien Kritik an Entscheidungen der israelischen Regierung mit der Wahrung des Völkerrechts und der Menschenrechte begründen, wird in anderen Medien Kritik an Israel mit antisemitischen Einstellungen in Verbindung gebracht. Oft wird von einer „deutlichen Zunahme des Antisemitismus“ berichtet, ohne dass dafür Quellen genannt würden. In vielen Fällen wird nicht deutlich, entsprechend welcher klar abgrenzbaren Definition der Begriff verwendet wurde. Trennscharfe Definitionen und Ergebnisse der Sozialforschung, wie verbreitet antisemitische Einstellungen in der Bevölkerung tatsächlich sind, werden hingegen kaum in medialer Berichterstattung erwähnt.
Die empirische Sozialforschung definiert und operationalisiert Begriffe, um aussagekräftige Ergebnisse ableiten zu können. Eine wichtige Vorarbeit in der Sichtung von Erkenntnissen der Sozialforschung über die Verbreitung von Vorurteilen gegenüber Juden wurde durch den im Jahr 2021 verstorbenen, emeritierten Psychologieprofessor Rolf Verleger geleistet. Verleger war von 2005 bis 2009 Direktoriumsmitglied im Zentralrat der Juden und hatte es sich als Sohn von Holocaust-Überlebenden zur Aufgabe gemacht, zur Aussöhnung zwischen den Religionsgruppen beizutragen.
2018 fasste er in seinem Artikel „Der Blick in den Spiegel“ die empirische Datenlage zusammen und kam zu dem Schluss, dass in der medialen Antisemitismusdebatte ein Ungleichgewicht zu finden sei. Anders als oft dargestellt, hätten Vorurteile gegenüber Juden abgenommen und Vorurteile gegenüber Muslimen zugenommen. Er warb für das Anwenden gleicher Maßstäbe der Bewertung von Vorurteilen gegenüber Religionsgruppen, um gesellschaftlichen Frieden zu gewährleisten. Auf seine Vorarbeit wird in diesem Artikel zurückgegriffen, diese aktualisiert weitergeführt und um eigene Schwerpunkte erweitert. Der besseren Lesbarkeit halber wurden Studiendaten auf ganze Zahlen gerundet.
Empirische Ergebnisse zur Verbreitung antisemitischer Einstellungen
Die meisten Untersuchungen der empirischen Sozialforschung in Deutschland wurden im Auftrag parteinaher Stiftungen durchgeführt. Während die Interpretation der Ergebnisse oftmals entsprechend der Interessen der Auftraggeber ausfallen, stellen die transparent offenliegenden Methoden und Daten der Befragungen eine vergleichbare Grundlage dar.
Die Leipziger Autoritarismus-Studie wird von der sich selbst als „grüne politische Stiftung“ beschreibenden Heinrich-Böll-Stiftung durchgeführt. Sie befragte 2024 in ihrer aktuellsten Erhebung mehr als 2.500 Teilnehmer schriftlich zu ihren Einstellungen. Es wurde auch die Verbreitung negativer Vorurteile gegenüber Juden erfragt. Als Dimension „Antisemitismus“ wird in der Studie Zustimmung zu den Aussagen „Auch heute noch ist der Einfluss der Juden zu groß“, „Die Juden arbeiten mehr als andere Menschen mit üblen Tricks, um das zu erreichen, was sie wollen“ und „Die Juden haben einfach etwas Besonderes und Eigentümliches an sich und passen nicht so recht zu uns“ gewertet. Teilnehmer der Befragung, die alle drei Aussagen überwiegend zustimmten, wurden als Bevölkerungsgruppe mit traditionell antisemitischer Einstellung gewertet. Über bisher 22 Jahre wurde der Anteil an Zustimmung zu den Aussagen im Zeitverlauf untersucht. Es zeigte sich ein deutlicher Rückgang des Bevölkerungsanteils mit antisemitischer Einstellung zwischen 2002 und 2024.

Anteil der Zustimmung zur Dimension „Antisemitismus“ 2002-2024, Quelle: Leipziger Autoritarismus-Studie, Grafik 8
Während im Jahr 2002 noch 10 Prozent der Befragten den Aussagen überwiegend zustimmten, seien dies 2024 nur noch 5 Prozent der Befragten gewesen. Im Vergleich von alten und neuen Bundesländern waren größere Unterschiede erkennbar. So hätten 2002 noch 14 Prozent der westdeutschen Bevölkerung den als antisemitisch gewerteten Aussagen zugestimmt, aber nur 5 Prozent der ostdeutschen Bevölkerung. In Westdeutschland sei der Anteil seitdem bis 2022 zurückgegangen auf 3 Prozent. In Ostdeutschland sei der Anteil bis 2012 zunächst bis auf 10 Prozent angestiegen und dann ebenfalls bis 2022 auf 3 Prozent abgesunken. Nach dem Wiederaufflammen des Nahostkonfliktes 2023 zeige sich bei der Erhebung 2024 in Westdeutschland erneut ein Anstieg auf 5 Prozent, während der Anteil in Ostdeutschland weiter auf 2 Prozent gesunken sei.
Die Mitte-Studie der der SPD nahestehenden Friedrich-Ebert-Stiftung kam 2023 zu etwas höheren Anteilen in einer repräsentativen Telefonbefragung. Es wurden die gleichen Aussagen wie in der Leipziger Autoritarismus-Studie in der Dimension „Antisemitismus“ abgefragt und Zustimmung bei 8 bis 12 Prozent der Befragten festgestellt.
Die der CDU nahestehende Konrad-Adenauer-Stiftung ließ im Jahr 2021/22 eine repräsentative Telefonbefragung mit über 5.500 Studienteilnehmern zu antisemitischen Einstellungen in Deutschland durchführen. Den Aussagen „Juden sind hinterhältig“ hätten 4 Prozent der Befragten eher oder voll zugestimmt, der Aussage „Reiche Juden sind die eigentlichen Herrscher der Welt“ 6 Prozent. Die Autoren stellten fest, dass Einstellungen des klassischen Antisemitismus in Deutschland nur eine geringe Verbreitung hätten und kommen damit zu einem ähnlichen Ergebnis wie die Leipziger Autoritarismus-Studie.
Der vom Bundesinnenministerium beauftragte zweite Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus stellte in seinem 2017 veröffentlichten Bericht ebenfalls eine starke Abnahme antisemitischer Einstellungen in Deutschland im Vergleich mehrerer Studien fest.
Eine aktuelle Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung kommt zu dem Schluss, dass zwar in den ersten Jahren der Befragungen des Instituts ab 1949 noch viele Vorurteile gegenüber Juden festzustellen waren, die Zustimmung seitdem aber deutlich gesunken sei. Während etwa 1992 noch 33 Prozent der Befragten zugestimmt hätten, dass Juden zu viel Einfluss auf der Welt haben, seien dies im Juni 2025 nur noch 21 Prozent gewesen. In der Erhebung von Anfang Juni 2025 sei keine Zunahme von antisemitischen Klischees im Vergleich der letzten Jahre zu verzeichnen.
Rolf Verleger zitierte in seinem Artikel eine Befragung der US-Besatzungsmacht von 1946, in der 40 Prozent der deutschen Bevölkerung Zustimmung zu negativen Vorurteilen gegenüber Juden geäußert hätten, was auf eine deutliche Abnahme antisemitischer Einstellungen seit 1946 hindeute. Ein weiterer Hinweis auf diese Entwicklung sei, dass in einer Auswertung von Befragungsdaten von 1996 und 2006 die höchste Zustimmung zu negativen Vorurteilen gegenüber Juden in den Altersgruppen am ausgeprägtesten gewesen seien, die in den 1930er Jahren der nationalsozialistischen Propaganda aufgewachsen waren. Das Versterben dieser Generation könne deshalb den Rückgang antisemitischer Einstellungen teilweise erklären.
Vergleich der Einstellungen gegenüber Religionen
Um die Verbreitung negativer Einstellungen in der Bevölkerung der Gegenwart gegenüber Juden einordnen zu können, ist ein Vergleich zu negativen Einstellungen gegenüber anderen Religionsgruppen hilfreich. Das Projekt Religionsmonitor der Bertelsmann Stiftung veröffentlicht Ergebnisse europaweiter Befragungen zu Einstellungen gegenüber Religionen in der Bevölkerung zwischen 2009 und 2023. Im Religionsmonitor 2023 wurden über 4.000 Teilnehmer in Deutschland repräsentativ befragt, welche Religionsgruppe sie als bedrohlich oder bereichernd empfänden. Als „sehr bedrohlich“ oder „eher bedrohlich“ wurde von 52 Prozent der Befragten der Islam wahrgenommen. Dagegen nahmen nur 15 Prozent das Judentum als „sehr bedrohlich“ oder „eher bedrohlich“ wahr. Im Vergleich dazu nahmen 19 Prozent der Befragten die Atheisten als bedrohlich wahr und 14 Prozent das Christentum. Den geringsten Wert verzeichnete mit 10 Prozent der Buddhismus.

Quelle: Bertelsmann Stiftung
Der Religionsmonitor befragte die Teilnehmer auch zum Thema religiöse Toleranz. Während 2013 der Aussage „Man sollte offen für andere Religionen sein“ noch 89 Prozent zugestimmt hatten, sank die Toleranz zehn Jahre später auf 80 Prozent. Bei der Aussage „Jede Religion hat einen wahren Kern“ sank die Zustimmung im gleichen Zeitraum noch deutlicher von 72 auf 59 Prozent. 93 Prozent der Befragten stimmten 2023 kaum verändert zu, dass jeder die Freiheit haben sollte, seine Religion zu wechseln oder abzulegen, so dass ein breiter Konsens über die Bedeutung von Religionsfreiheit in Deutschland festzustellen ist.
Weitere Hinweise über die Verbreitung von negativen Vorurteilen gegenüber Religionsgruppen zeigten sich in der Shell-Jugendstudie 2024. Über 2.500 Jugendliche zwischen 12 und 25 Jahren wurden befragt, welche Bevölkerungsgruppe sie ungern als Nachbarn hätten. Vorbehalte äußerten 18 Prozent gegenüber einer syrischen Flüchtlingsfamilie, 14 Prozent gegenüber einer türkischen Familie und 8 Prozent gegenüber einer Familie jüdischen Glaubens.
In einer Befragung der Initiative für jüdisch-islamischen Dialog „Schalom Aleikum“ in den Jahren 2019-2021 berichteten 54 Prozent der Muslime und 40 Prozent der Juden über Diskriminierungserfahrungen auf Grund ihrer Religion, während in der Gesamtbevölkerung nur 6 Prozent davon berichteten.
In der repräsentativen Befragung „Berlin-Monitor“ waren im Sommer 2023 über 2.000 Berliner online und telefonisch befragt worden. Auf die Frage „Wie unangenehm wäre es Ihnen, wenn folgende Person in ihre Familie einheiraten würde?“ gaben 25 Prozent der Befragten an, dies wäre Ihnen bei Muslimen eher oder sehr unangenehm, bei Juden 17 Prozent und bei Christen 9 Prozent. Die Studienautoren stellten auch eine hohe Korrelation von Einstellungen fest, dass oft bei den gleichen Personen sowohl negative Vorurteile gegenüber Juden wie gegenüber Muslimen bestanden.
In der Befragung wurden auch negative Vorurteile gegenüber Muslimen abgefragt, die analog zu Einstellungen des klassischen Antisemitismus der Religionsgruppe ein Streben nach Vorherrschaft unterstellen oder angehörige der Religion als minderwertig einschätzen. 34 Prozent der Befragten hatten der Aussage „Eigentlich streben die Muslime danach, die Scharia in Deutschland einzuführen“ zugestimmt, 36 Prozent der Aussage „Muslime planen, den Westen Schritt für Schritt zu islamisieren“. 54 Prozent hatten der Aussage zugestimmt „Der Islam ist eine rückständige Religion, unfähig sich an die Gegenwart anzupassen“. Während 2019 in der Befragung sich nur 13 Prozent dafür aussprachen, Muslimen die Zuwanderung nach Deutschland zu untersagen, sind es 2023 schon 21 Prozent gewesen.
Zusammengefasst zeigen die Ergebnisse eine deutlich größere Verbreitung negativer Einstellungen gegenüber Muslimen in der Bevölkerung als gegenüber Juden. Es zeigten sich aber auch Hinweise auf eine gemeinsame Diskriminierungserfahrung als religiöse Minderheit sowie auf Bevölkerungsteile, die negative Einstellungen sowohl gegenüber Juden als auch gegenüber Muslimen ausdrückten. Eine dualistische Sichtweise, in der es einerseits „Antisemiten“ und andererseits „Islamophobe“ als getrennte Gruppen gäbe, ist insofern wenig plausibel.
Faktoren für die Interpretation der Studienergebnisse
Zahlen aus Studien der empirischen Sozialforschung bilden nie einfache und eindeutige Wahrheiten ab, sondern müssen interpretiert werden. Je nach Perspektive sind unterschiedliche Interpretation möglich. Politische Entwicklungen, mediale Berichterstattung, persönliche Erfahrungen und historische Prägungen führen zu unterschiedlichen Einstellungen in der Bevölkerung. Der „Kampf gegen den islamistischen Terror“ und die Zuwanderungswelle von überwiegend Muslimen ab 2015 dürfte zu dem zu verzeichnenden zunehmendem Misstrauen und der Ablehnung gegenüber Muslimen beigetragen haben. Die Zunahme wird somit nicht eindeutig auf eine Veränderung der grundsätzlichen Einstellung gegenüber der Religion Islam zurückzuführen sein, sondern kann auch auf ein Erleben von Entfremdungsgefühlen gegenüber einer zunehmend sichtbaren fremden Kultur im eigenen Land oder eine Ablehnung der Migrationspolitik zurückzuführen sein.
Ebenso ist zu vermuten, dass die militärischen Offensiven der israelischen Regierung im Gazastreifen oder im Iran sich auf das Antwortverhalten in Studien auswirken. In manchen Bevölkerungsteilen werden Berichte in Nachrichten zu einer pauschalisierten negativen Einstellung gegenüber Juden oder Muslimen führen, andere werden die Berichte über ein Politikfeld trennen von ihrer generellen Einstellung gegenüber den Religionsgruppen.
In der Befragung des Bertelsmann-Religionsmonitors zeigte sich, dass der Aussage „Juden haben zu viel Einfluss in unserem Land“ in Deutschland 17 Prozent der Christen und 37 Prozent der Muslime zustimmten. In der Shell-Jugendstudie 2024 äußerten 16 Prozent der Befragten mit Migrationshintergrund aus muslimischen Ländern, gegenüber 8 Prozent der Jugendlichen ohne Migrationshintergrund, sie hätten ungern eine Familie jüdischen Glaubens als Nachbarn.
Es wäre unplausibel, den höheren Anteil negativer Vorurteile von Muslimen über Juden als Fortführung des klassischen christlichen Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhundert zu betrachten, der während der Zeit des Nationalsozialismus in säkularisierter Form zu Pogromen und Genozid an Juden geführt hat. Auch wenn die Entwicklung antisemitischer Einstellungen in islamischen Ländern in diesem Artikel nicht weiter untersucht werden kann, so sind plausible Hypothesen formulierbar. Bei langjährigen Konflikten und wiederholten Kriegen zwischen zwei Gegnern, die überwiegend unterschiedlichen Religionen angehören, ist davon auszugehen, dass die Bevölkerung die Religion des jeweiligen „Feindes“ negativ bewertet.
Auch dürften Bevölkerungsgruppen, deren Identität sehr mit ihrer Religion verbunden ist, die Handlungen ihres „Feindes“ stärker auf dessen Religion zurückführen als wenig-religiöse Gruppen. Eine Studie des PEW-Research-Instituts von 2010 ergab, dass 97 Prozent der Bewohner der palästinensischen Gebiete und Jordaniens „unvorteilhafte Meinungen“ über Juden hatten, ebenso 73 Prozent der Türken und 35 Prozent der arabischen Israelis. Studien aus Israel zeigen hingegen eine ebenfalls weit verbreitete ablehnende Haltung von Juden gegenüber Muslimen. In einer von der israelischen Zeitung Haaretz 2012 veröffentlichten Umfrage hatten 49 Prozent der befragten jüdischen Israelis gefordert, dass der Staat jüdische Bürger besser behandeln solle als muslimische Bürger. 42 Prozent würden nicht im gleichen Gebäude mit Muslimen leben wollen und ebenfalls 42 Prozent wollten ihre Kinder nicht in der gleichen Klasse mit muslimischen Kindern sehen. Insofern werden bei politischen Konflikten zwischen Religionsgruppen immer Verzerrungen in der gegenseitigen Wahrnehmung feststellbar sein, die ohne den Konflikt vermutlich weniger ausgeprägt wären.
Ein weiterer Faktor bei der gemessenen Entwicklung von Einstellungen kann auch eine Änderung des Teilnehmerkreises an der Studie sein. In der Leipziger Autoritarismus-Studie wird von sinkenden Rücklaufquoten berichtet. Von über 72 Prozent Rücklauf der verteilten Fragebögen im Jahr 2002 sei dieser bis 2024 auf 39 Prozent zurückgegangen. Insofern könnte ein Teil des gemessenen Rückgangs antisemitischer Einstellungen auch auf eine niedrigere Teilnahmequote der Bevölkerungsgruppe, die keine sozial erwünschte Einstellung hat, zurückzuführen sein. Im Umkehrschluss würde das als Zunahme der Befürchtung in der Bevölkerung gedeutet werden können, sozial unerwünschte Einstellungen nicht mehr öffentlich äußern zu können ohne Angst vor Repression.
Ausweitung der Antisemitismus-Definition
Wenn die Studienlage deutlich darauf hinweist, dass die im 20. Jahrhundert als Antisemitismus verbreiteten Einstellungen zurückgegangen sind, wie lassen sich dann in Medien häufig verwendete Behauptungen rechtfertigen, dass Antisemitismus deutlich zugenommen habe? Wenn diese Aussagen begründet werden, dann beziehen sich die Verantwortlichen meistens auf neue, ausgeweitete Definitionen des Antisemitismus. Die im 20. Jahrhundert gebräuchliche Definition des Begriffes Antisemitismus wird in vielen aktuellen Studien der Sozialforschung als „klassischer Antisemitismus“ oder „traditioneller Antisemitismus“ bezeichnet. Eine häufig zitierte klassische Definition stammt von dem Politikwissenschaftler Armin Pfahl-Traughber:
„Antisemitismus soll ... verstanden werden als Sammelbezeichnung für alle Einstellungen und Verhaltensweisen, die den als Juden geltenden Einzelpersonen oder Gruppen aufgrund dieser Zugehörigkeit ... negative Eigenschaften unterstellen, um damit eine Abwertung, Benachteiligung, Verfolgung oder Vernichtung ideologisch zu rechtfertigen.“
Diese klassische Definition des Antisemitismus weist eine Parallele zum sozialwissenschaftlichen Konzept der gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit auf. Mit diesem Begriff wurden Einstellungen zusammengefasst, die von „Ideologien der Ungleichwertigkeit“ verschiedener Bevölkerungsgruppen ausgehen (z.B. Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus). Grundlage einer Ideologie der Ungleichwertigkeit ist zumeist, die eigene Gruppe pauschal als höherwertig oder gut, eine andere Gruppen pauschal als minderwertig oder bösartig anzusehen.
Neue, erweiterte Antisemitismusdefinitionen wurde überwiegend in den vergangenen 20 Jahren in den politischen Debattenraum eingeführt. Häufig orientieren diese sich an einer 2005 eingeführten Definition der EUMC-Agentur (European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia), die 2007 in der Nachfolgeorganisation „Agentur der Europäischen Union für Grundrechte“ aufging. Die Definition der EUMC wurde 2016 von der International Holocaust Rememberance Alliance (IHRA) übernommen als erweiterte Arbeitsdefinition des Antisemitismus. Die IHRA besteht aus 35 Mitgliedsstaaten aus Europa und Nordamerika sowie Argentinien, Australien und Israel. Antisemitismus wird gemäß der erweiterten Arbeitsdefinition so definiert:
„Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“
Es werden somit im Vergleich zur klassischen Definition nicht objektiv messbare, subjektive Wahrnehmungen und Gefühle („bestimmte Wahrnehmung …, die sich als Hass“) und unscharfe Grenzen wie „gegen jüdische oder nichtjüdische“ verwendet. In einem Gutachten der der Linkspartei nahestehenden Rosa-Luxemburg-Stiftung wurde an der Definition kritisiert, dass diese durch inkonsistente, widersprüchliche und vage Formulierung nicht „den Anforderungen guten Definierens“ entspräche. Das Gutachten kommt zu dem Schluss:
„Die Schwächen der «Arbeitsdefinition» sind das Einfallstor für ihre politische Instrumentalisierung, etwa um gegnerische Positionen im Nahostkonflikt durch den Vorwurf des Antisemitismus moralisch zu diskreditieren (...) Die zunehmende Implementierung der «Arbeitsdefinition» als quasi-rechtliche Grundlage von Verwaltungshandeln suggeriert Orientierung. Stattdessen ist sie faktisch ein zu Willkür geradezu einladendes Instrument. Dieses kann genutzt werden, um Grundrechte, insbesondere die Meinungsfreiheit, in Bezug auf missliebige israelbezogene Positionen zu beschneiden. Anders als die Bezeichnung «Arbeitsdefinition» suggeriert, findet auch keine Weiterentwicklung der Definition statt, um diese Schwächen zu beheben.“
2017 wurden in einer Entschließung des Europäischen Parlaments die Mitgliedsländer der EU und die EU-Agenturen dazu aufgefordert, die IHRA-Definition anzunehmen und umzusetzen. Im Mai 2024 forderte der Anti-Semitism Awareness Act des US-Repräsentatenhauses angesichts von israelkritischen Protesten an US-Bildungseinrichtungen das US-Bildungsministerium auf, die IHRA-Definition bei der Prüfung von Fördergeldern für Programme und Aktivitäten der Bildungseinrichtungen anzuwenden. Im November 2024 verabschiedete der Deutsche Bundestag die Resolution „Nie wieder ist jetzt: Jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und stärken“, mit der die Bundesregierung aufgefordert wurde, gegenüber Bundesländern und Kommunen darauf hinzuwirken, dass die IHRA-Definition herangezogen werde bei Entscheidungen über Fördergeldern für Kunst, Kultur und Medien. Insofern ist in den vergangenen Jahren eine durch parlamentarische Initiativen forcierte Einführung der IHRA-Definition auf verschiedenen Ebenen staatlichen Handelns zu beobachten.
Neue Antisemitismus-Definitionen in der Leipziger Autoritarismus-Studie
Der Vorwurf, dass neue Antisemitismusdefinitionen den Begriff auf politische Sichtweisen ausweiten, die laut klassischer Definition nicht Ausdruck von Antisemitismus waren, lässt sich anhand der Erweiterung der Fragenkomplexe des Phänomenbereichs Antisemitismus in der Leipziger Autoritarismus-Studie erhärten. Während seit 2002 Antisemitismus als Einstellung der Bevölkerung in seiner oben beschriebenen klassischen Form abgefragt wurde, kam ab 2012 ein Fragenkomplex hinzu, der in der aktuellen Studie als „Schuldabwehrantisemitismus“ zusammengefasst wird (z.B. Zustimmung zu der Aussage „Es macht mich wütend, dass die Vertreibung der Deutschen und die Bombardierung deutscher Städte immer als kleinere Verbrechen angesehen werden“ oder „Wir sollten uns lieber gegenwärtigen Problemen widmen als Ereignissen, die mehr als 70 Jahre vergangen sind“). Seit 2020 wurde die Dimension „israelbezogener Antisemitismus“ hinzugefügt (z.B. Zustimmung zu den Aussage “Durch die israelische Politik werden mir die Juden immer unsympathischer“ oder „Israels Politik in Palästina ist genauso schlimm wie die Politik der Nazis im zweiten Weltkrieg“).
Mit der aktuellen Studie aus 2024 wurden erneut zwei weitere Dimensionen in den Phänomenbereich Antisemitismus aufgenommen. Die Dimension „postkolonialer Antisemitismus“ umfasst Zustimmung zu Aussagen wie „Der deutsche Schuldkomplex behindert den Freiheitskampf der Palästinenser“ und „Der Nahostkonflikt ist im Grunde ein Konflikt zwischen weißem Kolonialismus und unterdrückten Minderheiten“. Die neue Dimension „antisemitischer Antizionismus“ umfasst Aussagen wie „Ohne Israel würde Frieden in Nahost herrschen“ oder „Demokratie hin oder her, Muslimen geht es besser ohne Israel“.
Der Begriff verlor im Laufe der Jahre in der Studie also an Trennschärfe und wurde immer mehr erweitert um politische Einstellungen, die nicht mehr mit der Definition des Begriffes vor 20 Jahren übereinstimmen. Durch die Erweiterung der Definition des Begriffes Antisemitismus um politische Einstellungen kann durch Studienergebnisse der Eindruck erweckt werden, dass antisemitische Einstellungen in der Bevölkerung in den vergangenen Jahren besonders zunehmen würden. So wird in der aktuellen Autoritarismus-Studie ersichtlich, dass zu den als „postkolonialer Antisemitismus“ zugeordneten Einstellungen zwischen 42 und 47 Prozent der Befragten „latente oder manifeste“ Zustimmung äußerten. Die der Dimension „antisemitischer Antizionismus“ zugeordneten Einstellungen hätten zwischen 37 und 49 Prozent der Befragten eher oder voll zugestimmt. Entgegen der Tendenz bei klassischem Antisemitismus zeigten sich bei den 2024 hinzugefügten neuen Phänomenbereichen durchweg höhere Zustimmungsraten in Ostdeutschland als in Westdeutschland.
Differenzierung von Israelkritik und Grundhaltung gegenüber Juden
Laut der Studie des Allensbach-Institutes von Juni 2025 im Auftrag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ist aktuell eine größere Sensibilität in der Bevölkerung für die Verbrechen des Nationalsozialismus zu verzeichnen als vor einigen Jahrzehnten. Während 66 Prozent der Befragten im Jahr 1986 befürwortet hätten, man solle weniger über die Nazivergangenheit Deutschlands sprechen und „endlich einen Schlussstrich ziehen“ seien dies 2025 nur noch 43 Prozent gewesen. Ein ausdrücklicher Widerspruch gegen das „Schlussstrich ziehen“ sei im gleichen Zeitraum von 24 auf 42 Prozent angewachsen. Es sei ebenfalls kein Anstieg bei der Leugnung des Holocausts zu verzeichnen. Das Antwortverhalten bei der Frage „Glauben Sie, das meiste, was über Konzentrationslager und Judenverfolgung berichtet wird, ist wahr, oder ist da vieles übertrieben dargestellt worden?“ habe sich in den letzten Jahrzehnten kaum verändert. 83 Prozent hätten im Juni 2025 geäußert, sie hielten das meiste der Berichterstattung für wahr, nur 4 Prozent hätten dem widersprochen.
Die Allensbach-Studie hebt hervor, dass sich, obwohl keine Zunahme bei antisemitischen Einstellungen in Deutschland zu verzeichnen sei, die Wahrnehmung darüber verändert habe. Bei der Befragung im Juni 2025 hatten 56 Prozent den Eindruck angegeben, dass Antisemitismus in der Gesellschaft zunehme, während dies 2019 erst 36 Prozent waren. Das Allensbach-Institut interpretierte die Diskrepanz zwischen Realität und Wahrnehmung als Folge medialer Berichterstattung über gestiegene antisemitische Straftaten, nicht als Folge eigener Beobachtungen der Befragten.
Obwohl keine Zunahme antisemitischer Einstellungen feststellbar war, stellte die Allensbach-Studie eine deutlich kritischere Einstellung der Befragten zum Staat Israel fest. Während 2022 noch 54 Prozent der Befragten angegeben hatten, ein gutes Bild von Israel zu haben, waren dies Anfang Juni 2025 nur noch 20 Prozent. Gleichzeitig ist der Anteil der Angaben, ein schlechtes Bild von Israel zu haben, in den drei Jahren von 23 Prozent auf 57 Prozent hochgeschnellt. Die Autoren der Studie fanden die Veränderung des Bildes von Israel besonders bemerkenswert vor dem Hintergrund, dass bei der grundsätzlichen Einstellung zum Staat Israel in den letzten 11 Jahren seit 2014 keine Veränderung festzustellen ist. 28 Prozent hatten der Aussage, Deutschland habe für das Schicksal Israels eine besondere Verantwortung, zugestimmt, 52 Prozent hatten widersprochen. Die Autoren der Studie kommen in der Interpretation ihrer Daten zu dem Schluss, dass die Bevölkerung Antisemitismus und Israelkritik recht sauber voneinander trennen könne. Israel habe heute ein wesentlich schlechteres Image als noch vor wenigen Jahren, doch die Grundhaltung gegenüber Juden habe sich nicht wesentlich verändert.
Eine konstruktivere Debatte wäre möglich
Abschließend lässt sich aus den verschiedenen Studiendaten eine Tendenz ableiten, dass pauschalisierend abwertende Einstellungen gegenüber Juden in der Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten rückläufig sind. Zudem wird das Judentum in der Bevölkerung deutlich weniger als Bedrohung eingeschätzt als der Islam. Abwertende Einstellungen gegenüber Muslimen sind deutlich weiter verbreitet als gegenüber Juden. Durch eine Ausweitung des Begriffes Antisemitismus auf verschiedene politische Einstellungen, die im 20. Jahrhundert nicht als antisemitisch gewertet wurden, hat sich der Kreis der Bevölkerung ausgeweitet, deren politische Einstellung gemäß der neuen Definitionen als „antisemitische Tendenz“ gewertet wird.
In parlamentarischen Initiativen wurde befürwortet, die erweiterte IHRA-Definition in vielen Ländern zum Standard behördlichen Handelns zu machen. Dies ermöglicht eine Benachteiligung der dadurch neu als „antisemitisch“ eingeschätzten politischen Positionen. Die Ausweitung des Definitionsbereichs trifft auf eine Zuwanderung überwiegend aus muslimischen Staaten, in denen kritische politische Einstellungen gegenüber der israelischen Regierungspolitik verbreitet sind. Die Studienergebnisse zeigen, dass unter Muslimen ein größeres Ausmaß pauschalisierend abwertender Einstellungen gegenüber Juden festzustellen war als in der Gesamtbevölkerung. Trotz dieser Tendenz waren antisemitische Einstellungen auch bei Muslimen in Deutschland eine Minderheitenposition.
Durch eine Strategie, Bevölkerungsgruppen mit negativen Vorurteilen gegenüber Juden oder Muslimen zu beschämen, zu beschuldigen oder auszugrenzen, werden Vorurteile sich nicht verringern. Menschen, die im Sinne der Theorie der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit tatsächlich einer „Ideologie der Ungleichwertigkeit“ anhängen, versuchen entsprechend psychotherapeutischer Erfahrung häufig eigene Minderwertigkeitsgefühle zu kompensieren. Schwarz-Weiß-Denken vermittelt den Eindruck einer übersichtlichen Welt und kann ein Versuch sein, eine unsichere Identität zu stabilisieren. Diese innerpsychischen Prozesse der Spaltung wurden vom Autor in einem Artikel bei Multipolar ausführlicher beschrieben. Innerpsychische und gesellschaftliche Spaltungen werden sich vor allem durch Begegnungen und Respekt verringern lassen. Rolf Verleger wies in seinem schon erwähnten Artikel auf Studien hin, die zeigen, dass der Respekt gegenüber einer anderen Bevölkerungsgruppe stieg, wenn davon ausgegangen wurde, dass man auch selbst von dieser Bevölkerungsgruppe respektiert wird.
Über den Autor: Andreas Heyer, Jahrgang 1973, arbeitet als Psychologischer Psychotherapeut mit tiefenpsychologisch-fundierter Fachrichtung in eigener Praxis.
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